Hans-Peter Vogt

Die Suche nach der Identität


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bist, könntest du jetzt, rein rechnerisch, etwa in zwei, drei oder vier Wochen in Hamburg ankommen.“

      „Das klingt plausibel“, sagte Dennis. „Ich muss dann aber mehr über die Städte, die politischen Strukturen und so weiter wissen.“ „Das ist kein Problem“, sagte Laura. “Das geben wir im Internet in die Suchmaschinen ein. Dann haben wir alles. Wir laden das auf unseren Rechner. Du kannst dann alles in Ruhe durchlesen. Wenn du mehr Wissen brauchst, auch das finden wir im Internet. Organisationen, Namen, Personen. Alles.“

      Für Dennis waren das „Böhmische Dörfer“, aber Laura lachte, „das zeig ich dir.“

      So einfach und glatt, wie das eben beschrieben wurde, war das in Wirklichkeit nicht. Sie hatten sich langsam an diese Lösung herangetastet und viele andere Möglichkeiten erwogen, und sie sprachen noch über viele Details.

      Sie hatten vor Eifer das Mittagessen ganz vergessen und wurden von den vielen Überlegungen etwas schläfrig. Dann meinte Dennis, „darüber muss ich jetzt mal nachdenken.“

      „Find ich auch“, sagte Conny. Kommt mal mit. Sie führte die Freunde in ihr Schlafzimmer. Es gab da ein riesiges Bett. „Ich glaub’, ich brauch’ euch jetzt.“ Sie warf sich hinein. Die Freunde folgten. Sie kuschelten sich zusammen. Sie sprachen noch ein wenig, dann fielen ihnen die Augen zu.

      Dennis wurde als erster wieder wach. Er sah auf seiner Uhr, dass er anderthalb Stunden geschlafen hatte. Es war gegen sechs. Er hatte Kohldampf. Er löste sich leise aus der Umarmung, ging hinunter und fing an zu kochen. Irgendetwas gab es immer in Connys Haushalt.

      Er war so vertieft, dass er Laura gar nicht hörte. Sie stellte sich hinter ihn, schlang die Arme um ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Dauert’s noch lang“, fragte sie. Dennis schüttelte den Kopf. „Willst du Conny dazu holen?“

      Das war nicht nötig. Conny war aufgewacht und war dem Duft des Lammfleisches gefolgt, das Dennis in der Pfanne hatte.

      „Mmm. Da bin ich ja gerade richtig. Hast du auch was für mich?“ Sie war ganz Kind.

      Sie deckten den Tisch. „Wirklich gut“, sagte Conny mit vollem Mund. „Wo hast du das gelernt?“ Dennis lachte. „Auch ich hab ein paar verborgene Talente, aber nun mal ernst. Ich danke euch für den Tag. Darauf kann ich jetzt aufbauen. Für die Details brauche ich noch eine Weile. Kann ja immer sein, dass mal jemand etwas genau wissen will oder irgendwo nachfragt. Conny. Wann hast du deine nächsten Konzerte?“

      „Direkt nach dem Abitur hab ich zwei Konzerte in Berlin und in Wien. Dann das Sommerkonzert auf der Wartburg, und im Herbst bin ich auf einer großen Tournee in den Städten Buenos Aires, Santiago de Chile, Lima, La Paz und Bogota. Im Winter hab ich dann wieder meine Weihnachtskonzerte, und im Frühjahr bin ich in Mailand, Madrid und in London. Im Sommer soll ich dann in China spielen. Darauf freu ich mich ganz besonders. Dann kommt wieder die Wartburg. Mehr Termine hab ich noch nicht, das Abitur geht vor.“

      Dennis fand das hochinteressant. „Das passt ja prima. Dann kann ich mich erst mal hier in Berlin ein wenig um die Talentschule kümmern, und nach deinem Konzert auf der Wartburg können wir zusammen nach Südamerika fliegen. Die Zeit können wir für Recherchen in Sachen Musik nutzen. Dann kann ich im Winter noch mal nach Südamerika reisen. Diesmal aber in meiner eigenen Angelegenheit.“

      „Mann, du legst ein Tempo vor“, sagte Laura. „Da wird mir ja schwindlig“. Conny lachte. „Anders kenn ich Dennis nicht. Du etwa?“

      Dann wechselte sie das Thema. „Was haltet ihr von Frischluft? Vielleicht etwas Spreewald? Wir könnten mit dem Auto fahren und dann laufen.“ Die Freunde fanden, das sei eine gute Idee.

      Es wurde ein schöner Abend.

      „Morgen muss ich aber lernen“, meinte Conny. „Englisch und Französisch.“

      Beim Laufen erzählte sie mehr. „In der Prüfung werden wir irgendwelche Texte kriegen. Vielleicht zum übersetzen oder für eine Analyse. Vielleicht auch einen Aufsatz zu einem bestimmten Thema. Genau weiß das keiner. Die Vokabeln müssen sitzen. Meine Mutter hört mich ab. Aber vielleicht können wir noch ein bisschen über Textanalyse sprechen. Diese Dichter und Philosophen da. Robbespiere, Shakespeare und wie sie alle heißen. Das ist echt schwierig. Auch wenn sie neuere Autoren nehmen, so wie Sartre oder Böll, dann geht’s immer um irgend etwas Hintergründiges.“

      Dennis ließ sich das erklären. Er hörte genau zu. Dann überlegte er lange. „So wie du das sagst, geht es um Liebe, um Tod und um Moral. Darf ich jemanden Töten? Warum liebt A den B aber nicht umgekehrt, was ist die Legitimation der Herrschaft, lebt Gott?“ Conny nickte. „Ja genau so.“ Dennis überlegte weiter: „Deine Musik da. Was ist die Legitimation für deine Musik?“ Conny schaute ihn verblüfft an. „Wieso. Diese Musik braucht doch keine Rechtfertigung.“

      Dennis schüttelte den Kopf.

      „Du nimmst das zu selbstverständlich. Du hinterfragst die Musik nicht. Hast du mir nicht mal erzählt, das sei höfische Musik? Es gibt aber auch Romantiker. Bürgerliche Musik nennt man das wohl. Und es gibt ganz andere Richtungen. Denk mal an Schlager, Jazz oder Volksmusik. Jede Musik hat doch ihr eigenes Publikum. Schau doch mal, wer in deine Konzerte kommt. Sind das nicht Leute mit Geld, oder zumindest das, was man das Bildungsbürgertum nennt? Das sind doch nicht die Berliner U-Bahnkids oder die Arbeiter. Also bezieht doch jede Musik ihre Legitimation aus den Menschen, für die sie geschrieben ist. Egal, ob es einfache oder komplizierte Musik ist. Hast du nicht den Anspruch „Kunst“ zu machen? Ist das nicht höchste Perfektion? Und doch. Wenn ich an die Musik bei den Indios denke, das war vielleicht schräg, aber es war absolut perfekt. Es war ganz in die Herzen aller Menschen gespielt. Nicht nur in die Herzen einiger weniger.“

      „Aua aua“, meinte Laura. Jetzt wird’s aber kompliziert. Wir haben nun mal ganz unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft. Unsere U-Bahnkids sind doch nicht die Politiker, sie sind nicht die Arbeiter, die Studenten, oder die Beamten der Ausländerpolizei. Wie willst du alle mit einer einzigen Musik ansprechen? Außerdem gibt es eine Definition von Kunst. Eine Kunsttheorie.“

      Davon hatte Dennis keine Ahnung. Er sah das praktisch.

      „Wenn wir das herausgefunden haben, dann haben wir gefunden, was ich mit Musik meine. Conny denk mal an deine Konzerte in Mailand, auf der Wartburg, auf dem Campingplatz oder vor den Ratten im Berliner Tunnel. Denk auch an deine Übungen vor zwei Tagen mit der dritten Geige. Vergleich das mal. So viele unterschiedliche Zuhörer und doch haben dir alle andächtig zugehört. Und dennoch: Es war noch nicht perfekt. Es hatte immer irgendwas gefehlt. Genau danach suchen wir. Vielleicht finden wir in Südamerika die Antwort auf unsere Fragen.

      Eigentlich wollten sie nur spazieren gehen, doch es war ein sehr tiefsinniges Gespräch geworden. Sie ließen sich von Bob nach Hause fahren.

      „Wenn ich das alles in die Analyse im Abitur packe, dann hab ich noch was vor mir“, sagte Conny. Dennis nickte. „Dann lass uns noch mal darüber sprechen. Nicht jetzt. Nicht morgen. Aber bitte mit konkreten Texten. Es muss vor deinem geistigen Auge bildlich entstehen. Wie ein Film.“

      Als er dann mit Laura alleine war, fragte er: „meinst du, dass es für Conny gut ist, wenn wir so oft hier sind? Sie ist das sicher nicht gewöhnt und sie wird vielleicht auch abgelenkt von dem, was sie sonst tut.“

      „Wir können sie morgen fragen“, meinte Laura. „Ich habe in der Stiftung meine eigene kleine Wohnung. Wenn du willst, können wir auch dorthin gehen, oder du kannst mal ein paar Nächte bei den Kids schlafen. Sie werden sich sicher darüber freuen.“

      9.

      Am nächsten Morgen war alles wie sonst auch, aber Conny meinte: „Der Tag gestern hat mich etwas ins Grübeln gebracht. Ich muss ein bisschen nachdenken. Ich will auch ein bisschen Geige spielen, ganz für mich alleine. Könnt ihr mich heute in Ruhe lassen?“

      Dennis