Hans-Peter Vogt

Die Suche nach der Identität


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das zu verheimlichen. Auch das fanden die Kids hochinteressant. „Der Tod, erzählte Dennis „hatte dort unten eine ganz andere Bedeutung. Sicher, jeder will Leben. Anders war das auch dort nicht. Aber wenn dir von deinen Kindern zwei, fünf oder acht wegsterben und vielleicht nur eins oder zwei überleben, dann bekommt ihr eine andere Meinung vom Leben. Der Tod ist allgegenwärtig. Die Menschen da unten haben gelernt, damit zu leben. Vor dem Tod darf man sich nicht fürchten.“

      Das war für die Kids eine erschreckende Wahrheit. Es gab viele Fragen. „Alles kann ich euch nicht beantworten“, fügte Dennis hinzu. „Ihr wollt mehr wissen, doch ich weiß, dass ihr euch viele dieser Fragen nur selbst beantworten könnt. Jeder auf seine Weise. Denkt darüber nach. Sprecht darüber mit eurem Freund oder (er lächelte) mit eurer Freundin. Findet eure eigene Lösung. Vielleicht gibt es in den nächsten Wochen mal die Gelegenheit einen ganzen Vormittag über dieses Thema zu reden.“

      Ohne Dennis Zutun bildeten sich Gruppen, die weiter darüber diskutierten. Er sah einige der Kids, die sich etwas zurückzogen und still in der Ecke saßen. Für ein paar von ihnen war das Aufregung genug. Sie wollten jetzt Action.

      Dennis ließ sie gehen.

      Es war eine ganz eigene Art von Schule, die gerade eben entstanden war. Die Schule des Lebens, wie Dennis die Schule der Kids heimlich nannte, war um ein neues Fach reicher geworden. Um das Fach „Lebensphilosophie“. Dennis war zufrieden. Es war ein guter Haufen. Die Alten und die Neuen. Er liebte diese Kids.

      5.

      Am Abend fuhr Dennis zu Conny. Er achtete strikt auf die Anweisungen. In einer dunklen Straße erlaubte er sich, den Straßenzug zu wechseln, indem er sich mit der Hilfe seines Bruders zwei Straßen weiter beamte. Diesmal ging alles ganz ohne Lichtschein ab.

      Conny hatte nach dem Mittagessen gelernt und sich dann wieder ihrem Geigenspiel gewidmet. Sie wollte nicht Reden und auch Dennis hatte keine Lust. Er vertiefte sich in seinen Büchern und las auch den ganzen nächsten Vormittag weiter.

      Als Conny eine kurze Pause machte, bat er sie: „Kennst du Susis Telefonnummer?“ Conny nickte. „Kannst du sie herbitten? Ich möchte sie sehen. Ich muss schließlich Stück für Stück mein alten Leben wieder aufnehmen.“

      Conny sagte nur, es sei dringend. Susi wusste die Adresse.

      Als es klingelte, führte sie einer der Bodyguards herein.

      Dennis hatte Laura und Conny bei dem Wiedersehen beobachtet. Er hatte die Reaktion der Kids gesehen. Das hier hatte er nicht erwartet. Susi kippte aus den Latschen.

      Dennis hob sie auf und trug sie auf die Couch. Er hielt sie in seinen Armen. Susi rang nach Luft und Fassung. Als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, sagte sie: „Du hättest mich vorwarnen können. Das eben war ganz und gar nicht in meiner Absicht.“

      Dennis lächelte. „Ging nicht, Susi. Glaub mir. Offiziell bin ich tot. Tote können nicht vorwarnen, und Susi…“, warnte er, „vorläufig bin ich weiter tot. Ich werde zu Allan und den andern selbst Kontakt aufnehmen, aber du versprichst mir, nicht zu reden, auch wenn’s schwer fällt.“

      „Das wird schwer“, antwortete Susi, und sah Dennis lange an. Sie langte nach seinen Händen. Sie spürte die Narben in seinen Handflächen. Sie erschrak. Aber Dennis lächelte sie an. „Das ist nichts. Das musst du mir glauben. Ich habe zwei Jahre sehr glücklich gelebt. Weit weg. Das hier (er zeigte auf die Narben) ist ein Teil des Glücks, das ich erleben durfte.“

      Dann erzählte er ein wenig von Südamerika und ließ auch Susi erzählen. Er wollte mehr wissen von Allan, Jochen und Roman, von der Talentschule und von ihrer alten Gruppe. Er sah, dass zwar alles lief und jeder seine Arbeit machte, aber er spürte auch in Susis Erzählung, dass die Freude und der Elan nicht mehr das waren, was einmal war. Susi bestätigte Lauras Erzählung. Der Organisation fehlte der kreative Kopf.

      Der Nachmittag ging schnell rum. „Bitte vergiss nicht“, sagte Dennis zum Abschied. „Ich bin tot. Jedenfalls bis auf weiteres. Ich werde wieder zum Leben erweckt, aber noch nicht sofort.“

      Als Conny sich mit Dennis zum Abendbrot traf, grinste sie. „Der Ritter und das Fräulein.“

      Dennis knuffte sie in die Seite. „Du bist gemein.“ Laura musste lachen und sie steckte auch Dennis damit an.

      Als Laura kam, fand sie zwei lachende Freunde. Sie ließ sich vom Lachen anstecken. Sie hatte gute Nachrichten. „Morgen ist’s soweit. Dann sind die Tests abgeschlossen. Trifter hat mir vorhin Bescheid gegeben. Morgen abend werden Trifter und „der Dicke“ hier sein. Dann ist Wochenende.“

      Zu Laura sagte sie. „Ich würde gern mit dir und Dennis am Wochenende irgendwohin fahren, aber du erregst überall soviel Aufsehen, wo du auftauchst. Ich kann das nicht riskieren.“

      Laura winkte ab. „Dann kann ich das mal nutzen, um euch loszuwerden. Ich muss noch ein bisschen lernen und auch üben.“ Die Freunde wussten, dass sie nicht rausgeschmissen werden. Sie verstanden den Scherz.

      Am nächsten Morgen ging Dennis wieder in die Schule der Kids. Auch dieses Mal war er super vorsichtig.

      6.

      Dennis blühte in der Schule der Kids richtig auf. Es machte ihm Spaß. Ungezwungenes und freiwilliges Lernen hat mit der Regelschule nichts zu tun und läuft ganz anders ab. Die Kids lernten andere Dinge. Jeder hatte sein eigenes Lerntempo. Niemand wurde gezwungen. Sie lernten aus eigenem Interesse. Sie halfen sich gegenseitig. Sie konnten sehr konzentriert sein, aber sie konnten auch ungezügelt loslachen, wenn es etwas zu lachen gab.

      Heute stand das Thema „Lesen“ auf dem Programm. Sie hatten einige leichte und schwere Texte vorbereitet. Einige der Kids konnten das gut, für andere war das tierisch anstrengend. Einer der Jungen, vielleicht acht Jahre alt, hatte sichtlich Mühe, die Zeichen zu entziffern. Dennis sah Trifter etwas auf ein Blatt Papier schreiben. Dann legte er Pauli das Blatt vor. „Lies das mal.“ Pauli stutzte. Dann las er vor, „nicht klauen. Drei neunundneunzig du Arschloch.“ Die Kids fingen an zu lachen. Sie steckten Pauli an, sie weinten Tränen. Pauli hatte das gelesen, fast ohne Stocken. Glatt vom Papier.

      Selbst Trifter lachte Tränen. „Siehste, geht doch“, sagte er, und legte Pauli den andern Text noch mal vor. „Versuchs noch mal.“

      Pauli nahm sich zusammen. Es ging. „Jouh“ johlte Bübchen. „Aus einem gescheiten Arsch kommt auch ein gescheiter Furz.“ Das hatte ein erneutes Lachen zur Folge, doch Trifter bat um Ruhe. „Nur nicht vulgär werden, oder habt ihr auch solche Texte?“ Die Kids johlten erneut, dann konzentrierten sie sich wieder auf das lesen.

      In welcher Schule, dachte sich Dennis, wäre so was wie eben wohl möglich gewesen? Das war schon einmalig. Einmalig war vor allem die Rückbesinnung auf die Konzentration an der Sache. Sie wussten, warum sie lernten.

      Es gab schwierige Texte. Dennis, der doch hervorragend zu reden wusste, stockte ab und zu. Er war nicht mehr in Übung. Vor allem, den Text so vorzulesen, dass jeder sofort verstand, worum es ging, war für ihn sehr schwierig geworden. Dennis hatte noch viel zu lernen. Er nahm sich vor, seine Bücher in Connys Haus laut zu lesen.

      7.

      Am Nachmittag war Dennis wieder super vorsichtig. Er wurde nicht verfolgt. Er traf Conny lernend vor und bat sie darum, den Text, an dem sie gerade saß, mit ihr abwechselnd laut zu lesen. So war es lustiger. Sie sprachen über den Text. Sie analysierten ihn. Das wiederum war Dennis Stärke. Er konnte viel über die handelnden Figuren und ihre Gefühle sagen, warum sie das sagten und nichts anderes. Warum sie freiwillig in den Tod gingen oder Gewissensbisse entwickelten. Das war Dennis Gebiet.

      Irgendwann zwischendrin sagte Conny: „Warum haben wir das nicht schon viel früher gemacht?“ Du sagst da Dinge, die ich mir erst mühsam erarbeiten muss. Das kommt bei dir mit einer Leichtigkeit, dass ich nur staunen kann. Willst du nicht an meiner