Günter Krenn

Romy spielt sich frei


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      Romy in einem Kostüm für Sissi. 1955.

      Rosa als Rita in Ludwig Fuldas Talisman am Deutschen Theater in Berlin. 1891. Romy hat ihre Großmutter immer sehr verehrt.

      Rosa. 1894. Eine sogenannte Profil-perdu-Ansicht mit vorbildlich aufrechter Körperhaltung, aufgenommen im Atelier Tietze in Bad Elster.

       Wanderjahre im 19. Jahrhundert

      Die ersten beiden außerfamiliären Menschen, die Rosa in ihren Lebenserinnerungen erwähnt, sind Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke und Otto von Bismarck. Beiden begegnet sie Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin. Und es ist vielleicht für manche ihre künftigen politischen Entscheidungen bezeichnend, dass sie ihr historiografisches Koordinatensystem mit zwei Zentralgestalten der deutschen Reichsgründung von 1871 beginnt. Beide hatten maßgeblichen Anteil an Preußens politischer Vormachtstellung nach den deutschen Einigungskriegen, als Siege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich das Staatsgebiet sowie auch das deutsche Selbstbewusstsein erheblich vergrößerten. „Den großen Moltke“, damals 82 Jahre alt, trifft sie im Alter von acht Jahren, das ist 1882, im Frühling bei einem Spaziergang an der Hand ihrer Mutter im Berliner Tiergarten. Die bleiche, hagere Gestalt in Schwarz, deren Körpergröße ein Zylinderhut, im Volksmund „Angströhre“ genannt, noch nach obenhin verzerrt, muss der Kleinen riesenhaft erschienen sein. Als sie den Blick seiner stahlblauen Augen wohlwollend auf sich fühlt, knickst sie artig, er lobt ihr Aussehen und ihre Manieren, lüftet den Zylinder und fragt nach ihrem Namen, den sie ihm verrät: Rosa Retty. Dafür erntet sie von ihm den mit einer metallisch schnarrenden Stimme gesprochenen Kommentar: „Rosa. Das passt zu dir!“1 Die obligatorisch folgende Frage, ob sie denn auch ein braves Kind sei, wird von der Mutter bejaht, worauf der Feldmarschall beiden Damen noch einmal seine Höflichkeit offeriert und Rosa mit dem Auftrag verlässt, dass es so bleiben möge.

      Das zweite und letzte Treffen mit dem als „der große Schweiger“ Apostrophierten findet im Jahr 1890 im Rahmen eines Empfangs im Palais des Grafen Dönhoff statt, bei dessen Buffet Rosa, inzwischen 16 Jahre alt, mit den Töchtern des Hauses gerade eine Tasse Tee trinkt. Der mittlerweile 90-jährige Moltke, ein Freund der Familie, kommt aus dem Salon, wo er in einer Herrenrunde Whist gespielt hat. Er fragt sie nach ihrer Herkunft, ist froh, dass sie behütet aufwächst, und erzählt ihr von seiner entbehrungsreichen Jugendzeit in der Landkadetten-Akademie in Kopenhagen. Als besondere Leistung seinerseits führt er keine politischen Taten an, sondern den Bau von Brücken und Wasserleitungen an den Dardanellen, die er neben den Befestigungsanlagen dort entworfen hat. Die pompösen Trauerbekundungen nach Moltkes Tod im April 1891 sind die ersten, die Rosa im Gedächtnis bleiben, die ostentative Theatralik daran beeindruckt die Schauspielerin: Schwarze Stoffe verhängen die Gaslaternen der Prachtstraße Unter den Linden, sogar der Leierkastenmann am Oranienplatz im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ändert sein Repertoire und besingt den „Heldengreis“, der die Einheit Deutschlands garantierte.

      Den zweiten, für diese Epoche wichtigen Mann lernt Rosa ebenfalls im Palais Dönhoff in der Wilhelmstraße 63 kennen: Reichskanzler Otto von Bismarck, den sie im Vergleich zu Moltke als größer und dicker beschreibt, mit milchweißem, fast mädchenhaftem Teint und einer sehr hohen Stimme. Rosa, die später am Theater und beim Film erlebt, wie man dort Geschichte umgestaltet, wird feststellen, dass man den Reichskanzler im Film zwar äußerlich nachahmt, ihm aber ein sonores, männliches Timbre zuerkennt, denn: „Kein Regisseur hätte es damals gewagt, den ‚Eisernen Kanzler‘ im Falsett reden zu lassen.“2 Rosa gegenüber ist Bismarck Kavalier, würdigt ihre darstellerischen Fähigkeiten auf der Bühne, streicht sich dabei Erdbeermarmelade aufs Brot und trinkt genießerisch stark gesüßten Tee. Es macht Rosa ebenso stolz wie verlegen, dass der Kanzler sie zum Abschluss mit seinem Lorgnon wie ein naturkundliches Exponat inspiziert und, nachdem er die Stehbrille wieder abgenommen hat, charmant ihren zweifellos auf Fleiß basierenden Erfolg lobt. In dem Film Mädchen in Uniform wird Rosas Enkelin Romy im Jahr 1958, klein und eingeschüchtert wirkend, vor einem imposant an die Wand hinter ihr gepinseltem Zitat Bismarcks posieren: „Der Mensch ist nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um seine Pflicht zu tun.“

      Berlin erlebt Ende des 19. Jahrhunderts einen beispiellosen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Am 18. Januar 1871 wird es zur Reichshauptstadt proklamiert, die in den Kriegen eroberten Gebiete sowie die hohen Reparationszahlungen durch Frankreich ermöglichten eine Potenzierung der industriellen Kapazität und damit ökonomische Prosperität, weshalb sich die neue Metropole ständig vergrößert. Hatte die Stadt 1850 nur 300.000 Einwohner, sind es 1877 rund eine Million, die sich bis 1905 sogar noch verdoppelt. Die neue Hauptstadt wird zunehmend modernisiert, erhält eine effiziente Kanalisationsanlage, elektrische Straßenbeleuchtung und ein Telefonsystem.

      Rosa Retty geht mit offenen Augen und gespitzten Ohren durch diese Zeit, sieht die Entwicklung des Kurfürstendamms von einem unwegsamen Karrenweg, bei dem man bei einem Spaziergang noch im Schlamm stecken bleiben konnte, zu einer Promenaden-Allee, hört, dass man im Juni 1884 die Fundamente für das Reichstagsgebäude aushebt. Sie erlebt den Verkehr einer modernen Stadt, wie sie ihn bislang nie kannte, hört bis in die Nacht hinein die Geräusche der Trillerpfeife des Kondukteurs in der von Pferden gezogenen Straßenbahn. Autos sieht man noch keine auf den Straßen, hier fahren Kutschen. Ein- und Zweispänner, die „Kremser“ mit einem von vier Eisenstangen getragenen Planen-Dach. Rosa sieht aber auch weniger luxuriöse Modelle, darunter die „Auswandererwagen“, die vom Schlesischen zum Anhalter Bahnhof fahren, oder Leichenwägen vierter Klasse, die nur bei Dunkelheit unterwegs sind, um ihre mit einer Decke kuvertierte Fracht in billigem Holz zu transportieren. In einem noblen Zweispänner begegnet ihr eines Mittags der 1871 inthronisierte Kaiser Wilhelm I. Da ihn andere Passanten ebenfalls erkennen, fährt der Monarch bald grüßend durch ein ihm zujubelndes Spalier. Rosa erweist ihm ihre Reverenz, wie sie es auch künftig mit Autoritäten halten wird.

      Rosa Retty wird zwar eine begeisterte Berlinerin, doch ihre Geschichte beginnt in einer anderen, vierhundert Kilometer weit entfernten deutschen Stadt. Geboren wird sie als Rosa Clara Franziska Helene Retty am 26. Dezember 1874 im hessischen Hanau, wo ihre Eltern zu jener Zeit am Theater engagiert waren. „Im selben Jahr wie Hofmannsthal, zwei Jahre nach Grillparzers Tod“, stellt Hilde Spiel in ihrem Porträt Rosas 105 Jahre später fest.3 Ihr Vater Rudolf Wilhelm Albert Retty kommt 28 Jahre vor ihr am 20. Februar 1846 in Lübeck zur Welt, weil auch seine Eltern Schauspieler und dort im Engagement sind. Er ist 1874 ein vielbeschäftigter Bühnendarsteller, dessen Bariton im Sprech- wie im Musiktheater bis hin zu Opernrollen eingesetzt wird. An den Wochenenden schreibt er Feuilletons für Zeitungen und bearbeitet Stücke, um sie für Inszenierungen vorzubereiten, denn auch als Regisseur, eine erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende und „Spielleiter“ genannte Profession, bewährt er sich. Seine Tochter wird sein Können später mit einem Begriff umschreiben, der zu jener Zeit noch gar nicht erfunden ist: „Allroundtalent“. Als Basislektüre schwört Rudolf Retty auf Ernst von Possarts 1901 erschienenen Lehrgang des Schauspielers, das auch für seine Tochter zu einer wichtigen Anleitung für ihren Beruf wird. In Rosas Erinnerung ist der Vater ein Romantiker, bevorzugt bei der Wohnungssuche Innenstadtatmosphäre, logiert wenn möglich in alten Barockhäusern in Kirchennähe. Vielleicht leitet ihn als Wanderschauspieler dabei die Sehnsucht nach bürgerlicher Atmosphäre im Stadtzentrum, als sei er ein alteingesessener Citoyen. Die Tochter genießt die gemeinsamen Ausflüge an Nachmittagen, seine Erklärungen zu Flora und Fauna. Was sie von ihm lernt, ist vor allem, mit wenig zufrieden zu sein, seine Maxime lautet: „Je weniger du vom Leben verlangst, desto mehr gibt es dir!“4

      Rosas Mutter, Maria Catharina Retty, geborene Schaefer, ist 1874 ebenfalls als Schauspielerin in Hanau engagiert. Sie ist ausgebildete Opernsängerin, singt jedoch nach der Geburt ihrer Tochter mit ihrem Koloratursopran nur mehr für diese. Rosas Lieblingsspeise ist Danziger Kaffeebrot und ihr Essverhalten irritiert die Familie.