Sie beeindruckt Rosa mit einem bei einer Probe in die Runde geworfenen Götz-Zitat, das sie an diesem Ort außerhalb einer Vorstellung nicht erwartet hätte. Rosa lernt Katharina Schratt kennen, über deren Beziehung zu Kaiser Franz Joseph ganz Wien tuschelt. Zu ihren Erinnerungen gehört, dass Werner Krauss oft betrunken auf die Bühne kommt und Kollegen damit ärgerte, wenn er als Bühnenleiche „post mortem“ in ihre Dialoge hineinbrabbelt. Rosa begleitet das Burgtheater-Ensemble auf Gastspielen in Prag und Russland, wo sie die Zarenfamilie der persönlichen Ansicht gekrönter Häupter hinzufügen kann. Stolz und amüsiert zugleich berichtet sie darüber, dass sie mit Kindern aus dem österreichischen Kaiserhaus ein Theaterstück einstudiert.
Ihr Mentor, Joseph Kainz, hat ihr beigebracht, stets die Kontrolle über ihren Körper zu behalten, auch über Schmerzen und Krankheiten hinweg. So wird sie sechs Jahrzehnte lang immer wieder mit Zwölffingerdarmgeschwüren auf der Bühne stehen und 1919, mit 45 Jahren, trotz einsetzendem grauem Star eine Augenoperation ablehnen, weil sie nicht mit Brille auftreten möchte. Noch mit 97 Jahren bezwingt sie eine schwere Grippe trotz hohem Fieber in kürzester Zeit.
Im Mai 1912 wird sie zu Hofschauspielerin ernannt, was sie als große Ehre empfindet. Für ihren Vater, den Wanderschauspieler mit wechselnden Engagements, steht fest: „Burgschauspieler sein ist kein Beruf, sondern ein Zustand!“13 Aus heutiger Sicht mag die Bedeutung des Ehrentitels unverständlich wirken, Max Reinhardt hielt jedoch bereits 1926 fest, dass man bereits zu diesem Zeitpunkt kaum mehr begreifen konnte, was es bedeutet hatte, ein Burgschauspieler zu werden, die Verpflichtung erhebliche Vorrechte und Ehren einbrachte.
Zu den Gepflogenheiten gehörte auch, eine Audienz beim Kaiser zu absolvieren, um sich für die Ehre der Ernennung ergebenst zu bedanken. Die erforderliche Garderobe war streng reglementiert: für die Damen ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid, das sich Rosa natürlich bei Drecoll am Kohlmarkt entwerfen lässt; dazu weiße Glacéhandschuhe und einen Hut ohne Krempe und Schleier, damit nichts das Gesicht verdeckt. Im Audienzsaal von Schönbrunn nimmt sie mit anderen auf der mit rotem Samt überzogenen Bank Platz, nachdem sie aufgerufen wird, betritt sie das imperiale Gemach. Vielleich liegt es an der allgegenwärtigen Präsenz des Kaisers in unzähligen Büsten und Bildnissen im öffentlichen Raum, dass er ihr so vertraut erscheint. Der über 80-Jährige beeindruckt sie, scheint ihr fast über eine jungenhafte Statur zu verfügen. Er verlässt das weiße Stehpult am Fenster, kommt auf die Eintretende zu, bedauert, sie noch nie auf der Bühne gesehen zu haben, da er kaum noch ins Theater gehe, sei jedoch von seiner Tochter Valerie über ihr Können unterrichtet worden. Vier Jahrzehnte später wird Rosa ihrer Enkelin Romy von dem Erlebnis berichten, wenn diese 1955 für den Film Die Deutschmeister als Mädel vom Land eine solche imperiale Audienz nachspielen wird. Als Franz Joseph wird ihr in der Szene Paul Hörbiger gegenüberstehen, Rosas Kollege vom Burgtheater. Der Kaiser ist im Film zu jenem Zeitpunkt 79 Jahre alt, also kann man die Szene mit 1909 datieren. In ihrem übernächsten Film wird Romy wieder mit Franz Joseph I. in Schönbrunn zu sehen sein. Der Kaiser wird dann 56 Jahre jünger sein und von Karlheinz Böhm verkörpert werden.
Am Vormittag des 10. März 1913 sitzt Rosa mit ihrem Mann beim Frühstück, als das Telefon läutet. Das Dienstmädchen Anna hebt ab und ruft dann die gnädige Frau mit dem Hinweis, es sei ein Gespräch aus Leipzig. Wohl ihr Vater Rudolf, vermutet Karl Albach. Ein paar Jahre schon hatte man sich bereits nicht mehr gesehen, doch schrieb der Vater Rosa regelmäßig. Dass er nun mit Frieda als seiner zweiten Frau in Leipzig in der Frankfurter Straße Nr. 24 wohnt, hat Rosa mittlerweile akzeptiert, obwohl sie es ihm lange nicht verzeihen wollte. Zu knapp nach dem Tod ihrer geliebten Mutter schien es ihr, zu groß der Altersunterschied: 18 Jahre alt war Frieda, Rudolf dagegen bereits 54. Die Hochzeit fand am 6. Juni 1900 statt. Als er ihr mitteilt, er wolle mit Frieda nach Leipzig ziehen, wird ihr bewusst, dass sie ihn nicht verlieren möchte, nennt ihn wieder „Pepus“, wie damals, als sie noch ein Kind in Berlin war. Sie weiß, dass er an Wien hängt wie sie selbst, aber Frieda hofft, in Leipzig größere Rollen spielen zu können. Als Rosa ihn zur Bahn bringt, nimmt sie von einem sichtlich gealterten Mann Abschied. Zwei Mal kommt er wieder auf Besuch, begrüßt seinen Enkel, applaudiert stolz seiner Tochter auf der Bühne. Die meiste Zeit verbringt er in der Hofbibliothek, studiert Bücher und macht Notizen für seine eigenen Werke. Längst arbeitet er mehr als Kritiker und Literat denn als Schauspieler. Worüber er nicht spricht, außer durch sein kummervolles Aussehen, ist seine Ehe.
Auch am Vormittag des 10. März 1913 wird Rosa nicht die Stimme ihres Vaters hören, sondern die von Frieda. Sie spricht schnell, unnatürlich laut und plötzlich versteht Rosa, was sie ihr in den Apparat schreit. Das Nächste, was sie hört, ist Lachen. Lautes, unkontrolliertes Lachen – und zu ihrem Schrecken bemerkt sie, dass sie selbst es ist, die so reagiert, ihrem Mann und ihrem Dienstmädchen auf diese Art erklärt: „Der Pepus ist tot! Versteht ihr? Tot! Erschossen! Ha, ha, ha! Wo liegt er? Irgendwo! Mit einem Loch im Kopf! Ha, ha, ha!“14 Lachkrämpfe schütteln sie noch, als ihr Mann sie ins Schlafzimmer trägt. Seine Bitten, sie möge damit aufhören, nützen nichts, auch nicht das kalte Wasser, mit dem er ihr heißes Gesicht kühlt. Der Kopf schmerzt, sie hat Zerrbilder vor Augen, ihre Zähne schlagen unkontrolliert aufeinander, etwas wie Schüttelfrost durchläuft sie, während sie weiterlacht. Zwei Stunden dauert der krampfartige Zustand an, bevor sie vor Erschöpfung einschläft. Als sie aufwacht, ist es fast Abend. Ihr Mann teilt ihr mit, dass das Theater keinen Ersatz für sie habe, sie die Vorstellung absolvieren muss, wenn es irgendwie geht. Nun siegt die Disziplin wieder, sie lässt sich ins Theater bringen, schminken, ankleiden, kann sich selbst beim Spielen zusehen. Obwohl sie am Rande der Erschöpfung ist, steht sie den Abend durch, erst danach bricht sie in der Garderobe zusammen.
Erhalten ist eine Anzeige des Polizeiamts der Stadt Leipzig, wonach der Schriftsteller Rudolf Albert Wilhelm Retty, 67 Jahre alt, evangelisch‐lutherischer Religion, wohnhaft in Leipzig, Frankfurter Straße 24, geboren in Lübeck, Ehemann der Friederike, geborene Großmüller, wohnhaft zu Leipzig, Sohn des Adolph Hermann Retty und seiner Ehefrau Clara Maria Johanna, geborene Presch, zu Leipzig in seiner Wohnung am 10. März des Jahres 1913 vormittags gegen acht Uhr verstorben sei.
Tage später sieht Rosa ihren Vater im Sarg, die Wunde wurde von den Einbalsamierern kunstvoll kaschiert, starker Rosenduft liegt in der Luft, sie erkennt das Parfüm ihrer Mutter, das diese verwendete, wenn sie Rosas Vater früher vom Theater abholte: Créme Simone. Mit ein paar Zeitungsausschnitten, Gedichten und seiner Taschenuhr verlässt sie Leipzig am nächsten Morgen mit dem Zug. Zuhause erwarten sie ihr Mann und ihr mittlerweile siebenjähriger Sohn Wolf, der ein Vierteljahrhundert später Romys Vater werden wird.
Ihr Sohn: Wolfgang Helmuth Walter
„Gibt es keine Liebe, die Jahre überdauert? Ist der Mann ständig wandelbar und unzuverlässig? Aber wenn ihn schon die Frau zu nichts verpflichten vermag – wenn er nur die scheinbar ausweglose Verworrenheit der Beziehungen sieht – warum fühlt er nicht den Ansatz zu großem und fruchtbarem Wachsen, der in jedem jungen Kind sich offenbart? Wie ist dieser ewig Wandlerische doch begrenzt in dem Gefangensein in seinem Ich, in der Unfähigkeit, über sich hinausreichen zu können!“, fragt Lisa Heise in einem mit 28. September 1919 datierten Brief den Dichter Rainer Maria Rilke.15 Auf wen genau sie sich bezieht, ist unklar, doch scheint es wie eine präzise Beschreibung des Wesens von Romy Schneiders Vater Wolf Albach-Retty.
Er verbirgt sich ein Leben lang hinter wohltemperierten Adjektiven, die immer wieder rund um seine Person verwendet werden. Wie er als Mensch in seinem Innersten wirklich war, scheint er der Nachwelt erfolgreich verborgen zu haben. Wo er auftaucht, wird gelächelt, bittet man ihn um Autogramme, freut man sich. Seine besonderen Kennzeichen sind Äußerlichkeiten: 1,78 Meter groß, blaue Augen, dunkelblonde Haare, liebenswürdiger gehobener Wiener Dialekt in hellem Timbre, Charme. Seine Tochter Romy wird über ihn sagen: „Er war ein wunderbarer Mann. Niemals in meinem Leben habe ich wieder so einen schönen Mann gesehen. Ein hemmungsloser Schürzenjäger, meine Mutter hat sehr unter ihm gelitten. Er war wirklich verrückt.“16
Seine eigene Mutter wird Wolf nie als solche anreden, sondern stets nur mit „Roserl“ – er folgt damit einer Tradition, denn auch sie nannte die ihre immer bei deren diminuierten Vornamen. Im Gegensatz zu seinen