Es sich überall „schön“ machen zu können und Bestehendes zu nutzen. | In Extremsituationen ruhig und super fokussiert zu werden und damit alle Energie auf das Wesentliche zu richten. |
Als Aspiranten werden diejenigen verstanden, die sich darum bewerben, auf Wanderschaft zu gehen. „Tippeler auf Probe“ könnte man sagen. Denn während der Aspirantenzeit werden sie häufig von den Meistern auf Herz und Nieren geprüft. Erst dann dürfen sie losziehen. Natürlich müssen wir uns bei niemandem darum bewerben, auf Moderne Walz zu gehen. Die Erlaubnis zu diesem Abenteuer geben wir uns selbst.
Wir beschließen, unsere Hamburger Wohnung komplett aufzugeben und zum Antritt der Reise wohnungslos zu sein. Wir hätten also keinen Ort, an den wir zurückkommen könnten. Wenn schon Abenteuer, dann auch richtig!
Da wir beim Einzug zwei Haushalte zusammengeführt haben, quillt unsere Wohnung ohnehin über. Im Laufe eines Jahres machen wir regelmäßig Inventur und stoßen dabei auf die Marie-Kondo-Methode. Die zierliche Japanerin hat mittlerweile eine eigene Netflix-Serie übers Aussortieren. Sie empfiehlt, jeden Gegenstand in die Hand zu nehmen und sich dabei zu fragen, ob er einen noch glücklich macht. Wahnsinnig charmant. In diesem Jahr haben wir so viel wie nie zuvor in unserem Leben aufgeräumt: Wir haben auf diversen Flohmärkten in Hamburg in bester Fischmarkt-Manier Bücher, Kleidung und Einrichtungsgegenstände feilgeboten. Ein Riesenspaß!
Wir haben aber auch Nützliches und Liebgewonnenes wie Nils’ Spiegelreflexkamera oder Annas Harry-Potter-Sammelbände verkauft. Dabei haben wir uns zu wahren ebay-Profis entwickelt. Emsig beantworten wir Fragen der Nutzer, geben Infos zu unseren Angeboten, feilschen um den Preis und schnüren Pakete. Das Beste daran sind aber die Begegnungen mit den Käufern zwischen Tür und Angel. Häufig enden die Gespräche damit, dass wir Reisetipps oder einen Kontakt zu einem Bekannten erhalten. Mehrmals stecken sie uns einen Obolus zu – für eine Kava in Sarajevo oder ein Weinchen in Ljubljana. Augenzwinkernd weht uns so schon jetzt ein erstes Reisewindchen um die Nase und mit ihm der Geruch nach Freiheit.
Als Freireisende werden diejenigen bezeichnet, die ungebunden gegenüber ihrer Handwerkervereinigung, also nichttraditionell, reisen. Dennoch bewahren sie Elemente der Walz – beispielsweise die Kluft. Da wir keiner Zunft für unsere Moderne Walz unterstehen, können wir die Modern Work Tour frei gestalten und uns miteinander auf dieses Abenteuer vorbereiten. Besonders eindrücklich wird das für uns, als wir das Auto, mit dem wir Philipp mitgenommen haben, an Annas Eltern zurückgeben. Bis heute haben wir uns keinen neuen Wagen angeschafft und vermissen das silberne VW Golf Cabriolet nur in seltenen Momenten. Auf der Walz soll man möglichst ungebunden sein – früher hieß das, ledig, kinderlos und vor allem schuldenfrei zu sein. Die Wanderschaft sollte nicht genutzt werden, um sich vor Verantwortungen zu drücken oder zu flüchten. Freiheit sollte dadurch entstehen, in eine Bestandsaufnahme zu gehen und die eigenen Angelegenheiten vor der Abreise zu klären – ein herrliches Konzept, um sich reisebereit zu machen.
Eine Zeit über den eigenen Tellerrand hinaus
Auf der Walz dürfen die Freireisenden ihrem Heimatort in der Regel nicht näher als 50 Kilometer kommen. Sie müssen sich an den sogenannten Bannkreis halten. Bannkreis – kein besonders schönes Wort, denn es verbannt einen im wahrsten Sinne während der Wanderschaft aus der eigenen Heimat. Für uns macht das Konzept des Bannkreises wenig Sinn, da wir nicht vorhaben, uns lange in Deutschland aufzuhalten. Schließlich wollen wir auf eine weltweite Suche nach Moderner Arbeit gehen. Sich aber bewusst als Fremde auf Abenteuer zu begeben, reizt uns sehr. Das heißt für uns, sich eine „Zeit über den Tellerrand hinaus“ zu nehmen, die erst einmal kein Enddatum hat. Es wird ohnehin die bisher längste Zeit weg von daheim für uns werden, was uns erquickt und unsere Familien schwer schlucken lässt.
Auf der Modern Work Tour selbst haben wir dann eine „Tellerrandzeit“ von höchstens zwei Monaten an einem Ort oder in einem Land festgelegt. Wie heißt es so schön: „Wenn der Postbote grüßt und der Nachbarshund nicht mehr bellt, wird es Zeit zum Weiterreisen.“ Auf Tippelei soll – wie Hannes Wader singt – ein gepflegtes „Heute hier, morgen dort“ gelebt werden, das es uns ermöglicht, in fremde Kulturen einzutauchen, sich aber nicht in ihnen zu verlieren. Auf unserer Modernen Walz sind wir nur in China und auf den Philippinen zwei Monate geblieben. In China verfliegt die Zeit so rasant, dass wir es kaum merken; auf den Philippinen bleiben wir unfreiwillig länger als gewollt hängen.
Der Brauch des Vorsprechens
Der Brauch des Vorsprechens hat uns eine Idee dazu gegeben, wie wir auf der Modern Work Tour Kontakte knüpfen können. Denn uns wird bewusst, dass wir uns in den einzelnen Ländern vernetzen müssen. Den Freireisenden ist es auf Wanderschaft nicht erlaubt, in jeder Stadt oder jedem Dorf ungefragt Arbeit anzunehmen. Deswegen sind sie dazu verpflichtet, bei den jeweiligen Stadtvertretern vorstellig zu werden. Das Ritual des Vorsprechens und was genau dabei gesagt wird, ist ein streng gehütetes Geheimnis. Damit soll sichergestellt werden, dass die Arbeit auch von einem „echten“ Handwerker ausgeübt wird und das Privileg nicht missbraucht werden kann.
In Kunming (China) klappt die Kontaktaufnahme nur mit der Unterstützung unserer kuscheligen HelferInnen in der Airbnb.
Ach, hätten wir gerne ein vorgeschriebenes Codewort oder Sprüchlein gehabt! Das hätte uns als „ehrbare Arbeitsabenteurer“ ausgewiesen und uns einen sehr viel leichteren Zugang in den jeweiligen Ländern verschafft. Ohne ein solches Zauberwort hieß das für uns allerdings viel harte und ernüchternde Arbeit – nämlich viel, sehr viel Kaltakquise. Denn zu diesem Zeitpunkt haben wir kein aktives Netzwerk in den meisten Ländern. Oder kennst du etwa Menschen in Georgien, Kirgistan oder Uganda?
Drei Stufen der Kontaktaufnahme
Wenn schon kein Sprüchlein, so haben wir in der Planung und Vorbereitung drei Stufen des Vorsprechens entwickelt. Auf diese Weise sind wir an unsere Treffen und Aufträge gelangt, womit sich die Modern Work Tour erst geformt hat.
1.UNSER NETZWERK. Wir suchen in unserem eigenen Netzwerk, ob wir bereits Kontakte in den Ländern haben, in die wir reisen wollen. Dabei stellen wir erfreut und teilweise überrascht fest, dass unser Bekanntenkreis internationaler ist als gedacht. So erhalten wir beispielsweise die Gelegenheit, bei einer ehemaligen Arbeitskollegin von Nils in Shanghai zu wohnen. Weiter fragen wir aktiv unser Netzwerk nach Kontakten in den jeweiligen Ländern. Dadurch potenziert sich die Möglichkeit, auf spannende Unternehmen zu treffen. Das gelingt auch immer wieder – zum Beispiel beim American Institute of Architects in Hongkong. Mit regelmäßigen Posts und Visualisierungen auf LinkedIn und Twitter zeigen wir unserer Community, für welche Regionen wir derzeit in der Planung stecken, und fragen nach interessanten Kontakten.
2.DIE KALTAKQUISE. Zugegebenermaßen ist der Aufwand sehr groß und der Ertrag hingegen mickrig klein. Doch uns bleibt nichts anderes übrig! Für uns heißt das: tagelang über LinkedIn, Twitter, Angellist.io und weitere Websites proaktiv die Fühler auszustrecken und hartnäckig für unseren Wunsch einzustehen. Im chinesischen Kunming zum Beispiel haben wir fast zehn Tage lang Unternehmen, Hochschulen mit internationaler Ausrichtung und Menschen mit spannenden Rollen angeschrieben. Das Resultat war mehr als ernüchternd und unsere Laune schon bald tief im Keller. Wir sitzen dort bei schlechtem Wetter und schreiben von morgens bis abends Nachrichten ins Nichts – zumindest fühlt es sich so an.
Besonders in China sollten wir die Erfahrung machen, wie wichtig es ist, das richtige Tool zum Vernetzen zu verwenden. Gelernt haben wir hier, dass per Mail oder LinkedIn Message wenig bis gar nichts zu erreichen ist. Erst als wir uns nach einem Treffen in Shanghai bei WeChat registrieren, werden wir weiterempfohlen – und plötzlich gelingt die Vernetzung im Minutentakt. Wir gewöhnen uns hier so an das