100 GG sichert das Verwerfungsmonopol des BVerfG hinsichtlich nachkonstitutioneller Vorschriften. Die Verfassungsbeschwerde kommt im öffentlichen Wirtschaftsrecht idR nur als Urteilsverfassungsbeschwerde gegen letztinstanzliche Urteile in Betracht[55]. Da die Verletzung der Vorlagepflicht auch gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verstößt, kommt es zu einer Verzahnung zwischen beiden Rechtskreisen.
Dabei gibt es für die Prüfungsreihenfolge beim Zusammentreffen unionsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Bedenken nach Auffassung des BVerfG keine zwingende Reihenfolge[56]. Steht allerdings die Nichtanwendbarkeit der Norm im konkreten Fall fest, ist sie nicht mehr entscheidungserheblich iSv Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG[57]. Immer häufiger setzt aber auch sonst die Beantwortung verfassungsrechtlicher Fragen die Klärung europarechtlicher Vorfragen voraus; sie ist dann auch Voraussetzung einer Vorlage an das BVerfG[58]. Zugleich sind die Fachgerichte verpflichtet, die unionsrechtlichen Vorgaben zu prüfen und ggf gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH vorzulegen; die Nichtvorlage kann im Vertragsverletzungsverfahren geprüft[59], aber vor allem auch mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden: die Verletzung der Vorlagepflicht bedeutet zugleich einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter iSv Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG (ausführlich ▸ Klausurenkurs Fall Nr 2). Voraussetzung einer Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter ist jedoch, dass die Vorlage willkürlich unterblieb. Zwar hat das BVerfG[60] ausdrücklich anerkannt, dass hierbei auch unionale Maßstäbe eine Rolle spielten. Allerdings bleibe die Frage nach dem gesetzlichen Richter eine solche des nationalen Verfassungsrechts, die in allen Fällen der Vorlageverpflichtung nach gleichen Maßstäben geprüft werden und die Funktion des BVerfG beachten müsse. Vor diesem Hintergrund unterscheidet es drei Konstellationen[61]: Eine „grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht“[62], ein bewusstes Abweichen von der EuGH-Rechtsprechung „zu entscheidungserheblichen Fragen“[63] und als wichtigste Fallgruppe die Überschreitung des gerichtlichen Beurteilungsspielraums bei Unvollständigkeit der Rechtsprechung[64].
§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen › II. Die Grundfreiheiten
II. Die Grundfreiheiten
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Fall 3:
Architekt A beauftragt im Rahmen eines Bauvorhabens in Deutschland den in den Niederlanden ansässigen Unternehmer U mit bestimmten, in Deutschland dem Handwerksrecht unterfallenden Bauarbeiten. U führte zwar in den Niederlanden zulässigerweise solche Arbeiten aus, war aber in Deutschland nicht in die Handwerksrolle eingetragen. Die Beauftragung verstieß damit zum Zeitpunkt der Erbringung der Leistungen gegen deutsches Handwerksrecht und stellte zugleich eine Ordnungswidrigkeit dar.
a) | Können U und A sich auf die Grundfreiheiten berufen? |
b) | Ändert sich an dieser Beurteilung etwas, wenn U, nachdem die Aufträge aus Deutschland häufiger werden, seine deutschen Aufträge vom Grundstück des Bauunternehmers B aus organisiert, mit dem er jeweils nur für die Dauer der Arbeiten einen Mietvertrag abschließt? |
c) | Mittlerweile regeln europäische, in Deutschland umgesetzte Richtlinien den Fall. Kann U sich auf die Grundfreiheiten berufen, wenn er das in der RL vorgesehene Anzeigeerfordernis für einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten hält? |
d) | Als die Geschäfte in Deutschland erheblich besser laufen als in den Niederlanden, möchte U seine Geschäftstätigkeit vollständig nach Deutschland verlagern. Allerdings schreckt es ihn ab, dass er sich dazu nach dem deutschen Recht in die Handwerksrolle eintragen lassen muss. Außerdem möchte er das Unternehmen weiterhin in der niederländischen Rechtsform der BV (Besloten vennootschap met beperkte aansprakelijkheid) betreiben. |
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Fall 4:
Uber bietet seinen Kunden – weltweit sehr erfolgreich – über eine Smartphone-Applikation eine Alternative zu herkömmlichen Taxis: man vermittelt den Kontakt zwischen nicht berufsmäßigen Fahrern, die ihr eigenes Fahrzeug benutzen, und solchen Personen, die Fahrten im innerstädtischen Bereich unternehmen möchten. Dieses Modell wird auf einige deutsche Großstädte ausgedehnt. Allerdings verfügen weder Uber noch die vermittelten Fahrer über die für solche Fahrten nach dem Personenbeförderungsrecht erforderlichen Genehmigungen.
a) | Hiergegen geht der Berufsverband der Taxifahrer in einem wettbewerbsrechtlichen Verfahren vor. |
b) | Ändert sich etwas an der Beurteilung, wenn die App lediglich der Vermittlung gewerblich tätiger Fahrer dient? |
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Fall 5:
Die O-GmbH will in der deutschen Stadt B ein Laserdrome betreiben. In dieser Anlage tragen Spieler mit Sensoren versehene Westen und benutzen Laserzielgeräte, um sich gegenseitig „spielerisch zu töten“. Darin sieht die Stadt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, weil die mit simulierten Tötungshandlungen einhergehende Verharmlosung von Gewalt gegen die grundlegenden Wertvorstellungen der Allgemeinheit verstoße. Als die Stadt gegen das Laserdrome einschreitet, macht O geltend, dass das Verbot gegen die Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit verstoße, da die Technik und Ausrüstung des Laserdrome von der irischen Gesellschaft P geliefert werde. In Irland erbringt P aufgrund von Franchiseverträgen, wie sie auch mit der O-GmbH bestehen, vergleichbare Leistungen[65].
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Fall 6:
Belgien führte bei dem Gasversorgungsunternehmen Distrigaz eine dem Staat zustehende Sonderaktie ein, um eine Gefährdung der nationalen Gasversorgung zu vermeiden. Diese ermöglicht es dem Energieminister, jede Übertragung technischer Einrichtungen und bestimmte unternehmerische Entscheidungen zu verbieten, die die Versorgung Belgiens mit Erdgas gefährden könnten. Zusätzlich entsendet die Regierung zwei Mitglieder in den Verwaltungsrat des Unternehmens. Das Verfahren wurde detailliert geregelt, die Entscheidung des Ministers muss begründet werden und ist anfechtbar.
a) | Ist eine solche Regelung gemeinschaftsrechtlich zulässig? |
b) | Wäre eine ähnliche Regelung für die Deutsche Post AG oder die DTAG zulässig, um die Aufrechterhaltung der Versorgung sicherzustellen? Was unterscheidet diese Fälle von einer „goldenen Aktie“ bei VW? |
a) Allgemeine Grundsätze und Lehren
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Die Verwirklichung des Binnenmarkts verlangt, dass außer den Waren auch die Produktionsfaktoren Arbeit und Dienstleistung frei, dh vor allem ohne Benachteiligung aufgrund der Staatsangehörigkeit verkehren können. Insofern konkretisieren sie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV durch Statuierung eines Grundsatzes der Inländergleichbehandlung. Sie verlangen aber darüber hinaus auch, dass die Beschränkungen durch öffentliche Interessen, die als Schranken der Grundfreiheiten fungieren, gerechtfertigt sind. Dazu übernehmen die Grundfreiheiten vergleichbare Funktionen