Andreas Malm

Der Fortschritt dieses Sturms


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sich das Material zu Kohle, überwiegend während des Karbons vor etwa 286 bis 360 Millionen Jahren, als noch kein Mensch bei dem Prozess überhaupt hätte behilflich sein können. Kohle in einem Dschungel Borneos zu entdecken bedeutet also, eine Passage zu dieser Vergangenheit zu öffnen und das in unsere Zeit zu holen, was nicht von Menschenhand geschaffen wurde. Das Gleiche gilt für die Gewinnung jedes bisschen aus den Eingeweiden unseres Planeten geborgenen fossilen Brennstoffs.39

      Dermaßen einfach – so einfach, dass sich der Spott geradezu aufdrängt, aber so ist sie nun mal, die Beschaffenheit dieser Theorie – lässt sich zeigen, dass der buchstäbliche Konstruktionismus empirisch falsch ist. Fossile Brennstoffe stellen in unserer Umwelt keine Kleinigkeit dar; ebenso wenig die Sonne, die Erdkruste, der Sauerstoff, das Element des Feuers … Man müsste schon einiges an Wortklauberei auffahren, um zu beweisen, dass etwas davon in irgendeinem Sinne vom Menschen »konstruiert« oder »gebaut« wurde, konstituieren doch gerade diese Dinge die Mise en Scène und Conditio sine qua non und was weiß ich noch alles der sich erwärmenden Welt. Die einzige Möglichkeit, den Konstruktionismus davor in Schutz zu nehmen, wäre es, auf eine Extremvariante der puristischen Definition zu bestehen: Bei jeglichem Kontakt mit den Menschen – sei es, auf sie zu fallen, sie zu tragen oder ihre Lungen zu durchströmen – würden dann Sonneneinstrahlung und Sedimentgesteine, Luft und alles andere auf magische Weise zu deren Produkten. Und wenn Vogel von »Bauten« und »Konstruktion« spricht, wirkt es, als setzte er eine derartige Metamorphose tatsächlich voraus. Etwas zu affizieren hieße dann, es zu bauen. »Es gibt nichts, was wir tun, das die Umwelt nicht irgendwie verändert und also baut«, behauptet Vogel in einer großzügigen Ausdehnung des Begriffs.40 So verwendet, wäre es mir möglich, rechtmäßig zu behaupten, eine Pyramide in Gizeh allein mittels Skalierung und schwarzer Farbe gebaut zu haben.

      Sobald der Mensch mit einer Landschaft in Berührung komme, verändere er diese zwangsläufig; indem er sie verändere, baue er sie; insofern habe der Mensch jedwede Landschaften gebaut (und logischerweise sollte das auch für den Mond und den Mars und alle weiteren Himmelskörper gelten). Der offensichtliche Schwachpunkt dieses Syllogismus, der doch das ganze Argument stützt, besteht in dem Gebrauch des Wortes »Bauen« als Synonym für »Affekt« oder »Veränderung«. Vogel verteidigt die Gleichsetzung dieser Wörter, indem er beteuert, »etwas zu bauen heißt, ein Material ›zu affizieren‹ und es dadurch in etwas Neues umzuwandeln – Holz in ein Bücherregal, Ton in ein Gefäß, Silikon in einen Speicherchip«.41 Gewiss, wobei gerade das keineswegs auf dem Spiel steht. Schneide ich Holz zurecht und gestalte damit ein Bücherregal, habe ich dieses Bücherregal zweifellos gebaut – wenn ich jedoch einen Zweig vom Baum absäge, habe ich diesen Baum dann ebenso gebaut? Darauf läuft Vogels Argumentation hinaus: Nicht indem man etwas baue, affiziere man Materie, sondern indem man Materie affiziere, baue man sie. Im allgemeinen Sprachgebrauch meint man mit diesem Wort etwas anderes. Würden wir uns Vogels vorgeschlagener Neudefinition anschließen, hätte dies enorme Konsequenzen: Schauen Sie sich die Markierung an, die ich in meiner Wohnung hinterlassen habe – sehen Sie, ich bin es, der diese Eigentumswohnung gebaut hat. Oder wie Val Plumwood angemerkt hat: Ich affiziere die mir nahestehenden Personen, verändere ihre Leben tatsächlich durch und durch; folglich könnte ich behaupten, sie gebaut, produziert oder konstruiert zu haben.42 An dieser Stelle läuft der Konstruktionismus wahrlich völlig aus dem Ruder.

      Was bedeutet es also, etwas gebaut oder produziert – buchstäblich konstruiert – zu haben? Auch diesmal liefert Kate Soper die überzeugendste Antwort: Das ausschlaggebende Kriterium bestehe darin, »ein Produkt einzuführen, das zuvor noch nicht existiert hat«.43 Wenn wir davon sprechen, dass der Pharao Cheops die Große Pyramide von Gizeh erbaut hat, wollen wir damit ausdrücken, dass es sie zunächst nicht gab und es dieser Mann war, der vor etwa 4600 Jahren einen Konstruktionsprozess in die Wege leitete, der das Bauwerk an genau jener Stelle hervorbrachte, an der es auch heute noch steht. Es ist die menschliche Erbauerin, die eine Entität hervorbringt. So etwas wie eine Uhr oder ein Computer werden durchaus gebaut oder produziert, schließlich verdanken sie ihre Existenz menschlichen Handlungen – indem sie ausgewählte Materialien auf eine bestimmte Art affizieren, erschaffen die Menschen diese Dinge de novo –, Kohle und Ozeane und der Kohlenstoffzyklus fallen jedoch in eine andere Kategorie. Und mit dem Klima verhält es sich allem Anschein nach ähnlich. Denn die Erde wies ein Klima auf, lange bevor sie überhaupt Menschen aufwies.

       WAS KONSTRUIERT IST UND WAS NICHT

      In der Tat sollte die Konstruktionsmetapher beim Wort genommen werden: Wenn man etwas baut, verändert oder affiziert man es nicht nur, sondern man ruft das Bauwerk ins Leben.44 Paradoxerweise stellt Bauen jedoch genau jene menschliche Praxis dar, um die herum Vogel seine Argumentation errichtet, ohne sie auch nur im Ansatz zu begreifen. Besser wäre es also, sich William H. Sewell zuzuwenden, der den wahren Nutzen der Metapher in seinem Buch Logics of History. Social Theory and Social Transformation präzise schildert. Im Gegensatz zu dem für die Postmoderne so charakteristischen synchronen Denken

      impliziert die Konstruktionsmetapher eine ganz andere, durchaus diachrone Zeitlichkeit. Konstruktion ist ein Substantiv, das aus einem Verb gebildet wird; es bezeichnet einen Prozess des Bauens, der von menschlichen Akteuren vollzogen wird und sich über einen Zeitraum erstreckt. (Rom, wie das Sprichwort besagt, wurde nicht an einem Tag erbaut.) Die gesellschaftliche oder kulturelle Konstruktion von Bedeutung ist implizit also auch ein zeitlich ausgedehnter Prozess, der die kontinuierliche Arbeit menschlicher Akteure erfordert. Zudem setzt soziale Konstruktion voraus, dass, sobald eine Bedeutung aufgebaut worden ist, sie stark dazu tendiert, auf Dauer bestehen zu bleiben: Sozial konstruierte Geschlechterverhältnisse oder wissenschaftliche Wahrheiten werden oftmals naturalisiert, akzeptiert und zu beständigen Eigenschaften der Welt, im gleichen Maße wie einmal gebaute Gebäude als beständige Eigenschaften der physischen Umwelt fortbestehen.45

      In keinem Sinn würde das Klima die Voraussetzung für diese Art von Metapher erfüllen – die fossile Ökonomie hingegen mit Bravour.46

      Soll der Begriff »soziale Konstruktion« sinntragend sein, muss er laut Ian Hackings Was heißt »soziale Konstruktion«? auf ein X Bezug nehmen, das »infolge einer Reihe sozialer Ereignisse« entstanden ist. Eine Konstruktionistin nimmt normalerweise an, das fragliche X »hätte nicht existieren müssen«, wären diese Ereignisse nicht eingetreten.47 Überträgt man diese Überzeugung auf den Bereich der Natur, erscheint sie in höchstem Maß absurd. Drei Erzählstränge verfügen jedoch über das Potenzial, den buchstäblichen Konstruktionismus in intelligible Aussagen zu transformieren. Erstens: Die Menschen wurden auf einen leeren Planeten (oder in ein leeres Universum) gebeamt, wo sie in der Rolle der göttlichen, nicht-produzierten Produzent:innen die Natur von Grund auf konstruierten. In diesem Fall würde es tatsächlich den Anschein haben, dass das X mittels sozialer Ereignisse entstanden ist. (Die Frage, woher die Rohstoffe stammen sollten, bliebe freilich unbeantwortet.) Zweitens: Die Menschen gingen aus einer bereits vorhandenen Natur hervor, doch in dem Moment, da sie auftauchten und anfingen, auf dem Planeten umherzustreifen, annullierten sie sie. Von dieser Glanzleistung beflügelt, gingen sie dazu über, jedwede Umwelt auf der Erde zu bauen. Dies entspricht Vogels Logik, die ein paar Fragen aufwirft, etwa, wie die Menschen zugleich direkte Nachkommen als auch augenblickliche Beseitiger:innen der Natur sein könnten (ein allein auf Basis der puristischen Definition nachvollziehbarer Handlungsstrang). Oder drittens: Lange Zeit lebten die Menschen inmitten der bereits vorhandenen Natur, und erst in den letzten Jahren haben sie einen dermaßen schädlichen und tiefgreifenden Einfluss darauf ausgeübt, dass die Natur nicht mehr als das gelten kann, was sie einst war. Das gleicht eher einer der Konstruktion gegenläufigen Aktivität – der Destruktion –, jedoch lässt diese Erzählung die Erde und alles auf ihr zumindest zum Ergebnis sozialer Ereignisse werden. Sogleich tauchen aber andere Fragen auf. Wenn die Natur durch den jüngsten menschlichen Einfluss – sprich: anthropogener Klimawandel – an ihr Ende gelangt ist, welche Mächte und kausalen Kräfte bestimmen dann die möglichen Formen, die dieser Einfluss annehmen kann? Woher stammen sie? Wurden die Kanäle, in welche die CO2-Emissionen eingespeist werden, soeben erst von den Menschen erbaut?

      Die Absurdität erstreckt