Werner Suter

Ökologie der Wirbeltiere


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Nahrungssuche in heterogener Umwelt

       Bissgröße, Bissrate und Aufnahmerate

       Beweidung von patches

       Funktionelle Reaktionen

      Aus dem vorangehenden Kapitel ist deutlich geworden, dass die physiologischen Ansprüche an ein Wirbeltier komplex sind und mehr oder weniger stetige Zufuhr von Nahrung in Form von Wasser, Nährstoffen, Mineralen und Vitaminen bedingen. Die Zufuhr muss quantitativ ausreichend und qualitativ in bestimmter Zusammensetzung erfolgen. Um dies zu gewährleisten, ist ein Individuum auf der Ebene des Verhaltens gefordert. Es muss Nahrung finden, erkennen und beurteilen können. Darauf gestützt, hat das Tier Strategien anzuwenden, welche die ausreichende Nahrungszufuhr – sowohl quantitativ als auch qualitativ – gewährleisten. Dazu gehört etwa, den Nettogewinn an Energie groß genug zu halten, denn mit der Nahrungsaufnahme sind auch Kosten verbunden, etwa für das Ergreifen und Bearbeiten der Nahrungsstücke. Bei der Nahrungssuche setzt sich ein Tier zudem erhöhten Risiken aus; der zeitliche Aufwand zur Feindvermeidung oder das Aufsuchen von Deckung gegen extreme Witterungseinflüsse verringern die Effizienz bei der Nahrungsbeschaffung und sind deshalb ebenfalls als Kosten zu betrachten. Da die Nahrung in Quantität und Qualität unterschiedlich im Raum verteilt ist, gehören zu einer erfolgreichen Strategie des Weiteren Entscheidungen darüber, wo und wie lange an einer bestimmten Stelle Nahrung aufgenommen werden soll, bevor sich ein Wechsel zu einer neuen Stelle lohnt. Die erfolgreichste Strategie trägt das Ihre zur Maximierung der Fitness bei und wird als optimierte Nahrungssuche bezeichnet. Nahrungssuche findet zudem bei vielen Arten nicht solitär, sondern in der Gruppe statt. Dies verändert Kosten und Gewinnmöglichkeiten, weil die Individuen untereinander zwar um die Nahrung konkurrieren, sich dafür aber den Aufwand der Feinderkennung teilen können. Daneben beeinflussen die Möglichkeiten des Informationsgewinns die Strategien bei gemeinsamer Nahrungssuche. Information muss zudem gespeichert und abgerufen werden können, etwa wenn Tiere gehortete und einzeln versteckte Nahrungsstücke wieder auffinden sollen.

      Natürlich stellen sich den carnivoren Arten, die mehr oder weniger mobile Beute jagen, in der Regel aber ihre Nahrung in Form diskreter Stücke von hohem Nährwert finden, teilweise andere Probleme als den Herbivoren, deren unbewegliche Nahrung meist in Menge, aber in niedriger Qualität vorkommt. Deshalb ist den spezifischen Aspekten der Nahrungssuche von Herbivoren zum Schluss dieses Kapitels ein eigener Abschnitt gewidmet. Dennoch, die grundlegenden Prinzipien der Fitnessmaximierung mittels des Verhaltens bei der Nahrungssuche sind dieselben. Diese Prinzipien sind in einem umfangreichen mathematisch-theoretischen Gebäude formalisiert, dem eine wesentlich geringere Zahl empirischer Studien gegenübersteht. Wir legen das Gewicht diesbezüglich auf die konzeptuelle Darstellung der theoretischen Überlegungen und fokussieren auf jene Prinzipien, die mit realen Daten validiert sind.

      In verschiedenen Gebieten wurden ausgerottete Huftiere wieder eingebürgert. Dabei hat man wiederholt beobachtet, dass die Geburtenraten zunächst niedrig waren und die Population stagnierte, nach einigen Jahren dann aber zu wachsen begann, ohne dass sich wesentliche Umweltfaktoren geändert hätten. Als Erklärung wurde angeführt, dass die mit dem Gebiet nicht vertrauten Tiere einige Zeit des Lernens benötigen, wie das Nahrungsangebot verteilt ist und wie die jahreszeitlich unterschiedlichen Bedürfnisse damit am besten gestillt werden können – offenbar gehen die Tiere bei der Nahrungssuche zunächst ineffizient vor (Owen-Smith 2003). Umfassend getestet ist diese Hypothese noch nicht, aber anhand intensiver Untersuchungen bei der Wiedereinbürgerung der Arabischen Oryx (Oryx leucoryx) in Oman konnte gezeigt werden, dass die Antilopen anfänglich weite Gebiete erkundeten und sich später auf ein kleineres Areal beschränkten, dabei aber die zu Beginn auf Gräser beschränkte Nahrung um das Laub verschiedener Büsche ergänzten. Diese Entwicklung dauerte 6–8 Jahre; eine später freigelassene Oryxgruppe machte einen ähnlichen Prozess durch (Tear et al. 1997).

      Dieses Beispiel illustriert zwei grundsätzliche Aspekte.

      1. Nahrungssuchverhalten kann kausal oder funktional erklärt werden. Kausale (oder mechanistische) Erklärungen zeigen, wie ein Verhalten entsteht, zum Beispiel durch Lernen, und wie es angewendet wird. Dabei spielt der Zustand des Tiers eine Rolle, etwa wie hungrig es ist; je nachdem kann die eine oder andere Variante eines Verhaltens gewählt werden. Die funktionale Erklärung betrachtet die Wahl eines bestimmten Verhaltens im Hinblick auf ein Ziel, das es zu erreichen gilt; für ein bestimmtes Ziel gibt es damit mindestens eine optimale Lösung. Oft aber verhalten sich Tiere nicht optimal. Solche funktionalen Paradoxe lassen sich nur über den kausalen Ansatz erklären, etwa dass ein Lernprozess noch nicht zu Ende gekommen ist (Provenza & Cincotta 1993).

      2. Auch unter dem funktionalen Aspekt ist es schwierig, die Auswirkungen unterschiedlich erfolgreicher Strategien der Nahrungssuche auf die Fitness – also die ultimativen Konsequenzen – zu messen. Wie das Beispiel der Arabischen Oryx gezeigt hat, sind selbst unter speziellen Bedingungen oft nur ansatzweise Antworten möglich. Viel einfacher ist es, die proximaten Effekte zu bestimmen, nämlich die unmittelbare Effizienz der Energie- und Nährstoffaufnahme. Der Großteil unseres Verständnisses des Nahrungssuchverhaltens von Wildtieren bezieht sich auf diese kurzfristig wirksamen funktionalen Aspekte, die auch den Hauptteil des vorliegenden Kapitels ausmachen; doch kommen auch kausale Erklärungen in Zusammenhang mit Lernen zur Sprache. Anpassungen bei der Strategie der Nahrungssuche durch Lernen erfolgen in der Regel auf zwei Weisen, einerseits durch direkte Erfahrungen, etwa beim Verdauen einer mild toxischen Pflanze (post-ingestive feedback), andererseits durch Lernen von Artgenossen, oft auch über die Generationen hinweg (Avital & Jablonka 2000; Fragaszy & Perry 2003).

      In Kapitel 2.3 war bereits die Rede davon, dass Arten mit breitem Nahrungsspektrum oft als Generalisten, jene mit engem Spektrum als Spezialisten bezeichnet werden. Letztere zeichnen sich jedoch mehr durch stereotype Nahrungswahl als durch die Beschränkung in der Zahl gefressener Beutetypen aus (Sherry 1990). Im Gegensatz dazu haben Opportunisten räumlich und zeitlich variable Nahrungsspektren, weil sie lokal jeweils die häufigste oder am besten zugängliche Nahrungsquelle nutzen, ohne bezüglich Art und Beutegröße speziell selektiv zu sein. Häufigkeit, Verteilung und Verhalten der Beute sind vor allem für Carnivoren wichtig (Abb. 3.1), bei Herbivoren spielen Biomasse und Qualität des Angebots die größere Rolle. Deshalb wird bei Huftieren oft zwischen selektiven und nicht selektiven Äsern unterschieden, wobei selektive Arten bestimmte Pflanzen oder Pflanzenteile hoher Qualität herausgreifen (Kap. 2.5, Abb. 2.25). Nicht selektive Herbivoren benötigen größere Pflanzenmengen pro Zeiteinheit und weiden flächiger; der englische Begriff bulk feeder drückt dies treffender aus.

      Oft zeigt es sich bei genauerer Analyse, dass auch Generalisten oder Opportunisten zu einem gewissen Grad selektiv vorgehen (Loxdale et al. 2011). Zudem enthalten Populationen einer sich generalistisch ernährenden Art oft einen Anteil spezialisierter Individuen (Bolnick et al. 2003; Araújo et al. 2011; Dall et al. 2012; Layman et al. 2015). Ist dieser Anteil hoch und die Spezialisierung individuell verschieden, so kann die Summe der Nahrungsspektren spezialisierter Individuen auf Populationsebene das Bild einer generalistischen Ernährungsweise ergeben (Hückstädt et al. 2012; Ceia & Ramos 2015; Pagani-Núñez et al. 2015). Selektivität hängt also auch davon ab, welche Ebene betrachtet wird, Individuum, Population oder Art. Zudem kann sie von der Populationsdichte beeinflusst werden: Bei geringer Dichte zeigten Seeotter (Enhydra lutris) keine Spezialisierung, bei hoher Dichte aber schon (Tinker et al. 2012). Weiter spielt die räumliche oder zeitliche Skala (Kap. 5.1)