Wien. Dort hatte er seine Thesen zur Ätiologie der Hysterie vorgetragen. Die Reaktion der Kollegen schildert er in einem Brief an seinen Freund Fließ folgendermaßen:
„Ein Vortrag über Ätiologie der Hysterie im Psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eine eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing (dem Chef der Psychiatrischen Universitätsklinik) die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili, aufgezeigt hat!“ (aus den Briefen an Fließ, Freud 1962).
Freud fuhr fort, wie wir aus der erweiterten Ausgabe der Briefe an Fließ inzwischen wissen: „Sie können mich alle Gernhaben“. Er war also keineswegs gewillt, die neue Entdeckung dem gängigen Vorurteil zu opfern. Auch hat er sie später nicht pauschal als irrtümlich bezeichnet. Der Nachweis zwischen traumatischer Kindheitserfahrung und späterer Pathologie wurde in den Studien zur Hysterie sorgfältig geführt. Wir können diese Schrift auch heute noch als einen differenzierten Beitrag zur Erforschung traumatischer Prozesse nach sexuellem Kindesmissbrauch lesen. Vorbildlich sind sie in ihrer Rekonstruktion des komplexen Zusammenhangs zwischen traumatischer Situation, Reaktion und Prozess, der einer ebenso differenzierten qualitativen Methodik bedarf, wie Freud sie damals in Ansätzen entwickelt hatte.
In seinen späteren Arbeiten hat sich Freud stärker der Erforschung des Innenlebens zugewandt als zur Zeit der „Studien“, so z. B. in den „drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905d), in denen er die Phasen der → psychosexuellen Entwicklung erforschte. Der Vorwurf, er habe mit der Hinwendung zu den Sexualphantasien der Kinder und ihrer eigenen sexuellen Neugierde und Aktivität die Verführungstheorie außer Kraft gesetzt oder „verraten“, scheint wenig überzeugend. Kinder haben ein eigenes erotisches und sexuelles Phantasieleben, das durch aktive Sexualisierung, wie sie zur pathogenen Dynamik bei sexuellem Kindesmissbrauch gehört (vgl. Abschnitt 9.4) traumatisch gestört wird. Die Überfremdung und Ausbeutung der kindlichen Spontaneität durch die Erwachsenen bildet hier, wie oft beim kindlichen Beziehungstrauma, ein → zentrales traumatisches Situationsthema und den Punkt → maximaler Interferenz von Subjekt und traumatogenen Situationsfaktoren. Wir verdanken Freud die Einsicht in die kindliche Erlebniswelt, ein Bild vom Kind als unverzagtem kleinem „Sexualforscher“, das mit seiner Intelligenz und Neugierde den Desorientierungsversuchen der Erwachsenen, den Geschichten vom Klapperstorch usf. hartnäckig widersteht. Kinder haben eigene sexuelle Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien. Das macht sie besonders verletzlich gegenüber missbräuchlichem Verhalten, das den Entwicklungsaspekt dieser Bedürfnisse übergeht und sie den egoistischen Interessen der Erwachsenen unterwirft. Freud vorzuhalten, er habe den Kindesmissbrauch bagatellisiert oder womöglich noch gerechtfertigt, weil er das sexuelle Eigenleben des Kindes zum Gegenstand der psychoanalytischen Forschung machte, entspricht jener kognitiven Konfusion, die oft ein Ausdruck der grenzlabilen Missbrauchsdynamik ist und zusammen mit den übrigen traumatogenen Faktoren (vgl. Abschnitt 9.4.3) wie Verrat, Stigmatisierung und Misshandlung leider oft auch die wissenschaftliche Diskussion bei traumatologischen Tabuthemen bestimmt bzw. ersetzt.
So weit psychoanalysekritische Argumente sich auf diesem Niveau bewegen, müssen sie von einer wissenschaftlichen Psychotraumatologie nicht sonderlich ernst genommen werden. Autoren wie Alice Miller (1981) oder Masson (1984b) haben jedoch mit ihrer Psychoanalysekritik u. E. eine grundsätzliche, epistemologische Frage aufgeworfen, die sich etwa folgendermaßen formulieren lässt: Wie weit wird in der Psychoanalyse (und in der Psychologie überhaupt) ein Gleichgewicht zwischen „intrapsychischen“ Faktoren und externen Umweltfaktoren in seiner Bedeutung für die psychische Entwicklung anerkannt und angemessen berücksichtigt? Wie weit wird dieser dialektische Zusammenhang von subjektiver Bedürfniskonstellation und objektiven Situationsfaktoren mit der Konzentration auf rein „intrapsychische Verhältnisse“ unterlaufen? Ein kritischer Vorbehalt ist hier sicherlich angebracht bei einzelnen Studien oder auch psychoanalytischen Ansätzen, die bei traumatogenen Störungen keinen phänomenologisch ausgewiesenen Zusammenhang mit traumatischen Situationsfaktoren herzustellen vermögen. Diese Kritik wurde gegenüber den Theorien von Melanie Klein und Bion erhoben. Im Gegensatz dazu fordert Freuds ursprünglicher Traumabegriff dazu auf, pathogene Umweltkonstellationen systematisch in die psychoanalytische Untersuchung einzubeziehen. Freud knüpft zunächst an eine Analogie zum körperlichen Trauma an, wie folgende Definition verdeutlicht:
„Wir nennen so (traumatisch, d. Verf.) ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.“ (GW XI, 284).
Eine ähnliche organische Metapher findet sich auch in Freuds Arbeit von 1920g, in „Jenseits des Lustprinzips“, worin er über die Selbstorganisation der lebendigen, organischen Substanz nachdenkt. Das lebende Bläschen wird vor Außenreizen durch eine Schutzhülle oder einen Reizschutz geschützt, der nur erträgliche Energiequantitäten durchlässt. Hat diese Hülle einen Einbruch erlitten, dann liegt ein Trauma vor. Nun ist es die Aufgabe des psychischen Apparates, alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, um Gegenbesetzungen aufzurichten, die anflutenden Reizquantitäten zu binden und die Wiederherstellung des Lustprinzips zu ermöglichen.
Bedeutsam für Freuds Traumatheorie ist neben ihrer körperlich-organischen Metaphorik noch der Begriff der Nachträglichkeit. Ein Beispiel sind quasi-erotische Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern. Manchmal erst in der Pubertät kommen dem Kind die sexuellen Anklänge der Situation zu Bewusstsein. So wird die frühe Szene rückwirkend neu bewertet, diesmal im Bedeutungshorizont der entwickelten sexuellen Phantasien und Wünsche eines Adoleszenten. Hier nimmt der Traumabegriff eine Tendenz in sich auf, die sich in der gesamten Fortentwicklung des Freudschen Denkens findet: die zeitliche Einbindung der seelischen Phänomene in den Lebensentwurf und die Lebensgeschichte. Die Zeitstruktur der Nachträglichkeit muss beim Studium traumatischer Prozesse generell berücksichtigt werden. Dem trägt das → Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung Rechnung.
In einer späteren Epoche der Entwicklung des Traumabegriffs verschwindet Laplanche und Pontalis (1967) zufolge allerdings die ätiologische Bedeutung des Traumas für die Neurose zugunsten des Phantasielebens und der Fixierungen der Persönlichkeitsentwicklung auf verschiedenen Libidostufen. Genauer gesagt entwickelt Freud einen zweiten Traumabegriff. Neben unerträglichen Situationsfaktoren werden inakzeptable und unerträglich intensive Triebwünsche und -impulse als Traumafaktor untersucht. Wenn somit auch der traumabezogene Standpunkt nicht verlassen wird, wie Freud betont, so wird er doch in eine breitere ätiologische Konzeption einbezogen, die „innere“ Faktoren berücksichtigt wie die physische Konstitution und die Kindheitsentwicklung in ihrem gesamten Verlauf. Trauma wird jetzt Bestandteil einer Geschichte als Lebensgeschichte und als Geschichte der Entwicklung von Triebwünschen und Lebenszielen. In dieser weiten Konzeption der Neurose-entstehung ist das Trauma ein ätiologisches Moment unter anderen, das sich in einer → Ergänzungsreihe mit Erbfaktoren und Triebschicksal befindet. Der Ausdruck bezeichnet ein komplementäres Ergänzungsverhältnis interner und externer ätiologischer und pathogenetischer Faktoren, die sich zu einem pathologischen Schwellenwert aufschaukeln können. Die kritische Frage an den psychoanalytischen Umgang mit Traumata lässt sich folgendermaßen konkretisieren: Werden im Einzelfall beide Traumakonzepte – unerträgliche Situation vs. unakzeptabler Impuls – (→ Traumatisierung) gleichermaßen in Erwägung gezogen? Welchem Konzept wird der Vorzug gegeben? Bei nur oberflächlicher Kenntnis kann die „Situation“ allzu leicht als normal, unauffällig oder durchschnittlich betrachtet werden, wodurch ev. Traumafolgen „automatisch“ dem → Trieb- oder Phantasieleben der Persönlichkeit zugeschrieben werden. Solch eine Vorentscheidung kann weit reichende Konsequenzen haben. Wird z. B. die psychoanalytische Langzeitbehandlung traumatisierter Patienten nicht explizit auch als → Traumatherapie geführt (vgl. Abschnitt 4), so wird die Verleugnungstendenz des Opfers unterstützt, damit auch die gefährlichen Tendenzen zur Selbstbeschuldigung. Hier ist schon vom Therapiekonzept her eine Retraumatisierung des Patienten zu erwarten. Dieses Problem stellt sich besonders in der gegenwärtigen kleinianischen Richtung, die nach der Einschätzung von Schafer (1997, 354 passim) auf die Rekonstruktion und Aufarbeitung von Traumata generell zu verzichten scheint.
Eine extern traumatische Entstehungsgeschichte nimmt Freud bei der traumatischen Neurose an.