Harald Jacobsen

Tatort Ostsee


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an. »Bestimmt kommt bald der Richtige, und wer weiß? Vielleicht wollt ihr dann tatsächlich irgendwann ein Baby.«

      »Sicher«, flüsterte Sophie. Aber es würde ein anderes Baby sein.

      Samstag

      Stefan fuhr übermüdet über die Autobahn. Er wollte nur noch nach Hause und die Ereignisse der letzten Nacht vergessen. Er steckte sich eine Zigarette an, um sich wach zu halten. Sein Audi war ein rollender Aschenbecher. Auch die Wunderbäume, die am Rückspiegel baumelten, konnten gegen den Gestank nichts ausrichten. Stefan bekam einen Schreck, als er sein Spiegelbild sah. Sein Haar brauchte einen Schnitt und er musste sich unbedingt rasieren. Sein Gesicht war bleich und sein Hemd dreckig. Unter den Achseln hatten sich Schwitzflecken gebildet. Er hatte das Aussehen eines Penners und roch auch so. Er musste dringend unter die Dusche. Die letzen 24 Stunden waren ein Albtraum gewesen. Sie waren zu einem Einsatz in Moisling gerufen worden. Eine junge Frau hatte auf dem Dach einer Mietskaserne gestanden und gedroht, ihr Baby hinunterzuwerfen. Sie hatte es in eine Decke gewickelt und es an ihre Brust gedrückt. Er hatte den besten Psychologen kommen lassen. Der hatte vom Balkon des obersten Stockwerks zwei Stunden auf die Frau eingeredet, doch sie wollte niemanden an sich heranlassen. Die Feuerwehr hatte in der Zwischenzeit ein Sprungtuch aufgespannt. Stefan hatte entsetzliche Angst gehabt. Die Sache war ihm unter die Haut gegangen. Sein Kleinster war genauso alt wie das Baby auf dem Dach. Immer wieder hatte er Finns Gesicht gesehen. Ihm war fast egal gewesen, ob die Irre sich umbrachte, aber dem unschuldigen Baby durfte nichts geschehen. Plötzlich hatte die Frau hysterisch gelacht und den Säugling ohne Vorwarnung hinuntergeworfen. Die Feuerwehrmänner hatten das Tuch gespannt und das Bündel aufgefangen. Wie bei Finns Geburt hatte er auf den ersten Schrei gewartet, vergeblich. Panisch hatte er die Decke aufgeschlagen und sofort die Augen geschlossen. Er hatte schon viel gesehen, seit er bei der Mordkommission war, aber das war mehr, als er ertragen konnte. Das Baby musste schon seit Tagen tot sein. Als die Frau vom Dach gesprungen war, hatte er gehofft, dass sie das Sprungtuch verfehlen und auf das Pflaster klatschen würde. Sie hatten sie die ganze Nacht verhört. Stefan hatte drei Schachteln Zigaretten geraucht und unzählige Tassen Kaffee getrunken. Jetzt wollte er nur noch zu seiner Familie. Er wollte seine Frau küssen, mit den Kindern spielen und seinen Jüngsten in den Arm nehmen.

      Er liebte Tina noch immer wie am ersten Tag. Er sollte es ihr öfter sagen und zeigen. Vielleicht konnten sie sich an diesem Wochenende ein bisschen Zeit füreinander nehmen. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Wütend feuerte Stefan die Kippe aus dem Fenster. Ihre Hoheit Klatschqueen Sophie würde auch da sein. Verdammt!

      Sophie wusste nicht, was sie geweckt hatte, das Gebrüll von Finn oder die kalte Nase von Pelle, die ihren Arm stupste. Sie hatte wunderbar geschlafen und zum ersten Mal seit der Trennung nicht von Felix geträumt. Sophie reckte sich und öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die Blümchentapete und die bestickten Vorhänge. »Guten Morgen, Bullerbü!«, lachte sie leise. Der Labrador versuchte, die Situation für sich auszunutzen. Mit einem Satz war er im Bett und leckte ihr Gesicht ab. »Hey! Du spinnst wohl! Zisch ab und lass mich erst mal gucken, wie spät es eigentlich ist!« Pelle polterte aus dem Bett und wedelte aufmunternd mit dem Schwanz. Sophie sah auf die Uhr. »Fünf nach sechs! Vergiss es, Dicker!« Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken. »Ich habe Ferien! In zwei Stunden lass ich vielleicht mit mir reden.« Pelle zog den Schwanz ein. »Ach, jetzt willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?« Sophie grinste, zog den Vorhang zur Seite und sah aus dem Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen schienen auf Felder und saftige Wiesen, und in dem alten Kirschbaum vor dem Haus zankten sich zwei Amseln. »Idylle pur!« Pelle stand wieder auf und schnaubte. »Ich kann sowieso nicht mehr einschlafen, wenn ich weiß, dass du mich die ganze Zeit vorwurfsvoll anglotzt. Na los, wir gehen joggen. Sport wird dir guttun. Bist ein bisschen rund geworden in letzter Zeit.«

      Ein paar Minuten später schlich sie mit dem Hund die Treppe hinunter und verließ das Haus. Sophie atmete die Seeluft ein und dehnte ihre steifen Glieder, bevor sie durch den Obstgarten auf den Deich zu trabte. Sie konnte sich nicht erinnern, in den letzten Wochen so entspannt gewesen zu sein. Die Insel schien ihr gutzutun. Ein paar Möwen kreischten am Himmel und es versprach, ein sehr warmer Tag zu werden. Sie joggte auf dem Deich in Richtung Gold. Pelle jagte durch die Gegend. Zumindest der Hund ist vollkommen glücklich, dachte Sophie. Und sie würde es auch wieder werden. Die Entscheidung nach Fehmarn zu kommen, war die richtige gewesen. Sie würde jeden Morgen laufen und viel mit Tina quatschen. Das war viel besser, als irgendwo allein in einem Luxushotel vor sich hinzugrübeln. Sicher würde die Welt schon bald wieder ganz anders aussehen. Plötzlich begann Pelle aufgeregt zu bellen und stürmte davon.

      »Pelle! Bleib hier! Lass doch das arme Karnickel!«

      Er kam nicht zurück. »Fuß, verdammt noch mal!« Wütend sprintete Sophie hinter ihm her. Pelle sprang den Deich hinab zu einem schmalen Strandabschnitt. Er bellte noch immer. Plötzlich jaulte er laut auf. Sophie bekam Angst. So schnell sie konnte, stürmte sie ihm nach. Pelle stand zitternd am Strand. Ein paar Meter vor ihm lag etwas Schwarzes. Sophie hielt es für einen großen Plastiksack.

      »Meine Güte«, keuchte sie atemlos. »Jetzt komm endlich her!« Er rühre sich nicht. Sie folgte ihm den Deich hinunter. Nein, es war kein Plastiksack. »Ein Neoprenanzug! Na, wie aufregend! Irgendwer wird ihn vergessen haben. Jetzt hab dich doch nicht so! Pelle! Was bist du nur für eine Memme!« Sophie erreichte ihren Hund und klopfte ihm liebevoll den Po. »Das ist doch nur …« Sie sprang reflexartig einen Schritt zurück. »Ach du Scheiße!«

      In dem Neoprenanzug steckte eine Frau. Sophie sah sofort, dass sie tot war.

      Hanjo starrte an die Decke. Er musste gar nicht auf die Uhr sehen. Es war 20 nach sechs. Er wachte jeden Tag um dieselbe Zeit auf, immer fünf Minuten, bevor der Wecker klingeln würde. Früher war er immer gleich aus dem Bett gesprungen und nach unten in die Küche gelaufen, um Wasser aufzusetzen. Er hatte Freya jeden Morgen ihres gemeinsamen Lebens den Tee ans Bett gebracht, 40 Jahre lang. Hanjo wirkte noch immer kräftig, doch er war erschöpft. Zu viel hatte sich nach Freyas Tod verändert. Er fühlte sich so unendlich einsam ohne sie. Er hatte auch nie wieder eine Tasse Tee im Bett getrunken. Es wäre ihm wie Verrat vorgekommen, als könne er einfach so weitermachen. Hanjo stieg mühsam aus dem schweren Eichenbett, in dem er nun schon seit vier Wochen allein schlief. Ihre Decke lag noch da. Er brachte es einfach nicht übers Herz, sie auf den Dachboden zu bringen. Nachts kuschelte er sich hinein und er glaubte, noch immer ihren Geruch wahrnehmen zu können. Auch der Kleiderschrank war nicht ausgeräumt. Er war noch nicht so weit. Gerade weil jetzt alles anders war, brauchte er ihre persönlichen Dinge noch eine Weile um sich. Sie waren sein Trost. Er hatte nicht verhindern können, dass der Krebs sie aufgefressen hatte, doch er konnte zumindest selbst entscheiden, wann er sich von ihren Sachen trennen wollte. Vielleicht nie. Hanjo schlurfte in die Küche und ließ Wasser in den Kessel laufen. Er hielt die Küche immer sauber, doch sie erschien ihm neuerdings glanzlos und alt. Sie hatten sie vor 28 Jahren eingerichtet und bis auf einen neuen Kühlschrank mit Gefrierfach, einer Mikrowelle und ein paar Kleinigkeiten war sie fast unverändert. Für Freya war es der wichtigste Raum im Haus gewesen. Hier hatte sie gekocht, Handarbeiten gemacht und Briefe geschrieben. Sie hatte nie den Wunsch nach einer modernen Einbauküche geäußert und ihm war die Küche auch nie altmodisch erschienen. Hier hatten sie glückliche Stunden verbracht. Er musste unbedingt Blumen auf den Tisch stellen. Aber alles war anstrengend und er vermisste sie so sehr. Zusammen hatten sie auch die schlimmen Zeiten ertragen. Sie hatten sich gegenseitig getröstet. Doch an die dunklen Stunden wollte er jetzt nicht denken. Er versuchte, sich an die schönen Momente zu erinnern. Er war immer mit guter Laune aufgewacht, selbst wenn es draußen stürmte und die Regentropfen an das Fenster prasselten. Er hatte sich auf den Tag gefreut, war dann mit dem Tee zurück ins Bett gekrochen und sie hatten sich aneinandergekuschelt. Heute würde die Sonne scheinen. Es würde ein wundervoller Sommertag werden, doch es bedeutete ihm nichts. Der Kessel lief über und das kalte Wasser spritzte über die Spüle. Hastig drehe Hanjo den Hahn zu. Er musste sich zusammenreißen. Seine Kite- und Surfschule war seine Existenz und das kleine Restaurant war Freyas Ein und Alles gewesen. Er durfte ihr gemeinsames Lebenswerk nicht vernachlässigen. Das gute Wetter garantierte immerhin viele Schüler und hungrige