Grundsatz
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Die Amtshaftung setzt nach ständiger Rechtsprechung des EuGHs ein rechtswidriges Verhalten der Organe der Union oder ihrer Bediensteten voraus. Zu unterscheiden sind dabei drei Arten von haftungsbegründenden Amtstätigkeiten: Die Haftung für administratives Unrecht d.h. für rechtswidrige Einzelakte der Organe und Bediensteten im Bereich der Verwaltungstätigkeit, die Haftung für normatives Unrecht, d.h. für rechtswidrige Rechtsetzungsakte, und die Haftung für judikatives Unrecht, d.h. für rechtswidriges Handeln der rechtsprechenden Gewalt. Die frühere Rechtsprechung (vgl. insbesondere EuGH, Urt. v. 4.10.1979, 64/76 u.a. – Dumortier Frères –, Rn. 19 ff.) ließ i.R.d. Haftung wegen administrativen Unrechts einen Verstoß gegen eine auch den Schutz des Geschädigten bezweckende Rechtsnorm (Schutznormverletzung) genügen. Hinsichtlich der Haftung für normatives Unrecht verlangte der EuGH jedoch eine „hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz der einzelnen dienenden Rechtsnorm“ (EuGH, Urt. v. 2.12.1971, 5/71 – Schöppenstedt –, Rn. 11). In der neueren Rechtsprechung (EuGH, Urt. v. 4.7.2000, C-352/98 P – Bergaderm/Kommission –, Rn. 42) wird allerdings das Qualifizierungserfordernis auch auf administratives und judikatives Unrecht ausgeweitet, so dass eine Differenzierung nicht erforderlich ist.
b) Hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen Rechtsnorm
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Eine „hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz des Einzelnen dienende Rechtsnorm“ (s. Rn. 12) muss zudem offenkundig und erheblich sein.
aa) Verletzung einer Schutznorm
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Voraussetzung für einen Schadensersatz ist also, dass eine Rechtsnorm verletzt wurde, die den Schutz der Interessen des Geschädigten bezweckt (dazu EuG, Urt. v. 19.10.2005, T-415/03 – Cofradía de pescadores de „San Pedro“ de Bermeo/Rat –, Rn. 86). Zu den vom Gerichtshof der EU anerkannten Schutznormen gehören bspw. die Grundfreiheiten (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren), die Diskriminierungsverbote (→ Diskriminierungsverbot, allgemeines) und die Grundrechte der → Grundrechtecharta.
bb) Hinreichend qualifizierte Verletzung
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Die Verletzung einer Schutznorm löst die Haftungsfolge nur aus, wenn sie in hinreichender Weise qualifiziert ist. Hinreichend qualifiziert ist die Rechtsverletzung, wenn das handelnde Organ die Grenzen seiner Befugnisse offenkundig und erheblich überschritten hat (EuGH, Urt. v. 25.5.1978, 83/76 u.a. – HNL Vermehrungsbetriebe –, Rn. 6). Bei der Frage des Vorliegens von Offenkundigkeit ist das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift zu berücksichtigen (EuGH, Urt. v. 5.3.1996, C-46/93 u.a. – Brasserie du Pêcheur –, Rn. 56). Für die Frage der Erheblichkeit ist entscheidend die Vorsätzlichkeit des Verstoßes oder der Schadensherbeiführung, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, dass das Handeln des Unionsorgans oder der Bediensteten möglicherweise dazu beigetragen hat, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in unionsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden (EuGH, Urt. v. 5.3.1996, C-46/93 u.a. – Brasserie du Pêcheur –, Rn. 56). Jedenfalls ist ein Verstoß gegen das Unionsrecht hinreichend qualifiziert, wenn im Widerspruch gegen ein Urteil oder die gefestigte einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergibt, gehandelt wird (EuGH, Urt. v. 5.3.1996, C-46/93 u.a. – Brasserie du Pêcheur –, Rn. 57).
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Maßgeblich ist ferner, ob dem Organ ein Entscheidungsspielraum zustand, der Spielraum auf Null reduziert ist oder ob ein gebundener Beschluss vorlag. Diese Unterscheidung ist notwendig, da bei der Verneinung eines Gestaltungsspielraums bereits der bloße Verstoß gegen eine unionsrechtliche Schutznorm zur Begründung einer hinreichend qualifizierten Verletzung ausreichend ist (EuGH, Urt. v. 4.7.2000, C-352/98 – Bergaderm/Kommission –, Rn. 44; Urt. v. 23.5.1996, C-5/94 – Hedley Lomas –, Rn. 28). Wenn das Organ aber die Handlung in Ausübung eines weiten Ermessens erlassen hat, setzt die Haftung der Union weiter voraus, dass „eine qualifizierte, nämlich eine offensichtliche und schwerwiegende Verletzung“ vorliegt (EuG, Urt. v. 15.4.1997, T-390/94 – Schröder und Thamann –, Rn. 52; EuG, Urt. v. 5.5.1998, T-481/93 u.a. – Exporteurs in Levende –, Rn. 81).
4. Verschulden
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Ein Verschulden wird in Art. 340 UAbs. 2 AEUV nicht als Voraussetzung der Amtshaftung genannt. Der EuGH verzichtet auf die Verschuldensprüfung (vgl. EuGH, Urt. v. 28.4.1971, 4/69 –, Lütticke/Kommission –). Die Haftung der Union erfolgt somit heute verschuldensunabhängig. Eingeschränkt wird die verschuldensunabhängige Haftung der Union aber durch die Voraussetzung einer hinreichend qualifizierten Verletzung (s. Rn. 17 f.). In diesem Zusammenhang kann berücksichtigt werden, ob Entschuldigungsgründe oder Schuldausschließungsgründe vorliegen (EuG, Urt. v. 26.1.2006, T-364/03 – Medici Grimm/Rat –, Rn. 81, 87 f.). Die Frage eines Mitverschuldens des Geschädigten kann ebenfalls in diesem Rahmen erwogen werden.
5. Schaden
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Erfasst werden vom amtshaftungsrechtlichen Schadensbegriff neben Vermögenseinbußen auch Einbußen an sonstigen rechtlich geschützten Gütern, einschließlich nichtvermögenswerten Rechten (immaterieller Schaden; vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.1998, C-259/96 P – de Nil –, Rn. 48 ff.). Der ersatzfähige Schaden berechnet sich nach der Differenzmethode und kann auch einen entgangenen Gewinn umfassen (s. EuGH, Urt. v. 19.5.1992, C-104/89 – Mulder/Rat und Kommission –, Rn. 26).
6. Kausalzusammenhang
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Der Schaden muss durch die Organe oder Bediensteten der Union in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht worden sein. Zwischen der Handlung und dem behaupteten Schaden muss ein unmittelbarer (EuGH, Urt. v. 4.10.1979, 64/76 u.a. – Dumortier Frères –, Rn. 21) und ursächlicher (EuGH, Urt. v. 2.7.1974, 153/73 – Willemsen –, Rn. 7) Zusammenhang bestehen. Das Merkmal der Unmittelbarkeit bringt zum Ausdruck, dass nicht jede noch so entfernte nachteilige Folge zum Schadensersatz verpflichtet (EuGH, Urt. v. 4.10.1979, 64/76, – Dumortier Frères –, Rn. 21). Die Ursächlichkeit wird mit der Adäquanztheorie konkretisiert. Unmittelbar kausal sind nur diejenigen Handlungen, die nach der allgemeinen Lebenserfahrung typischerweise geeignet sind, einen Schaden wie den eingetretenen zu verursachen. Der kausale Zusammenhang zwischen rechtswidrigem Verhalten und Schadenseintritt ist aber zu verneinen, wenn der gleiche Erfolg auch bei rechtmäßigem Verhalten oder ohne Amtstätigkeit eingetreten wäre (EuGH, Urt. v. 4.2.1975, 169/73 – Compagnie Continentale France/Rat –, Rn. 32; Urt. v. 29.9.1982, 26/81 – Oleifici Mediterranei/Rat –, Rn. 22 ff.).
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IV. Rechtsfolgen
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Die Rechtsfolge des Art. 340 UAbs. 2 AEUV ist auf Ersatz des verursachten Schadens gerichtet. Dies kann außer durch Geldersatz auch im Wege der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands (Naturalrestitution) erfolgen. Die einer Amtshaftungsklage stattgebende