Welt, sondern als unmittelbar vor Augen liegende, überall vorhandene, als faktische, reale Welt im Gegensatz zu einem Wunschbild von ihr.
Und schließlich lebte er eine Weise, wie man darin bleibt: indem er sich kühn in die Welt der menschlichen Ohnmacht hineinbegab. Er sah bewusst alles unter dem Aspekt dessen, was er als „Armut“ bezeichnete, womit er genau so ansetzte wie Jesus zu seiner Zeit. So machte sich Franziskus daran, die Wirklichkeit mit den Augen und vom Standpunkt derer aus zu deuten, die „leiden und verachtet werden“ – und am Ende als Auferstandene dastehen. Dies ist offensichtlich jene „privilegierte Sichtweise“, die zur alles entscheidenden Einsicht verhilft, wie man sie auf keine andere Weise gewinnen kann. Es ist die spirituelle Lebenstaufe, mit der wir im Sinne Jesu getauft werden müssen (vgl. Markus 10,39). Mein Angelpunkt in diesem Buch heißt, dass diese „Taufe“ es ist, die uns zu neuen Menschen macht, nach Gottes Geist und Sinn. Sie überschreitet jede Religion oder Konfession. Der Geist Gottes erteilt sie uns direkt im wirklichen Leben.
Über die Kernbotschaft Jesu sind ganz unterschiedliche Lehrmeinungen vertreten worden. Nicht zu rütteln ist jedoch an der Tatsache, dass er arm gelebt und zur spirituellen Wahrnehmung der Wirklichkeit vorzugsweise die Sichtweise „von unten her“ gewählt hat. Alle anderen noch so klugen Ausführungen kommen an dieser überwältigenden Gegebenheit nicht vorbei. Franziskus ließ sich ohne Wenn und Aber darauf ein. Dies wurde für ihn der Lackmustest jeglicher Rechtgläubigkeit und der ausschlaggebende Weg zur ständigen weiteren Verwandlung in Gott hinein. Wer außer Gott hätte auf eine solche Lebenstaufe der Umwandlung zu wahrem Menschsein kommen können?
Man kann bei Franziskus einen Dreischritt finden: Zuallererst gilt es, die Grundfrage „Wer bin ich?“ für sich zu entdecken und für sich zu klären; hier geht es um das Finden des „wahren Selbst“ auf dem Weg des Gebets. Hierauf gilt es zu erkennen, dass man in einem von großem Sinn erfüllten Kosmos lebt (also den sakramentalen Charakter des Universums zu entdecken). Und schließlich muss man ganz arm werden (um die konkrete Wirklichkeit von der Seite der eigenen Ohnmacht und der endlosen Fürsorge Gottes her lesen zu können).
So lehrte Franziskus, das Gegengift gegen Verwirrung und Lähmung bestehe grundsätzlich in der Rückkehr zur Einfachheit, zu dem, was man unmittelbar vor Augen hat, zum Offensichtlichen. Er verfügte sozusagen über den Genius, das im Offenkundigen Verborgene ans Licht zu bringen. Das war so einfach, dass es ungemein schwierig erschien, so weit zu kommen. Um eine derartige Einfachheit beschreiben zu können, bedarf es dieses gesamten weiteren Buches.
Es ist schon merkwürdig, es eigens lernen zu müssen, wie man die Wirklichkeit einfach und klar anschaut und durchschaut. Für viele mag das überraschend klingen, aber auf dem Weg zum wahren Menschsein kommt es vor allem darauf an, Gelerntes infrage zu stellen und wenn nötig abzulegen, und nicht so sehr darauf, etwas Neues zu lernen.
Bei einem spirituellen Leben geht es darum, alles auf das Wesentliche zu konzentrieren und zu reduzieren, während unser Ego von Natur aus der Auffassung ist, es gehe darum, etwas zu erreichen, etwas zu leisten und Erreichtes anzusammeln. Bei echter Spiritualität geht es jedoch immer und vor allem ums Loslassen. Erst dann entsteht, wird Raum frei für Gott – und vielleicht paradoxerweise Raum für unsere eigene wahre, unzerstörbare Größe. Was alle großen Frauen und Männer auszeichnet, denen ich begegnet bin, ist, dass sie sich freuen, zu den „ganz einfachen Leuten“ zu gehören, ohne vornehm zu tun oder großartige Titel zu tragen. In wahrem Menschsein ist bereits die tiefste Spiritualität anwesend. Vielleicht ist auch deshalb die häufigste Bezeichnung, die Jesus für sich gebraucht (im Neuen Testament 79-mal bezeugt!), die des „Menschensohnes“, des Menschen und Menschlichen, des Jedermann und Jedefrau.
Wir leben in einer ganz ähnlichen Zeit wie der des Franziskus und auch Jesu, und zwar insofern, als sie nach einem inneren Umbau geradezu schreit. Aber beginnen wir unseren Umbau, unsere Neuorientierung zunächst einmal mit einer Bestandsaufnahme. Versuchen wir, unsere jüngste Vergangenheit zu verstehen, ohne sie zu verurteilen: Wie sind wir in das derzeitige Sinnchaos geraten? Gibt es da noch einen Ausweg? Noch wichtiger allerdings erscheint mir, dass wir uns deutlich vor Augen halten: Wir brauchen gar nicht etwas Bestimmtes ganz genau zu wissen, nicht unbedingt das richtige Buch zu lesen – auch nicht das vorliegende! – oder den perfekten Kurs, das außergewöhnliche Seminar mitzumachen. Alles, was wir brauchen, sind eine scharfe Brille, Tiefenschärfe, Achtsamkeit. Es kommt vor allem darauf an zu begreifen, wie wir sehen, und nicht so sehr, was wir sehen sollen. Dann wird uns Gott von diesem Punkt an weiterführen. Ich verspreche es Ihnen.
Das Geheimnis unserer Vergöttlichung – wenn Sie mir gestatten, ein so gewagtes Wort von Augustinus zu gebrauchen – kann auf keinen Fall darin bestehen, dass jeder Mensch einen gigantischen Wissenstest darüber ablegen muss, ob er sich möglichst viele weltliche oder katechetische Informationen korrekt und umfänglich angeeignet hat. Jedoch wird die Wachheit dafür, sich vergöttlichen zu lassen, davon abhängen, ob man seine innere Sehkraft mehr und mehr schärft, um wirklich sehen zu können, worum es geht. Es geht nicht darum zu definieren, was man sehen soll – worüber wir nur endlos diskutieren würden –, sondern darum, den Seher und die Seherin selbst zu einer neuen und wahren Identität umzugestalten. Das ist der eklatante Unterschied zwischen Religion als einer Summe von Formeln und Glaubenssätzen, die man für wahr hält, und Religion als spirituelle Verwandlung des Menschen.
Kümmere dich darum, auf die Reihe zu bringen, wer du bist; dann kümmert sich das Was um sich selbst. Das ist Religion als Vergöttlichung (ein eher in den Ostkirchen geläufiger Begriff) im Gegensatz zu Religion als Katechismus, Moralkodex und Kult.
Ich bin überzeugt davon, dass, sobald die grundsätzliche Frage „Wer bin ich?“ beantwortet ist, Katechismus, Moralkodex und Kult von allein zu ihrem zweitrangigen Stellenwert finden. Ist dagegen die Frage nach dem Wer nicht beantwortet, bewirken alle Fragen mit Was und Wie, Wenn und Wo immer mehr Spaltung.
Das Zeitalter der „Vernunft“
Wie konnten wir uns so weit von Franziskus’ Welt entfernen? Was wir als die Moderne bezeichnen, reicht in seinen Ursprüngen in die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurück. Das war die Zeit des Rationalismus. Die Aufklärung führte zu einem großartigen wissenschaftlichen Geist. Ihre rein materialistische Weltsicht lehrte, alles zu messen, und nur noch das Messbare und Beweisbare galten als wirklich. Der Glaube konnte auf dieser Ebene nicht mithalten, wurde zurückgedrängt oder zog sich selbst zurück. Die Wissenschaft war überzeugt – und das führte zur grandiosen Überheblichkeit modernen Denkens –, sie wisse mehr, als jemals jemand gewusst habe. Sie übersah jedoch, dass sich das neue Wissen auf einen nur kleinen, äußeren Bereich beschränkte und sie in ihrer Begeisterung über unzählige Neuentdeckungen wesentliche andere Bereiche vernachlässigte. Die Analyse von Teilen wurde wichtiger als die Synthese des Ganzen.
Von diesem neuen weltlichen Wissen sind wir schon drei Jahrhunderte lang wie benommen, paralysiert. Der moderne Geist ist in sich selbst verliebt und fasziniert von seiner Fähigkeit, Dinge in Gang zu setzen, neuerdings sogar Gene und Chromosomen und Atome neu anordnen und Resultate genau voraussagen zu können. Dies fühlt sich für manchen Zeitgenossen wie eine geradezu göttliche Macht an – und ist es auch. Es bescherte uns eine Philosophie immens beschleunigten Fortschritts, im Gegensatz zu dem bisherigem Weltverständnis, das von ewigen Kreisläufen, von Sterben und Auferstehen ausging.
In letzterer, vor allem asiatischer Weltsicht der alleinen Harmonie (aus Asien kamen ja alle großen Religionen) müssen Tod und Leben genau wie alles andere auch ständig im Gleichgewicht gehalten werden. Heutiger Zeitgeist dagegen stellt sich lieber vor, das Mysterium des Todes so gut wie überwinden zu können. Viele Zeitgenossen glauben, alles werde noch immer besser, perfekter, effektiver etc. – ein Glaube allerdings nicht ohne Schwindelgefühle. Diese Sicht der Dinge kennt viele Versatzformen, aber im Allgemeinen kennzeichnet sie das, was wir als die moderne Welt kennen. Das hat uns alle tief geprägt, namentlich im Abendland. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass Bildung, Verstand und Wissenschaft die Welt immer besser machen.
Aber dann ging der Holocaust ausgerechnet von dem Land aus, das vielleicht das