wird die Frage des Normcharakters nicht aufgeworfen. Dasselbe gilt für die Frage, ob Auslegungsentscheidungen nicht ebenfalls dem Prinzip der sachlichen Diskontinuität unterliegen. Grundsätzlich ist dies der Fall, da sich die Auslegungsentscheidungen auf die nach h.M. ebenfalls diskontinuierliche Geschäftsordnung beziehen. Sofern sie aber – wie im Regelfall – mindestens stillschweigend in jeder Wahlperiode, seitdem sie gefällt wurden, akzeptiert und befolgt werden, gelten Auslegungsentscheidungen als Teil des ungeschriebenen Geschäftsordnungs(gewohnheits)rechts auch über Wahlperiodenwechsel hinweg fort.
8. Änderung der Geschäftsordnung
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Der Bundestag ändert die Geschäftsordnung, wie er sie erlässt: durch einen einfachen Mehrheitsbeschluss des Plenums (vgl. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Üblicherweise geht dem Beschluss ein Antrag mehrerer (oder aller) Fraktionen voraus, den das Plenum an den 1. Ausschuss überweist. Der Ausschuss gibt zu dem an ihn überwiesenen Änderungsantrag eine Beschlussempfehlung ab, über die dann im Plenum abgestimmt wird. Möglich ist auch eine direkte Abstimmung über einen Änderungsantrag im Plenum, ohne Ausschussüberweisung. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der 1. Ausschuss gemäß § 128 GO-BT der Initiator der Änderung ist. Die vom Plenum entschiedene Geschäftsordnungsänderung gilt ab dem Beschluss unmittelbar.[77] Eine Verkündung im Bundesgesetzblatt ist nicht erforderlich,[78] geschieht aber üblicherweise. Vor Geschäftsordnungsänderungen stehen – in Abweichung von § 126 GO-BT – oftmals Verfahrenserprobungen. Diesen liegen interfraktionelle Absprachen im Ältestenrat (sog. Erprobungsbeschlüsse) zugrunde. Zu beobachten war dieses Vorgehen z.B. bei den „Reden zu Protokoll“ im Rahmen der Gesetzesberatung. Diese wurden in der 16. Wahlperiode zunächst erprobt. Seit 2009 sind sie fester Bestandteil der Geschäftsordnung (vgl. § 78 Abs. 6 GO-BT).
9. Diskontinuitätsgrundsatz
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Die Geschäftsordnung ist nach h.M. diskontinuierlich.[79] Ihre Gültigkeit ist folglich auf eine Wahlperiode beschränkt. Von diesem verfassungsgewohnheitsrechtlichen Grundsatz (s. Rn. 80) kann nicht abgewichen werden, wenngleich der Wortlaut des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG auch eine dauerhafte (kontinuierliche) Geschäftsordnung zu gestatten scheint.[80] Die Diskontinuität der Geschäftsordnung wirkt sich faktisch nicht aus: Im Regelfall wird in der konstituierenden oder einer der nachfolgenden Sitzungen eines neugewählten Parlaments die Geschäftsordnung der vorangegangenen Wahlperiode durch Mehrheitsbeschluss auch für die neue Legislaturperiode in Kraft gesetzt („übernommen“).[81] Eine konkludente Übernahme ist ebenfalls möglich.[82]
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Die Diskontinuität wirkt sich rechtlich aus: In der Übergangszeit zwischen dem Zusammentreten des neu gewählten Bundestages[83] und dem Erlass einer oder der Übernahme der alten Geschäftsordnung besteht keine formelle Geschäftsordnung. Da Art. 40 Abs. 1 GG den Bundestag zu bestimmten Handlungen – der Präsidentenwahl und dem „Geben“ einer Geschäftsordnung – verpflichtet, darf es einen „regellosen“ Zustand nicht geben. Daher ist davon auszugehen, dass die zur Konstituierung nötigen Geschäftsordnungsvorschriften über den Wahlperiodenwechsel hinaus fortgelten.[84] Was zur Konstituierung erforderlich ist, wird nicht einheitlich beurteilt. Nach hiesiger Auffassung sind eine wahl- und beschlussfähige Anzahl von Abgeordneten, die Wahl des Bundestagspräsidenten sowie einiger Stellvertreter und Schriftführer und der Beschluss einer Geschäftsordnung erforderlich.[85] Mithin gelten die Vorschriften über den Alterspräsidenten, die Präsidentenwahl, die Wahl der Vizepräsidenten und der Schriftführer (§§ 1-3 GO-BT) und den Erlass bzw. die Übernahme der formellen Geschäftsordnung zwar nicht formell, aber materiell kraft Parlamentsgewohnheitsrechts[86] (oder jedenfalls kraft Parlamentsbrauchs,[87] nicht aber kraft Verfassungsgewohnheitsrechts[88]) über den Ablauf einer Wahlperiode hinaus bis zur erfolgten Konstituierung (inklusive des Beschlusses einer Geschäftsordnung) fort.[89]
Die Einberufung des neu gewählten Bundestages durch den Präsidenten des vorangegangenen wird durch § 1 Abs. 1 GO-BT geregelt, ohne dass es eines Rückgriffs auf Verfassungsgewohnheitsrecht bedarf.[90] Denn zum Zeitpunkt der Einberufung besteht der „alte“ Bundestag und amtiert der „alte“ Bundestagspräsident ja noch.
Eine Weitergeltung ungeschriebenen Rechts (bzw. ungeschriebenen Brauchs) über Wahlperiodenwechsel hinaus ist für das deutsche Parlamentsrecht typisch. Die Ansicht, es bestünden zu Beginn einer Wahlperiode gar keine rechtlich bindenden Regeln, und die Ordnung der Geschäfte könne zunächst nur in allgemeiner Übereinstimmung,[91] oder (wenn diese nicht besteht) durch Mehrheitsbeschluss von Fall zu Fall erfolgen,[92] geht fehl. Bis zur Konstituierung bestehen keine Fraktionen, die sich verständigen könnten. Auch der Mehrheitsbeschluss bedürfte der Leitung der Abstimmung, einer Verständigung über die Frage, worüber (wann) abzustimmen ist, und der Feststellung, dass eine bzw. keine Mehrheit gegeben ist. Aus diesem Grund sieht § 1 Abs. 2 GO-BT – der als Gewohnheitsrecht über das Wahlperiodenende hinaus bis zur erfolgten Konstituierung (inklusive des Beschlusses einer Geschäftsordnung) fortgilt – den Alterspräsidenten, also das Mitglied mit den meisten Mandatsjahren, als Sitzungsleiter bis zur Präsidentenwahl vor.
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Änderungen an der bis zu der konstituierenden Sitzung geltenden Geschäftsordnung, die zu Beginn der neuen Wahlperiode in Kraft treten sollen, werden in der Praxis entweder im Übernahmebeschluss als Maßgaben vorgesehen oder ins Plenum eingebracht und an den 1. Ausschuss überwiesen. Über dessen Beschlussempfehlung stimmt dann das Plenum ab.
10. Auswirkungen eines Geschäftsordnungsverstoßes
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Die GO-BT ist untergesetzliches Recht, das der Bundestag im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie selbst setzt. Die GO-BT ist nicht Teil der Verfassung. Die in ihr vorgesehenen Verfahrensvorschriften sind politisch zweckmäßig, aber nicht verfassungsrechtlich geboten. Das Verfahren könnte auch anders ausgestaltet sein. Ein Verstoß gegen die GO-BT (z.B. gegen die Vorgabe von drei Beratungen bei Gesetzentwürfen, § 78 Abs. 1, oder gegen die Verteilungsfrist, § 78 Abs. 5 GO-BT) ist daher nicht automatisch ein Verfassungsverstoß. Im Gegenteil: Eine Geschäftsordnungsverletzung ist nur dann zugleich ein Verfassungsverstoß, wenn die GO-BT ausnahmsweise Vorschriften des Grundgesetzes wiederholt (z.B. § 42 GO-BT, Art. 43 Abs. 2 GG) oder wenn das parlamentarische Verfahren die ihm durch die Verfassung zugewiesenen Funktionen nicht mehr erfüllt (und damit das Demokratieprinzip verletzt ist).[93] Das dürfte aber nur selten der Fall sein. Erstens werden Abweichungen vom Verfahren zumeist zwischen allen Fraktionen vereinbart oder gemäß § 126 GO-BT mit Zweidrittelmehrheit beschlossen. Zweitens ist eine zügige Beratung gerade Ausweis einer starken parlamentarischen Demokratie. Nur wenn Abgeordnete oder Fraktionen regelrecht überrascht werden und z.B. erforderliche Beratungsunterlagen vor einer Abstimmung nicht erhalten, kommt ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip infrage.
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Prüfungsreihenfolge bei Verstößen gegen die GO-BT
1. | Abweichung von der GO-BT (z.B. § 78)? a) Nein: bei interfraktioneller Vereinbarung (im Ältestenrat, im Plenum oder anderswo) b) Nein: bei Abweichung mit Zweidrittelmehrheit (§ 126 Abs. 1, aber Vorsicht bei Minderheitsrechten wie § 20 Abs. 4; hier ist eine Abweichung durch § 126 Abs. 2 GO-BT verboten) |
2. | Liegt überhaupt ein Verstoß vor? |
3. |
Wenn ein Verstoß vorliegt: Ist er zugleich ein Verfassungsverstoß?
a)
weil gegen eine GO-Vorschrift verstoßen wurde, die eine Verfassungsvorschrift wiederholt
b)
weil der GO-Verstoß das Demokratieprinzip
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