ist fleißig, führt detaillierte, in Wachstuch gehüllte, blau karierte Haushaltsbücher, um das Familienbudget sparsam zu verwalten. Ihre Kochkunst schließt neben der gutbürgerlichen deutschen auch die niederländische Küche ein, denn ihre Mutter Catharina van Meerten stammt aus Lommel im Brabant, weshalb Fleisch und Wurst im Hause Retty meist mit scharfem Senf gewürzt werden.
In Rosas Erinnerung hat sich die Mutter ihre Schönheit ihr ganzes kurzes Leben lang bewahrt: große, dunkle Augen in einem anmutigen Gesicht mit schmaler Nase und vollen Lippen, ausgestattet mit einer guten Figur. Ihren das Gegenüber fixierenden Blick verdankt sie einem Trachom, einer bakteriellen Augenentzündung, an der sie in ihrer Jugend leidet, erst nach ein paar kostspieligen Operationen und längerer Nachbehandlung kann die Gefahr einer Erblindung abgewehrt werden. Jahrelang muss die Tochter danach der Mutter Wimpern mit einer Pinzette auszupfen, weil die ruhige Hand des Kindes ihr einen teuren Arztbesuch erspart.
Von ihrem Vater erhält „Roselchen“ mit sechs Jahren eines der schönsten Geschenke ihres Lebens: einen Kanarienvogel namens Hansi, dessen freizügige Haltung bei zumeist offenem Käfig sich eine Katze zunutze macht und sein Leben auf rüde Art beendet. Rosa lernt dadurch früh unwiederbringlichen Verlust kennen. Die Mutter versteht ihren Schmerz, schafft es unter Wahrung ihrer sparsamen Prinzipien jedoch, der Tochter einen kompletten Satz an Trauerkleidung auszureden – sie kauft ihr nur eine Schürze und eine Halskrause in Schwarz. Als Rosa 1889, nachdem bekannt wird, dass sich der österreichische Thronfolger, Kronprinz Rudolf, in Mayerling erschossen hat, als Vierzehnjährige erneut einen Trauerflor verlangt, weil sie und ihren Freundinnen Fotografien des Adeligen sammeln, wie es spätere Generationen mit denen von Filmstars tun werden, geht dies der Mutter dann doch zu weit. Als Ersatz für Hansi bekommt Rosa einen schwarzen Dackel geschenkt. Und von diesem Zeitpunkt an werden vierbeinige Begleiter aus der Geschichte der Rettys und ihrer Nachfahren nicht mehr wegzudenken sein.
Woran Rosa sich früh gewöhnen muss, sind Ortswechsel. Noch während seiner zweiten Spielzeit in Hanau meldet sich Rudolf Retty am 2. April 1875 mit Ehefrau und Tochter nach Gießen ab. Der Vater nimmt Sommer- und Wintergastspiele an, weshalb Rosa immer wieder die Schule wechseln muss und später die Sesshaftigkeit umso mehr schätzen lernt. Immer wieder weint das Kind, weil es Abschied nehmen muss von Freunden, einer Umgebung, in die es sich eingelebt hat, während das Familiengeschirr, die Bücher und die Kleidung wieder in Reisekoffern verstaut werden. Weil Rosa als Kind an Blutarmut leidet, gastiert ihr Vater im Sommer mit Vorliebe in der Nähe von Kurorten an der Ostsee, darunter in seiner Heimatstadt Lübeck, in Heringsdorf oder Stettin, denn die Ärzte hatten dem Kind zur Kur Meeresluft empfohlen.
Rosa als bereits populäre Schauspielerin. 1890er Jahre. Das Porträt stammt von dem Hof-Fotografen Wilhelm Höffert aus Berlin. Ein Rollenfach springt gleichsam aus dem Bild.
Im Jahr von Rosas Geburt wohnten die Rettys in Hanau am Paradeplatz 17 (heute: Am Freiheitsplatz). Rosas Taufe wird im Taufbuch der evangelisch-lutherischen Johanneskirche am 24. Januar 1875 verzeichnet. Als Paten wurden eingetragen: Clara Maria Johanna Berger verwitwete Retty, die Großmutter des Kindes, sowie die Schauspielerin Helene Katharine Maria Schüle. Seinen Rufnamen erhält der Täufling nach der Schwester seiner Mutter, Rosa Köth. Rosas Großmutter Clara wird als Schauspielerin aus Königsberg mit zwei Kindern bezeichnet. Auch mütterlicherseits gibt es Verbindungen zum Schauspielerberuf. Rosas Großvater Carl Ludwig Schaefer war als Student Mitglied einer fahrenden Schauspieltruppe und lernte bei einem Gastspiel im belgischen Lommel die Tochter des Stadthauptmanns kennen, die um 1813 geborene Catharina Margareta Huberta van Meerten, ein Kind aus einer von dessen fünf Ehen. Da dieser sich weigert, seine Tochter mit einem Schauspieler zu vermählen, fliehen die beiden aus der Stadt – und heiraten ohne seine Einwilligung. Ein frühes Dokument dafür, dass zahlreiche Damen der hier erzählten Familiengeschichte dazu neigen werden, in entscheidenden Phasen ihres Lebens eigene Entscheidungen zu treffen. Wir wissen wenig über Catharina van Meerten, aber wir dürfen bei ähnlich verwegenen Entscheidungen ihrer Nachfahrinnen ihr verständnisvolles Lächeln voraussetzen.
In Homburg kommt schließlich am 24. September 1851 Rosas Mutter zur Welt, die mit 17 Jahren in einer Opernaufführung erstmals Bühnenluft schnuppert und am 30. Oktober 1874 mit 23 Jahren in Frankfurt/Main Rudolf Retty heiratet. Geboren wurde der zwar in Lübeck, seine Vorfahren lebten ebenfalls an der Ostsee, jedoch im Südosten der Halbinsel Samland, in Königsberg. Die Stadt wurde 1946 zusammen mit dem Großteil Ostpreußens der Russischen Sowjetrepublik eingegliedert und in Kaliningrad umbenannt. Große und identitätsstiftende Teile der für unsere Geschichte relevanten historischen Gebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder aufgebaut. Nur auf kolorierten Lithografien und alten Fotografien hat sich der unprätentiöse Charme der ehemals Königlichen Barockstadt mit ihren im Stil der Backsteingotik erbauten Kirchtürmen erhalten.
Eine Dynastie entsteht
Am 11. April 1852, nachmittags gegen 13 Uhr, ertrinkt im Königsberg durchziehenden Fluss Pregel ein Mann, dessen Alter im Totenbuch der Stadt auf 62 Jahre geschätzt wird. Er heißt Gottlieb Adam Adolph Retty.5 Sein Nachname findet sich in mehreren Varianten geschrieben, etwa auch Prettÿ oder Rettÿ. Geboren wurde er am 8. Oktober 1790 im etwa 120 Kilometer entfernten Rastenburg (heute: Kętrzyn/Polen). Zu seinen Lebzeiten erreichte das Königreich Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) seine größte Ausdehnung. Aus dem früheren Flickenteppich aus kleinen Fürstentümern war eine Großmacht geworden, die sich durch Kriege eine militärische Vormachtstellung in Mitteleuropa sicherte. Das machtpolitische Rückgrat war eine mustergültig aufgebaute Armee, in der aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht auch Gottlieb Adam Adolph Retty Dienst tat. In den Jahren 1821 und 1822 war er Hautboist (Oboenbläser), ab 1823 Musikmeister im 1. Infanterie-Regiment der preußischen Armee, aus der er im Jahr 1832 als Invalide in Ehren entlassen wurde. Wann genau er die Stelle als Hof- und Schlossküster in der protestantischen Schlosskirche zu Königsberg einnahm, ist nicht überliefert, sicher ist nur, dass er sie bis zu seinem Tod innehatte. Es war eine gute und sichere Position, denn die Hauptstadt des Herzogtums Preußen hatte Anfang des 18. Jahrhunderts einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Nach dem Zusammenschluss der Städte Altstadt, Kneiphof und Löbenicht gelangte Königsberg durch den Handel zu wirtschaftlichem Reichtum. Holländische und englische Handelsschiffe ankerten im Brackwasserbereich des Frischen Haffs vor der Pregelmündung und tauschten dort englische Fabrikate, Wein und Kolonialwaren gegen Naturprodukte ein, die von jüdischen Händlern aus dem benachbarten Polen geliefert wurden. Ganz in der Nähe dieses kommerziellen Umschlagplatzes am Hafen lag das Haus des Riemermeisters Johann Georg Kant, dessen viertes von insgesamt elf Kindern, Immanuel Kant, im April 1724 geboren wurde und einige der wichtigsten Werke der Philosophie verfassen sollte.
Der Hof- und Schlossküster Adam Adolph Retty wurde eine Woche nach seinem Ableben, am 18. April 1852, in Königsberg beerdigt, das geht aus den Unterlagen der Altstädtischen Kirche hervor. Das sind die ersten amtlich verbürgten Angaben zu einem Mitglied der Familie Retty. Wir kennen auch die Lebensdaten seiner Gemahlin Henriette Amalie, geborene Vogel (deren Nachname in anderen Dokumenten „Vogler“ geschrieben wird). Geboren im Jahr 1801, starb sie am 8. Mai 1849, also drei Jahre vor ihrem Mann, den Dokumenten nach um acht Uhr abends im Alter von 48 Jahren an „Abzehrung“, also Tuberkulose. Beerdigt wurde sie am 15. Mai 1849, geheiratet hatte sie Gottlieb Retty mit zwanzig Jahren am 9. Februar 1821 in Königsberg. In den Sterbedokumenten ist von acht Kindern die Rede, insgesamt wurden aber neun Geburten verzeichnet. Für den Fortgang dieser Geschichte am wichtigsten ist ihr Erstgeborener, Rosas Großvater Gottlob Adolph Herrmann Retty, geboren am 12. Dezember 1821, getauft am 4. Januar 1822 nach evangelischer Tradition.6
Rudolf Retty. 1894. Rosas geliebter Vater, den sie als Heldendarsteller, „père noble“, Regisseur und Autor bewunderte.
Mag man seinen Vater ob seiner musikalischen Tätigkeit schon in den Bereich der Künstler einreihen, so beginnt mit Gottlob Adolph Herrmann die Theatertradition der Rettys. Und sie fällt in eine künstlerisch interessante