Sommer 1944 hatte das »Sondereinsatzkommando Eichmann« mit maßgeblicher Hilfe der ungarischen Gendarmerie innerhalb von acht Wochen 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert. Kasztner war es durch Verhandlungen gelungen, im Juni 1944 einen Zug mit circa 1700 Juden außer Landes zu bringen. Über das Lager Bergen-Belsen gelangten die Insassen des »Kasztner-Zugs« im August und im Dezember 1944 in die Schweiz. Unter den Geretteten waren auch Familienangehörige Kasztners aus seinem Heimatort Klausenburg (Cluj/Kolozsvár).
Der seinerzeitige Generalstaatsanwalt Chaim Coh(e)n wollte mit einer Klage gegen den Pamphletisten die Sache richterlich aufklären lassen. Er war der Ansicht, entweder müsse Kasztner im Fall der Richtigkeit der vorgebrachten Anschuldigungen nach dem Gesetz gegen Nazis und Nazihelfer als Kollaborateur belangt werden. Oder aber Gruenwald habe im Fall der richterlich festgestellten Verleumdung eines ehrenwerten und untadeligen Staatsdieners und einstigen Judenretters die rechtlichen Folgen zu tragen.11
Der gegen den Willen Kasztners von Coh(e)n angestrengte Prozess hatte fatale Folgen. Halevi sprach in dem turbulenten Verfahren den Angeklagten von den Anklagepunkten der Verleumdung und der üblen Nachrede frei. Hinsichtlich der Anwürfe Gruenwalds meinte er, Kasztner habe bei seinen Verhandlungen mit der SS »seine Seele dem Teufel verkauft«.12 Mit der schwerlich juristisch zu nennenden Bezeichnung »Teufel« meinte Halevi Kasztners Hauptverhandlungspartner Eichmann.13 Überdies nannte er den Gegenspieler Kasztners einen »Bloodhound«.14
Äußerst nahe lag daher, Halevi im zu führenden Verfahren gegen Eichmann als voreingenommen und befangen zu betrachten. Zumindest musste befürchtet werden, dass der Angeklagte Eichmann und sein Verteidiger gegenüber einem Vorsitzenden Halevi diese Besorgnis vorbringen und ihn deshalb ablehnen würden. Alle Versuche, Halevi von seinem Vorhaben abzubringen, den Vorsitz übernehmen zu wollen, scheiterten. Die Verantwortlichen entschieden sich in ihrer misslichen Lage für einen rechtsstaatlich freilich bedenklichen Schritt. Sie änderten kurzerhand das Gerichtsgesetz, um Halevi zu verhindern. Nach dem neuen Gesetz bestimmte der Präsident des Obersten Gerichtshofs den Vorsitzenden Richter. Er musste dem Obersten Gerichtshof angehören. Im Fall der Ernennung der beiden Beisitzer blieb es bei der alten Regelung. Sie sollten weiterhin Bezirksrichter sein.
Doch nicht allein die in Zweifel gezogene Unparteilichkeit Halevis war der Grund für die flugse Gesetzesänderung. Mit seinem Urteil im Gruenwald-Verfahren, das im Grunde eine moralische Verurteilung Kasztners gewesen war, hatte sich der Jurist bei der Regierung Ben Gurion unliebsam gemacht. Unter seinem Vorsitz war »das Verfahren zu einer Anklage gegen die politische Führung des vorstaatlichen Jischuw in der Zeit des Holocaust geworden, die jetzt, rund zehn Jahre danach, identisch mit der Staatsführung war«.15 Halevi hatte sich mit seiner Gerichtsentscheidung auf die Seite der politischen Gegner des Ministerpräsidenten geschlagen. Ein in den Augen Ben Gurions derart politisch unzuverlässiger Richter durfte im so überaus wichtigen Eichmann-Fall keinesfalls den Vorsitz übernehmen. Ins Gewicht fiel auch, dass der Oberste Gerichtshof 1958 Halevis Urteil aufgehoben und Kasztner rehabilitiert hatte. Dieser konnte sich der Wiederherstellung seines guten Rufs nicht mehr erfreuen. Ein Jahr vor der Entscheidung des Supreme Court war er von einem Extremisten ermordet worden.16
In der gleichsam offiziellen Darstellung der Rechtsgrundlagen des Eichmann-Prozesses von Nathan Cohen, für die deutsche Leserschaft geschrieben, ist von den politischen Hintergründen des neuen Gesetzes mit keinem Wort die Rede. Eine Begründung, warum das Gesetz geschaffen und die bisherige Justizpraxis geändert wurde, gibt Cohen nicht. Lapidar heißt es bei ihm: »Unter den wichtigsten Paragraphen« des »Gerichtsgesetzes (Vergehen, die die Todesstrafe zur Folge haben)« befindet sich »der Paragraph, der festlegt, daß der Gerichtsvorsitzende in derartigen Fällen aus dem Richterkollegium des Obersten Gerichtshofes gewählt wird, während die zwei anderen Richter Distriktsrichter sein müssen.«17 Auch Generalstaatsanwalt Gideon Hausner (1915–1990), Chefankläger im Eichmann-Prozess, liefert in seinem Buch über das Verfahren eine irreführende Darstellung. Er verschweigt sogar, dass das Verfahrensrecht geändert worden ist. Bei ihm ist zu lesen: »Die Zusammensetzung des Gerichts wurde bekanntgegeben. Entsprechend der Prozeßordnung für die wenigen Vergehen, auf welche in Israel als Höchststrafe der Tod steht […], mußte bei der Verhandlung ein Richter des Obersten Gerichtshofs den Vorsitz übernehmen.«18
Das neue Gesetz schaltete, wie gesagt, den umstrittenen Halevi nicht gänzlich aus. Als Bezirksgerichtspräsident konnte er die beiden Beisitzer bestimmen. Gegen den Rat von Kollegen ernannte er sich selbst. Seinen Tel Aviver Kollegen Itzak Raveh (1906–1989) zog er bei. Die Befürchtung, Halevi könnte wegen seines Gruenwald-Urteils von Eichmanns Verteidiger Servatius abgelehnt werden, bestätigte sich nicht. Die Verteidigung hielt das gesamte Gericht für befangen, weil die Richter Juden waren.
»Lex Kaul«
Den politischen Ambitionen von Friedrich Karl Kaul, dem Kronjuristen der SED, der in Jerusalem als Vertreter von Nebenklägern aufzutreten gedachte, schob der israelische Gesetzgeber gleichfalls einen Riegel vor. Zivile Nebenkläger wurden nicht zugelassen, das Gesetz ermöglichte ihnen jedoch, im Rahmen eines getrennten Verfahrens zu klagen. Kaul, der sein Ersuchen zunächst schriftlich vorgetragen hatte und später mit Israels Justizminister Pinchas Rosen und Generalstaatsanwalt Gideon Hausner eine Besprechung führte, musste sich mit der Rolle des Beobachters begnügen.19 Der Anwalt übergab der Anklagevertretung Dokumente und benannte zwei Überlebende aus der DDR, die als Zeugen geladen werden sollten. Die Anklagevertretung verzichtete jedoch auf sie. Kaul wurde auch anderweitig aktiv. Auf einer Pressekonferenz gab er vor, die Hauptschuldigen für den Holocaust in Bonn ausgemacht zu haben. Nicht nur Kaul, auch Rechtsanwalt Shmuel Tamir sollte daran gehindert werden, als Nebenklagevertreter zu agieren.20 Tamir war Malkiel Gruenwalds Anwalt gewesen und verfolgte eine politische Agenda, die der Regierung missfiel.
Arendts Prozessbeobachtung
Der »Reporter at large«1 Arendt konnte sich in den von ihr besuchten Gerichtssitzungen schwerlich ein rechtes Bild von dem Angeklagten machen. Nach der Verlesung der Anklageschrift2 durch den Vorsitzenden Richter Moshe Landau (1912–2011) wurde über Anträge der Verteidigung verhandelt und über Verfahrensfragen gestritten.
Unverständlicherweise monierte Arendt bereits nach vier Sitzungen den nach dem geltenden Gerichtsgesetz wohl unvermeidlichen Umstand, dass die Gerichtssprache Hebräisch war.3 Das Eröffnungsplädoyer4 von Generalstaatsanwalt Hausner, während dreier Sitzungen mit rhetorischem Aufwand vorgetragen, zeichnete allerdings kein angemessenes Bild von Tun und Lassen Eichmanns, den Arendt für einen »desk murderer par excellence«5, Hausner hingegen für den zentralen, allmächtigen Akteur der »Endlösung« hielt.6
Den nachfolgenden Vernehmungen, zunächst von zwei Angehörigen der Israel-Polizei7 und einem Historiker (Salo Baron), sodann von sogenannten »Hintergrundzeugen« (EJ, S. 269) und Überlebenden, galt Arendts Interesse in geringem Maße. Kaum eine Vernehmung scheint sie beeindruckt zu haben. Eine der wenigen Ausnahmen war die Aussage von Zyndel Grynszpan (EJ, S. 271–273), dessen Sohn Herschel 1938 in Paris das Attentat auf den Botschaftsmitarbeiter Erich vom Rath verübt hatte.8 Nicht jede Sitzung scheint Arendt überdies im Gerichtssaal präsent gewesen zu sein.9 Am 5. Mai 1961, nach 17 im Gericht verbrachten Tagen, reiste sie recht unverrichteter Dinge ab.10 29 von insgesamt 121 Gerichtssitzungen11 (Sessions) hatte sie besucht und 38 von insgesamt 110 Zeugen12 gehört. Private Planungen hatten Vorrang gegenüber einer möglichen Fortsetzung der Prozessbeobachtung.13
Eichmann war bis zu Arendts Abreise noch nicht zu Wort gekommen. Sein bei jedem der 15 Anklagepunkte in der 6. Gerichtssitzung vorgetragener Satz »Im Sinne der Anklage nicht schuldig«14 war die längste Verlautbarung des strammstehenden Angeklagten im Glaskasten.15 Vom Tonband des Polizeiverhörs war er allerdings während der Vernehmung von Avner Werner Less (1916–1987) ausführlich zu hören gewesen.16
Eichmann kam erst nach dem Ende der Beweisaufnahme ausführlich zu Wort.17 Seine Befragung im Zeugenstand durch seinen Verteidiger