den Regeln des Parlamentsgewohnheitsrechts gehören im Wesentlichen die im Folgenden genannten Fälle.
a) Vorschlagsrecht für den Bundestagspräsidenten
119
Schon seit der Wahl Paul Löbes (SPD) zum Reichstagspräsidenten im Jahr 1920 und erst recht seit dem Bestehen der Bundesrepublik stellt die stärkste Fraktion den Parlamentspräsidenten. Dies war allerdings zunächst nicht unwidersprochen. In der Weimarer Zeit und in den ersten Jahren der Bundesrepublik gab es immer wieder mehrere Kandidaten, wobei sich der Vorschlag der stärksten Fraktion jedoch immer durchsetzte.[127] Seit der dritten Wahlperiode des Bundestages[128] liegt das Vorschlagsrecht gewohnheitsrechtlich und damit zwingend immer bei der stärksten Fraktion; die übrigen Fraktionen haben dessen Wahl durch Zustimmung oder Enthaltung sicherzustellen.[129] Da diese Regel schon seit langem zur Parlamentstradition gehört und in ganz Deutschland auf Bundes- und Landesebene unbestrittenermaßen befolgt wird, ist sie Teil des verbindlichen Parlamentsgewohnheitsrechts. Sie ist folglich nicht Teil des Parlamentsbrauchs.[130] Ein Vorschlagsrecht einzelner Mitglieder besteht daher nach zutr. Ansicht nicht.[131] Die GO-BT geht selbst davon aus, dass der Bundestagspräsident aus der stärksten Fraktion stammt (was nach aller politischen Erfahrung dann der Fall ist, wenn ihn diese auch vorschlägt): Gemäß § 7 Abs. 6 GO-BT wird der Bundestagspräsident im Verhinderungsfall durch einen seiner Stellvertreter aus der zweitstärksten Fraktion vertreten.[132]
b) Unvereinbarkeitsregeln
120
Ein Regierungsamt als Kanzler, Minister oder Parlamentarischer Staatssekretär ist mit der Mitgliedschaft in einem Ausschuss[133] oder im Parlamentspräsidium[134] unvereinbar. In der Praxis wird ohnehin nicht erwogen, Inhaber von Regierungsämtern zu Ausschuss- oder Präsidiumsmitgliedern zu machen. Die hohe Arbeitsbelastung der Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre und der Umstand, dass auch die „einfachen“ Abgeordneten bei der Vergabe von Ausschusssitzen zum Zuge kommen sollen, schließt solche Überlegungen aus.
121
Die ganz h.M. ist der Ansicht (und hält dies vereinzelt sogar für Verfassungsgewohnheitsrecht[135]), die gleichzeitige Mitgliedschaft im Bundestag und im Bundesrat bzw. in einer Landesregierung sei unzulässig.[136] Dies ist unzutreffend.[137] Die gleichzeitige Mitgliedschaft im Bundestag und im Bundesrat bzw. in einer Landesregierung ist zulässig, denn der Verfassungstext ordnet eine Unzulässigkeit nicht an. Auch Art. 51 Abs. 1 GG, der die Mitgliedschaft im Bundesrat regelt, schließt eine gleichzeitige Mitgliedschaft im Bundestag nicht aus. Ferner regelt Art. 38 Abs. 1 GG die Wahl der Abgeordneten des Bundestages, verbietet eine Mitgliedschaft etwa im Bundesrat aber nicht. Eine Unvereinbarkeit mit der Mitgliedschaft im Bundestag oder im Bundesrat besteht hingegen ausdrücklich für das Amt des Bundespräsidenten (Art. 55 Abs. 1 GG) und für das Amt der Richter des BVerfG (Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG). Dass in zwei Fällen die Inkompatibilität ausdrücklich geregelt ist, in den Vorschriften über den Bundesrat und den Bundestag aber nicht, spricht für die Zulässigkeit einer gleichzeitigen Mitgliedschaft im Bundestag und im Bundesrat. Die Staatspraxis kennt durchaus Fälle, in denen eine Mitgliedschaft im Bundesrat und im Bundestag bestand. Sie währte aus politischen Gründen sowie aus solchen der Arbeitsbelastung stets nur kurz.
c) Abstimmungsreihenfolge
122
Der Bundestag stimmt über eine Ausschussüberweisung vor allen anderen Anträgen[138] und über einen Änderungsantrag vor dem Hauptantrag[139] ab.
In einigen Geschäftsordnungen der Landesparlamente ist dies ausdrücklich geregelt, so z.B. in § 126 der Geschäftsordnung des Bayerischen Landtages, in § 51 der Geschäftsordnung der Bremischen Bürgerschaft und in § 94 der Geschäftsordnung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern.
Bei mehreren Änderungsanträgen stimmt der Bundestag über den inhaltlich am weitesten gehenden zuerst ab (wobei umstritten sein kann, welcher Antrag weiter reicht).[140] Ist in Bezug auf eine Ausschussüberweisung strittig, welcher Ausschuss federführend sein soll, stimmt der Bundestag zunächst über den Antrag ab, der voraussichtlich abgelehnt wird.[141] Das Parlament stimmt über Rückverweisungsanträge in der zweiten Beratung vor Änderungsanträgen ab.[142]
d) Zwischenrufe in der parlamentarischen Debatte
123
Zwischenrufe von Abgeordneten während der Plenardebatten sind zulässig[143] (da sie kein „Sprechen“ im Sinne von § 27 Abs. 1 S. 1 GO-BT sind). Sie werden in das Plenarprotokoll aufgenommen (arg. § 119 Abs. 1 GO-BT).[144]
e) Weitere Regeln des Parlamentsgewohnheitsrechts
124
Der sitzungsleitende Präsident darf in einer Debatte nicht kritisiert werden.[145] Der Ort für Kritik an der Sitzungsleitung ist der nicht-öffentlich tagende Ältestenrat (§ 6 GO-BT) als „Clearing-Stelle“ zwischen den Fraktionen.
Für Anträge einer Fraktion genügt es, wenn nur der Fraktionsvorsitzende sie mit dem Zusatz „und Fraktion“ unterschreibt.[146]
2. Parlamentsbrauch (parlamentarische Übung)
125
In der Vergangenheit – insb. im Zuge der Geschäftsordnungsreformen der Jahre 1969 und 1980 – wurden viele Parlamentsbräuche in das formelle Geschäftsordnungsrecht übernommen. Dazu gehören z.B. die Verständigung über den Arbeitsplan des Bundestages (Termine, Tagesordnungen, Zeitplan für Sitzungswochen) in § 6 Abs. 2 oder die Einberufung von Ausschusssitzungen in § 60 GO-BT.[147] Parlamentsbräuche sind, da sie rechtlich nicht verbindlich sind, ab und an Gegenstand politischer Auseinandersetzungen.
a) Interfraktionelle Vereinbarungen
126
Den wichtigsten Fall des Parlamentsbrauches stellen die interfraktionellen Vereinbarungen (Absprachen) dar.[148] Sie besitzen als „politische Verträge“[149] keine Rechtsqualität.[150] Das Plenum kann von ihnen abweichen. Dies zeigen insb. § 20 Abs. 1 Hs. 2 und § 35 Abs. 1 S. 2 GO-BT. Wirksam werden interfraktionelle Vereinbarungen erst, wenn sie dem Plenum mitgeteilt wurden und sich dort kein Widerspruch erhebt. Die interfraktionellen Absprachen erfolgen einvernehmlich und nicht durch Mehrheitsbeschluss.[151] Interfraktionelle Vereinbarungen können im Ältestenrat (woran z.B. § 6 Abs. 2 S. 2, § 20 Abs. 1, § 35 Abs.1 S. 1 GO-BT anknüpfen), zwischen den (1.) Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen oder auf anderem Wege stattfinden.
aa) Vereinbarungen mit Anknüpfungspunkt in der GO-BT
127
Zu den interfraktionellen Absprachen, die an formelles Geschäftsordnungsrecht anknüpfen, gehören insb. die folgenden:
Die Tagesordnung gilt für den betreffenden Sitzungstag[152] als festgestellt, wenn beim Aufruf des ersten Tagesordnungspunktes kein Widerspruch erfolgt oder keine Änderungsanträge gestellt werden (vgl. § 20 Abs. 2 S. 2, 3 GO-BT).
Die Rednerabfolge in einer Debatte (beginnende Fraktion, darauffolgende Fraktionen) wird zu Beginn der Wahlperiode durch interfraktionelle Vereinbarungen geregelt. In der Regel wechseln sich Redner der Koalitions- und Redner der Oppositionsfraktionen ab. Wenn die Oppositionsfraktionen ihre Redezeit erschöpft haben, folgen nur noch Redner der Koalitionsfraktionen.
Beispiel:
Die Redezeitkontingente für eine 60-minütige Debatte sind wie folgt verteilt: C-Fraktion 27 Minuten, S-Fraktion 17 Minuten, L-Fraktion