Bernhard Kempen

Europarecht


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      Art. 108 AEUV normiert die wesentlichen Verfahrensregeln für das EU-Beihilfenrecht. Sie werden durch die BeihVerfVO konkretisiert. Für die Beihilfenpraxis sind die Beihilfenverfahrensvorschriften von elementarer Bedeutung und nicht von den materiell-rechtlichen Vorschriften zum EU-Beihilfenrecht zu trennen.

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      Art. 108 Abs. 1 AEUV und die Art. 21–Art. 23 BeihVerfVO regeln zunächst das Verfahren bei bestehenden Beihilferegelungen. Bestehende Beihilfen sind gem. Art. 1 Buchst. b) BeihVerfVO alle Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des AEU-Vertrages in dem entsprechenden Mitgliedstaat eingeführt worden und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind. Zu unterscheiden sind demnach Einzelbeihilfen und Beihilferegelungen. Nach Art. 1 Buchst. d) BeihVerfVO ist eine Beihilferegelung eine Regelung, wonach Unternehmen, die in der Regelung in einer allgemeinen und abstrakten Weise definiert werden, ohne nähere Durchführungsmaßnahmen Einzelbeihilfen gewährt werden können, bzw. eine Regelung, wonach einem oder mehreren Unternehmen nicht an ein bestimmtes Vorhaben gebundene Beihilfen für unbestimmte Zeit und/oder in unbestimmter Höhe gewährt werden können. Bestehende Beihilferegelungen unterliegen wegen ihrer auf eine Dauer angelegten Wirkung einer fortlaufenden Ex-post-Kontrolle durch die Kommission. Gelangt die Kommission gem. Art. 21 BeihVerfVO aufgrund übermittelter Auskünfte zu dem Schluss, dass die bestehende Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt nicht oder nicht mehr vereinbar ist, so schlägt sie dem betreffenden Mitgliedstaat zweckdienliche Maßnahmen zur Umgestaltung der Beihilferegelung oder zu deren Abschaffung vor. Wird der Vorschlag durch den Mitgliedstaat angenommen, so setzt die Kommission diesen gem. Art. 23 Abs. 1 BeihVerfVO fest und der Mitgliedstaat ist dann verpflichtet, den Vorschlag umzusetzen. Lehnt der Mitgliedstaat den Vorschlag der Kommission ab, so kann die Kommission ein förmliches Prüfverfahren eröffnen.

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      Art. 108 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 UAbs. 1 AEUV und Art. 4–Art. 11 BeihVerfVO regeln das Verfahren für neue Beihilfen und die Änderung bestehender Beihilfen. Neue Beihilfen sind gem. Art 1 Buchst. c) BeihVerfVO alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen. Auf einer ersten Stufe, dem sog. Vorprüfverfahren, wird die angemeldete Beihilfe nur kursorisch geprüft, um der Kommission eine erste Einschätzung zu ermöglichen. Stellt die Kommission im Vorprüfverfahren gem. Art. 4 Abs. 3 BeihVerfVO fest, dass die angemeldete Beihilfe keinen Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gibt, so beschließt sie, dass die Maßnahme mit dem Binnenmarkt vereinbar ist. Anderenfalls eröffnet sie auf einer nächsten Stufe das förmliche Prüfverfahren, welches in Art. 6 BeihVerfVO geregelt ist. Dieses Verfahren stellt ein kontradiktorisches Verfahren zwischen der Kommission und dem jeweiligen Mitgliedstaat dar. Die Kommission prüft i.R.d. förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt anhand der in Rn. 320–322 beschriebenen Grundsätze. Gelangt die Kommission i.R. ihrer Prüfung zu dem Schluss, dass die Beihilfe nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar ist, so beschließt sie gem. Art. 9 Abs. 5 BeihVerfVO, dass diese Beihilfe nicht eingeführt werden darf (sog. Negativbeschluss); stuft sie die Beihilfe hingegen als vereinbar mit dem Binnenmarkt ein, so erlässt sie einen sog. Positivbeschluss.

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      Art. 108 Abs. 3 S. 3, Abs. 2 UAbs. 1 AEUV sowie Art. 12–Art. 19 BeihVerfVO regeln schließlich das Verfahren bei rechtswidrigen Beihilfen. Rechtswidrig ist eine Beihilfe gem. Art. 1 Buchst. f) BeihVerfVO, wenn sie unter Verstoß gegen die Notifizierungspflicht des Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV eingeführt wurde. Art. 15 BeihVerfVO verweist auf die Vorschriften für das Verfahren bei neuen Beihilfen. Im Wesentlichen richtet sich das Verfahren bei rechtswidrigen Beihilfen nach diesen Vorschriften. Es ist mithin ebenfalls zweistufig aufgebaut, wobei einige Besonderheiten gelten, die sich aus dem Verstoß gegen die Stillhalteverpflichtung des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV ergeben. So kann die Kommission gem. Art. 13 BeihVerfVO die Aussetzung oder einstweilige Rückforderung der Beihilfe anordnen. Ergeht am Ende des Verfahrens ein Negativbeschluss, so ordnet die Kommission grundsätzlich gem. Art. 16 BeihVerfVO die Rückforderung der Beihilfe durch den Mitgliedstaat an.

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      Die Mitgliedstaaten der EU sind gem. Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV verpflichtet, neue Beihilfen und die Umgestaltungen bestehender Beihilfen bei der Kommission anzumelden (Notifizierungspflicht). Die Anmeldung kann ausschließlich durch die Mitgliedstaaten erfolgen und nicht etwa durch die Beihilfeempfänger. Die Notifizierungspflicht dient der Ex-ante-Kontrolle von Beihilfen durch die Kommission. Sie hat auch das Genehmigungsmonopol i.R.d. Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt gem. Art. 107 Abs. 2, 3 AEUV. Notifizierungspflicht und Genehmigungsmonopol stellen die beiden zentralen Instrumente zur Gewährleistung einer effizienten Umsetzung der beihilfenrechtlichen Wettbewerbskontrolle dar. Eine gewisse Aufweichung erfährt dieser Ansatz dadurch, dass der weit überwiegende Teil von Beihilfen nunmehr durch die AGVO und weitere Freistellungstatbestände ohne vorherige Notifizierung gewährt werden kann und somit in eine Ex-post-Kontrolle überführt worden ist.

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      Aus Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV sowie Art. 3 BeihVerfVO ergibt sich, dass Mitgliedstaaten eine Beihilfe nicht gewähren dürfen, solange ein verfahrensabschließender, die Beihilfe genehmigender Beschluss der Kommission hierüber noch nicht getroffen wurde. Eine dennoch gewährte Beihilfe ist in jedem Falle formell rechtswidrig. Die Stillhalteverpflichtung (auch Durchführungsverbot genannt) betrifft neue Beihilfen sowie die Umgestaltung bestehender Beihilfen und nicht angemeldete rechtswidrige Beihilfen. Freigestellte Beihilfen unterliegen dieser Verpflichtung nicht. Die in Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV normierte Pflicht steht im Zusammenhang mit der Notifizierungspflicht des Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV. Die Pflicht zur Anmeldung von Beihilfen stellt nur dann einen effektiven Schutz vor verbotenen Beihilfen dar, wenn diese Beihilfen nicht vor Abschluss des Prüfverfahrens gewährt werden dürfen. Die Stillhalteverpflichtung entfaltet unmittelbare Wirkung und ist damit drittschützend. Konkurrenten der Beihilfeempfänger sollen vor nationalen Gerichten im Wege des von der Kommission lancierten private enforcement gegen die Gewährung von staatlichen Beihilfen vorgehen können, wobei es insoweit noch erhebliche und grundlegende Probleme gibt, wie z.B. die Frage der Bindungswirkung von nationalen Gerichten an Feststellungen der Kommission (z.B. BGH, MDR 71 [2017], 844).

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      Bezüglich der Verfahrensrechte ist zunächst zwischen den Parteien des Verfahrens und den am Verfahren Beteiligten zu unterscheiden. Das Beihilfenverfahren stellt ein Verfahren zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat dar. Die einzelnen Rechte der Parteien werden weder in Art. 108 AEUV noch in der BeihVerfVO geregelt. Art. 108 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV sieht lediglich vor, dass allen Beteiligten die Möglichkeit zur Äußerung gegeben werden muss. Anhörungs- und Verteidigungsrechte werden aus allgemeinen Unionsprinzipien hergleitet und stehen den Mitgliedstaaten in vollem Umfang zu. Beteiligte des Verfahrens sind gem. Art. 1 Buchst. h) BeihVerfVO Mitgliedstaaten, Personen, Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, deren Interessen aufgrund der Gewährung einer Beihilfe beeinträchtigt sein können, insbesondere der Beihilfeempfänger, Wettbewerber und Berufsverbände. Die Rechte der Beteiligten werden in Art. 24 BeihVerVO geregelt. Hiernach haben Beteiligte, mithin insbesondere auch der Beihilfeempfänger, nur sehr eingeschränkte Rechte. Die einzigen normierten Verfahrensrechte,