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Klaus Vechtel SJ | Frankfurt a. M.
geb. 1963, Dr. theol., Professor für Dogmatik an der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
Wenn nichts fehlt
Wie ein Brennglas hat die Corona-Pandemie die Transformationsprozesse, in denen der christliche Glaube und die katholische Kirche in Deutschland stehen, offengelegt. Nach dem Verbot von öffentlichen Gottesdiensten im vergangenen Jahr war eine Reaktion die eines schmerzlichen Vermissens der gemeinsamen Feiern und der Möglichkeit, die Sakramente zu empfangen. Darüber hinaus gab und gibt es aber auch Menschen, die feststellen: Es geht auch ohne – ohne sonntägliche Eucharistie und ohne priesterlich geleiteten Gottesdienst, ohne Sakramente und ihre Feier. Manchmal auch verschämt gestehen Menschen sich selbst oder anderen ein: Ich habe gemerkt, dass mir nichts fehlt. Die Erfahrung, dass nichts fehlt, kann verbunden sein mit spirituellen Neuorientierungen. Sei es, dass man in digitalen Netzwerken zu neuen, anderen gemeinschaftlichen Gebets- und Gottesdienstformen findet. Sei es, dass der Glaube und seine Ausdrucksformen stärker in den Bereich des Familiären und Privaten rücken. Vielleicht fehlt nichts, weil eine bessere, ansprechendere Möglichkeit gefunden wurde, dem persönlichen Glauben Ausdruck zu verleihen, gerade angesichts der Alternative, in einer – präsentisch oder digitalen – Eucharistiefeier einem männlichen Amtsträger und einer oftmals nichtssagenden Predigt „ausgeliefert“ zu sein. Für andere Menschen stellt sich die Frage nach einer Alternative vielleicht auch nicht mehr: Es geht eben ohne.
Die Erfahrung, dass „nichts fehlt“ bzw. eine bestimmte Form sakramentalgottesdienstlichen Feierns und Betens Menschen nicht fehlt, stellt m.E. ein großes spirituelles Thema dar. Es betrifft nicht nur einzelne Christ(inn)en, sondern wirft Fragen auf nach den Sinnressourcen, die gottesdienstliche Feiern darstellen, und nach den Disbalancen in gottesdienstlichen Feiern zwischen Priestern und Laien. Nicht zuletzt handelt es sich deshalb um ein großes Thema, weil die Erfahrung des Nichtfehlens nicht nur die „religiös Indifferenten“ betrifft, sondern den Kernbestand engagierter und überzeugter Christ(inn)en. Im Blick auf die immer größer werdende Anzahl religiös indifferenter Menschen haben Julia Knop oder auch Magnus Lerch darauf hingewiesen, dass die Theologie der vergangenen Jahrzehnte die Relevanz der Gottesfrage zu selbstverständlich – zumindest implizit – in den Menschen eingeschrieben habe. Dabei ging die Sensibilität für die Gottesfrage und ihre Relevanz nicht immer einher mit einer Sensibilität für das Phänomen einer religiösen Indifferenz. Gilt etwas Vergleichbares auch für den Binnenbereich des christlichen Glaubens? Das kirchliche Selbstverständnis etwa der Eucharistie als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG 11) bzw. als Kristallisationspunkt, in dem persönliches und gemeindliches Gebet zum Ausdruck kommen, entspricht nicht mehr dem Erleben und den spirituellen Suchbewegungen von Christ(inn)en. Eine selbstverständliche Säkularität und Weltlichkeit der Lebensbezüge, in der auch gläubige Menschen so leben, als wäre Gott nicht gegeben (Dietrich Bonhoeffer), führt dazu, dass Gott nicht unbedingt fehlen muss.
Der französische Jesuit, Historiker und Theologe Michel de Certeau hat darauf aufmerksam gemacht, dass der bzw. den Kirche(n) der Boden abhandengekommen ist, der ein sozial und kulturell selbstverständliches Wahrheitsfundament darstellte. Die Repräsentation des Göttlichen, die sakramental oder über die Irrtumslosigkeit der Schrift gesichert wurde, hat sich verschoben hin zu liturgisch-ästhetisierenden, ethisch-politisch oder charismatisch-evangelikal bestimmten Darstellungsformen des Christentums, die jedoch einen grundlegenden Bruch nicht ausblenden können, der mit dem Erleben der Abwesenheit Gottes zu tun hat. Der Glaube ist für de Certeau durch diesen Bruch und durch die Erfahrung der Differenz und Abwesenheit Gottes wesentlich geprägt, aber auch ermöglicht durch diese Erfahrung. Ist auch die Erfahrung, dass „nichts fehlt“, eine solche Brucherfahrung, eine grundlegende Erfahrung, dass im Glauben nichts fester Besitz ist, ein Erleben der Abwesenheit Gottes? Wenn es richtig ist, dass der Glaube die Erfahrung von Zerbrechlichkeit ist, dann gilt es – folgt man de Certeau – diese grundlegende Glaubensschwachheit anzunehmen und alles kirchliche Machtgebaren ebenso abzulegen wie die unterschiedlichen Aktivismen, die im Gewand von Evangelisierungs- und Restaurierungsprogrammen auftreten. Es ist hingegen das „Gemurmel des allergewöhnlichsten Gebets“, das aller Ambitionen beraubt ist, welches zum Ort einer Gemeinschaft und des gegenseitigen Dienstes werden kann. Das Eintreten in eine solche Glaubenserfahrung unterliegt weder einer kirchlichen Selbstverständlichkeit noch einer anthropologischen Notwendigkeit. De Certeau fragt entsprechend, ob sich Menschen finden, die im Glauben eine „Notwendigkeit für sich erkennen“1. Aus einer solchen Notwendigkeit heraus können Menschen die Kirche einstimmen auf einen Glauben, der von der Offenheit für einen unverfügbaren Anderen und in der akzeptierten Differenz von Gott und anderen Lebensentwürfen geprägt ist.
1Beide Zitate: M. de Certeau, GlaubensSchwachheit. Stuttgart 2009, 249.
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Stefan Kiechle SJ | Frankfurt a. M.
geb. 1960, Dr. theol., Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“, Beauftragter des Jesuitenordens für ignatianische Spiritualität, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
Bruch und Umkehr
Vor 500 Jahren wurde Ignatius von Loyola verwundet
Am 20. Mai 1521, vor 500 Jahren, kämpfte Iñigo de Loyola, ein etwa 30-jähriger baskischer Ritter, bei Pamplona mit einer kleinen Schar von Mitstreitern gegen ein übermächtiges französisches Heer (vgl. BP 1)1. Der Kampf war eigentlich aussichtslos, aber Iñigo, der Anführer, wollte sich heldenhaft auszeichnen und animierte seine Mitstreiter, den Kampf doch zu wagen. Gleich zu Beginn wurde Iñigo durch eine feindliche Kanonenkugel, die eines seiner Beine zerschlug und das andere verletzte, schwer verwundet. Weil der Anführer ausgefallen war, ergab sich die Gruppe dem Gegner. Sie wurde gut behandelt, und Iñigo wurde zur Genesung auf sein elterliches Anwesen in Loyola gebracht. Dort begann ein spiritueller Prozess, der sein Leben radikal verändern und Jahrzehnte später die dringend nötige Reform der Kirche voranbringen sollte.
Der Bruch
Durch einen äußeren und sehr brutalen Eingriff war sein bisheriges Leben zerbrochen. Vorher war Iñigo ein „den Eitelkeiten der Welt ergebener“ junger Mann (BP 1), draufgängerisch, ehrsüchtig, stolz. Bei Hof wollte er den Frauen gefallen und seine Karriere als Ritter weitertreiben. Dazu hätte er aber gesund sein müssen und gut aussehen und ein guter Kämpfer sein. Die Kanonenkugel zerbrach ihm alles. Zur Rekonvaleszenz musste er nun zuhause für Monate das Bett hüten. Weil die zersplitterten Knochen schräg abstanden, ließ er sie, vor allem aus Eitelkeit, „operieren“, also absägen – eine fürchterliche Tortur in damaliger Zeit. Zwischenzeitlich war er dem Tod nahe, rief aber den heiligen Petrus an, und am nächsten Tag ging es ihm wieder etwas besser (BP 3). Auf dem langen Krankenlager begann für ihn ein Weg der inneren Umkehr.
Durch den Bruch völlig aus der Bahn geworfen, entstand in ihm eine äußere und innere Leere. In den Monaten des Nichtstuns war er vor die Alternative gestellt: Er könnte sich mit Ablenkungen zerstreuen, die inneren Nöte überspielen und alles daransetzen, möglichst bald in sein altes Leben zurückzukehren, um dieses mit neuer Kraft weiterzuführen. Oder er könnte die Leere aushalten und Neues in sich und in seiner Umgebung suchen und finden, um dann zu neuen Ufern aufzubrechen. Der Bruch war ihm von außen zugefügt worden – die Entscheidung, was er aus ihm machen würde, musste er selbst treffen und verantworten. Die moderne Frage, warum Gott einen solchen