Ingo Rose

Der blaue Vorhang


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hatte? War es ihr und den anderen nicht bestimmt, zueinanderzustehen und beieinanderzubleiben, um aus der Gemeinsamkeit Erleuchtung zu gewinnen? Die Nähe des Clans fühlte sich warm an, und Wärme war eine Form der Energie, die Isadora für die Regsamkeit, die Geschmeidigkeit und die Grazie ihrer Glieder vor allem brauchte. Sie traf sich noch einmal, zum Abschied, mit Karl Federn, schrieb Briefe an Mary Desti, Charles Noufflard und Oscar Beregi. Dann packte sie ihre Tuniken, die Chitone und die blauen Vorhänge ein. Das Herz hüpfte ihr bei der Vorstellung, auf der Akropolis zu tanzen.

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      Raymond Duncan nahm es sehr ernst mit dem einfachen Leben. Er war Vegetarier, trug sommers wie winters offene Sandalen, die er selbst herzustellen gelernt hatte, außerdem schlichte Gewänder aus Wolle, die er zum Teil selbst spann, und er lehnte die Eisenbahn als roh, laut und stinkend ab. Doch Mutter und Schwestern konnten ihn überreden, von einer Reise zu Fuß, die ihm am liebsten gewesen wäre, abzusehen. Die Eisenbahn war nicht ganz zu vermeiden, doch wo immer es möglich sei, wolle man wandernd oder in Kutschen und Booten zum Lande der Verheißung vordringen. Von Venedig aus ging es über die Adria auf die griechischen Inseln zu, immer auf den Spuren des Odysseus, so weit sich diese anhand des Homer nachvollziehen ließen. Hier kam es zu ersten Enttäuschungen bezüglich der Mentalität und des Wissensstandes zeitgenössischer Griechen: die jungen Bootsführer wussten gar nichts von der Odyssee und dem Trojanischen Krieg und belächelten die ›griechischen‹ Gewänder ihrer Passagiere. Überhaupt war die Verständigung schwierig. Trotz seiner Nähe zur Antike hatte der Duncan-Clan es versäumt, Griechisch zu lernen, und unter den Bewohnern des Gelobten Landes war das Englische nicht eben verbreitet. Doch die Sprachschwierigkeiten fochten die Duncans nicht an. »Der Tanz ist elementar. Er ist die Sprache, die jeder versteht«, sagte Isadora. Als die fünf in Karvasaras (Amfilochia) an Land gingen und entzückt niederknieten, um den griechischen Boden zu küssen, sahen die Bootsmänner und die Leute am Strand einander höchst verwundert an. Man hatte ja schon manches von der anderen Seite des offenen Meeres, von Amerika, gehört, aber so verrückt hatte man sich die Einwohner dann doch nicht vorgestellt.

      Die Duncans lösten ein, was sie bei ihrem ersten Landgang an Verrücktheit versprachen. Sie waren so erfüllt von der gefühlten spirituellen Verwandtschaft mit den alten Griechen, dass sie ihre Idole, die Gottheiten Zeus und Athene, Apoll und Aphrodite, die Helden Odysseus und Agamemnon, die Dramatiker Aischylos, Sophokles und Euripides zum Berühren nahe fühlten und ihnen in ihrer Einbildung tatsächlich begegneten. »Das schneebedeckte Haupt des Olymp tauchte auf«, schrieb Isadora, »dann wieder umgaben uns die tanzenden Nymphen der Olivenhaine. Manchmal gerieten wir in eine derartige Erregung, dass wir uns umarmten und in Tränen ausbrachen. Die schwerfälligen Bauern an den Bahnhöfen beäugten uns voller Erstaunen, sie hielten uns wohl für betrunken. Und doch war es nichts als der Ausdruck unserer Begeisterung bei der Suche nach höchster Weisheit – nach den blauen Augen der Pallas Athene.« In diesem Zustand der Verzückung beschloss die Familie, für immer in Griechenland zu bleiben. Leben, beten und tanzen wollten sie in einem eigens zu erbauenden Tempel – möglichst nah bei der Akropolis, und mindestens auf gleicher Höhe. Es gelang ihnen in der Tat, einen passenden Hügel zu finden, von dem aus die Akropolis zu erblicken war, und sie erkundigten sich nach dem Kaufpreis des Geländes. Die Anhöhe Kopanos gehörte seit Menschengedenken fünf Bauernfamilien, die sie, kahl und öde wie sie war, für wertlos hielten. Das Interesse der seltsamen Ausländer trieb den Preis in die Höhe, und die Duncans mussten tief in die Tasche greifen, um das Land zu erwerben. Sie taten es gleichwohl und begannen sogar mit einem Tempelbau, sie schleppten das Gestein den Berg hinauf und arbeiteten im Verein mit örtlichen Maurern, die sie zu bezahlen hatten, Tag und Nacht, wobei sie zwischendurch im Mondschein tanzten. So ging es weiter, bis sich herausstellte, dass es auf dem Kopanos kein Wasser gab, er also als Ort für eine Besiedlung untauglich war. Raymond bohrte lange weiter in der trockenen Erde, in der verzweifelten Hoffnung auf eine Quelle, aber es war nichts zu machen. Der Clan musste zudem einsehen, dass die Kosten seines Vorhabens die verfügbaren Mittel weit überstiegen, und so ließen sie die Maurerkellen sinken und zogen weiter nach Athen.

      Dort tanzte Isadora hingebungsvoll auf dem Berg über der Stadt, wo die große Tempelanlage noch in alter, wenn auch stark angeschlagener Pracht zu besichtigen war.

      »Mit dem Parthenon hatten wir den Gipfel der Vollendung erschaut. Es schien mir, dass der Geist, den ich suchte, die unsichtbare Göttin Athene war, die noch immer die Ruinen des Parthenon bewohnte.« Um Kontakt zu den Athenern zu finden, wandten sich die Duncans an die Universität, wo es unter den Studenten einige gab, die gleichfalls für die Antike schwärmten und über Isadora in der Zeitung gelesen hatten und die bereit waren, der Tänzerin aus dem fernen Amerika Auftrittsmöglichkeiten in örtlichen Theatern zu verschaffen. Einen solchen Tanz hatte man im neuzeitlichen Athen noch nie gesehen, und schnell verbreitete sich der Ruhm Isadoras bis in die höchsten Kreise. König Georg I. selbst kam mit Gefolge, um eine Vorstellung anzusehen, aber hier sprang der Funke nicht über. Seine Majestät applaudierte respektvoll, doch ohne echtes Hochgefühl. »Ich spürte sofort, dass er kein Verständnis für meine Kunst aufbrachte. Für königliche Herrschaften dürfte das konventionelle Ballett auch in Zukunft der Tanz schlechthin bleiben.«

      Die Herbergen in Griechenland waren schlicht, aber unsere Pilger bereit, mit kaltem Wasser und frugalen Mahlzeiten vorliebzunehmen, suchten sie doch vor allem Nahrung für den Geist. Eines Tages kam Augustin von der Poststelle mit rotem Gesicht und zitternden Händen heim.

      »Ich muss euch gestehen«, rief er in die Runde, »dass ich es ohne meine liebste Frau und das Kind nicht länger aushalte. Wir haben korrespondiert. Sarah will mit unsrer Tochter zu uns stoßen. Was meint ihr?«

      Elizabeth sah ihre Mutter an, Isadoras Blick suchte Raymonds. Niemand sprach. Augustin vergrub sein Gesicht in den Händen. Da sagte Isadora:

      »Wird sie sich bei uns aufgehoben fühlen? Du weißt, wir sind hier nicht im Urlaub. Wir haben eine Mission.«

      »Wenn Sarah«, meldete sich die Mutter, »ihren Mann vermisst und kommen will, dann ist es für uns eine menschliche Pflicht, sie aufzunehmen. Man kann später immer noch sehen –«

      »Wir alle«, unterbrach Isadora, »haben dich gewarnt, Augustin! Eine Eheschließung ist für uns nicht hinnehmbar. Ich selbst stand vor der Frage einst … Meine Entscheidung war klar. Die Kunst darf keinen Rivalen haben in Gestalt eines Ehegespons.«

      Augustins Hände zitterten immer noch. Er stand auf und sagte:

      »Dann werde ich euch verlassen müssen. Es ist mir zutiefst … Ich kann nicht …« Er stammelte noch dies und das und wollte davonlaufen, aber Raymond hielt ihn auf.

      »Mutter hat recht. So leidenschaftlich wir auch hier die Götter suchen – das Menschliche darf dabei nicht verloren gehen. Telegrafiere ihr, sie soll sich auf den Weg machen.« Raymond hatte seinen eigenen besonderen Grund, dem Bruder entgegenzukommen. Er war verliebt in eine schöne Griechin. Sie war Sängerin und hieß Penelope.

      Einige Wochen später wuchs dann der Duncan-Clan um zwei weitere Personen an. Isadora bewog die Schwägerin, ihr französisches Kostüm abzulegen und in einen luftigen Chiton zu schlüpfen. Der fünfjährigen Tochter namens Temple zeigte sie, wie man tanzt, und fand in der Kleinen eine eifrige Schülerin. Elizabeth nahm Sarah unter ihre Fittiche und machte mit ihr einen Ausflug nach Kopanos. Dort lagen die Grundmauern des Duncan-Tempels in der Sonne wie eine antike Ruine. »Wer weiß«, sagte Elizabeth, »vielleicht bauen wir unser griechisches Haus irgendwann doch noch zu Ende.«

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      Auch in Athen gab es Museen, Isadora sah sich in ihnen um. Was sie aber wirklich faszinierte, waren die byzantinischen Kirchen und die orthodoxen Gottesdienste mit ihren wundervollen Gesängen. In dieser geistlichen Musik verberge sich, meinte sie, das Erbe der griechischen Chöre. Sie war immer schon davon ausgegangen, dass der Chor, den es in der griechischen Tragödie gibt, nicht wie in den zeitgenössischen Inszenierungen einfach nur seinen Text hinausposaunt hat, sondern dass diese Texte ursprünglich gesungen worden waren. Nun wusste oder ahnte sie, wie das geklungen hatte. An der Universität war ihr ein junger