Selbst Amazon bietet seine Online-Plattform gegen Gebühr auch für andere Händler an und kann so von deren Verkäufen mitprofitieren. Das Schöne dabei ist, dass Plattformen gut skalieren, das heißt, je mehr Leute daran teilnehmen und auf der Plattform vertreten sind, desto besser ist es für alle Beteiligten.
Disruptionen zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie einen Vorteil für die Kunden bringen und dadurch gegenüber dem klassischen Geschäftsmodell bevorzugt werden. Ein Blick in Wikipedia ist heute von überall aus möglich und die Informationen in dem Nachschlagewerk sind hochaktuell. Wer kauft da noch einen Brockhaus oder vergleichbare Lexika? Bei Netflix können Sie bequem vom heimischen Sofa aus den nächsten Blockbuster auf Ihren Fernseher holen, ohne dabei das Haus verlassen zu müssen. Wer braucht da noch eine Videothek? Über Amazon können Sie sich die neusten Waren per Knopfdruck bestellen und in vielen Gegenden werden sie Ihnen noch am gleichen Tag zugestellt. Wofür sollte man sich da den Stress antun und in die Stadt fahren?
Viele Unternehmen scheinen dann, wenn tatsächlich ein Disruptor erscheint, sehr überrascht zu sein. Hat Kodak die Digitalfotografie nicht kommen sehen? Doch, und Kodak war sogar aktiv an der Entwicklung beteiligt. Aber am Ende haben sie sich nicht getraut, ihr eigenes Geschäftsmodell – welches die klassische Filmfotografie betraf – anzugreifen. Und die menschliche Eigenart, Dinge, die Angst machen, einfach zu ignorieren oder herunterzuspielen, tat ihr übriges. Und so kam der Tag, an dem es zu spät war.
Heute belächeln noch viele Supermärkte die ersten Amazon-fresh-Transporter, die ganz vereinzelt durch die Straßen rollen. Das Angebot ist noch relativ klein und die Verbreitung ist auch noch nicht gegeben. Es stellt keine Konkurrenz für die Frischetheken im heimischen Supermarkt dar. Aber man sollte den Worten des Autors und Omnisophen Gunter Dueck Glauben schenken, wenn er in seinen Vorträgen immer wieder darauf hinweist: „Die üben nur!“2 Hier werden erst einmal Kenntnisse gesammelt. Und wenn das Geschäftsmodell vom Establishment dann irgendwann als Konkurrenz wahrgenommen wird, weil es plötzlich ausgereift ist, flächendeckend angeboten und auch genutzt wird, dann ist es für die schlafende Konkurrenz zu spät. Denn den Wissensvorsprung können sie kaum noch aufholen. Vielleicht stellt sich das Geschäftsmodell aber auch als nicht praktikabel heraus. Selbst dann hat Amazon einen Vorteil, denn sie haben daraus gelernt und können dieses Wissen verwenden, um ein besseres, tragfähigeres Geschäftsmodell zu finden.
Um diesem Schicksal zu entgehen, beginnen einige Unternehmen aktiv ihr Geschäftsmodell zu hinterfragen und im Optimalfall sogar selbst anzugreifen (Keese 2018). Somit bleiben sie auf Augenhöhe mit möglichen Angreifern und im Falle des Erfolgs ist man selbst an der Speerspitze mit daran beteiligt und kann davon profitieren. In vielen Fällen bilden sich dann kleine Einheiten, die zwar in irgendeiner Form noch an die Mutterorganisation angeschlossen sind, im Grunde aber sehr autark und losgelöst agieren. Diese Inkubatoren werden nicht durch die Prozesse und Regeln belastet, die das Mutterunternehmen so träge gemacht haben, sondern finden ähnliche Verhältnisse vor, wie die Start-ups, die als kleine, wendige und innovative Angreifer gesehen werden.
Dieses Mindset, sich nie allzu sicher zu fühlen und sein eigenes Geschäftsmodell anzugreifen (oder sogar zu Kannibalisieren), ist eine grundlegende Fähigkeit, die jeder Unternehmer mitbringen sollte: „Das Crossover, das Zusammenführen von Gegensätzlichem, wird zu einer Schlüsselfähigkeit für das 21. Jahrhundert“ (Mutius 2017).
Dabei entstehen neue Innovationen und Geschäftsfelder oftmals genau aus dem, was wir am Anfang anhand des Beispiels der Pommes Frites in dem kleinen Restaurant gesehen haben: durch Vernetzung. So wie das Smartphone Kommunikation und Entertainment zusammengebracht hat. Und man sieht einmal mehr, wie wichtig es ist, Gegensätze vereinen zu können. Auf der einen Seite ist man einem großen Marktdruck und einer sehr starken Konkurrenzsituation ausgesetzt, auf der anderen Seite sind Zusammenarbeit und Integration enorm wichtig geworden.
Die Frage für die Zukunft wird sein, wie sich die neuen technologischen Entwicklungen auswirken werden. Zum einen kann es nicht falsch sein, in die Vergangenheit zu schauen und daraus Schlüsse zu ziehen. Die vergangenen technischen Revolutionen haben die Arbeit vieler Menschen erleichtert und generell eher dazu geführt, dass neue Jobs geschaffen wurden. Die Angst, Maschinen würden Arbeitsplätze stehlen und zu Massenarbeitslosigkeit führen, ist unbegründet gewesen. Dies heißt aber nicht, dass sich die Arbeitswelt nicht verändert. War es noch vor ein paar Jahren erstrebenswert und völlig normal, von der Lehre bis zur Rente im gleichen Beruf zu arbeiten, so sprechen Experten und Berufsverbände heute davon, dass Arbeitnehmer deutlich flexibler sein müssen. Das lebenslange Lernen bekommt eine immer stärkere Bedeutung. Was in der Lehre gelernt wird, ist nicht zwangsläufig auch der Beruf zum Renteneintritt. Darauf müssen die jungen Menschen vorbereitet werden. Das hat auch Auswirkungen auf die Berufswahl.
Wie wahrscheinlich Ihr eigenes Berufsbild einer Automatisierung zum Opfer fällt, können Sie im Internet sehr einfach herausfinden.3 Hier sehen Sie, dass zum Beispiel der Beruf eines Steuerfachangestellten aus 12 verschiedenen Tätigkeiten besteht, die schon heute komplett von einem Roboter übernommen werden könnten. Die Automatisierbarkeit in diesem Beruf ist also enorm hoch und die Wahrscheinlichkeit, in absehbarer Zukunft etwas anderes suchen zu müssen, ist damit auch sehr groß. Zumindest, wenn die Automatisierung billiger oder qualitativ besser ist als die Arbeit eines Menschen. Trotzdem empfehlen viele Berufsberater jungen Menschen immer noch, in diese Berufe zu gehen. Schaut man sich die Entwicklung der Stellen als Steuerfachangestellte an, so sieht man, dass diese in den letzten Jahren gestiegen sind. Und ebenso ist das Gehalt nach oben gegangen. Nur weil ein Beruf also irgendwann vielleicht automatisiert werden könnte, muss es heute keine schlechte Berufswahl sein.
Allerdings gibt es auch Stimmen, die davon ausgehen, dass die neuen Technologien und künstliche Intelligenz eine ganz neue Dimension der Veränderung darstellen, die nicht mit den bisherigen Revolutionen vergleichbar ist. Schließlich wird hier nicht nur die Muskelkraft ersetzt, sondern auch viel Kopfarbeit. Also das, was der Mensch bisher den Maschinen voraushatte. Während es hier sehr optimistische Zukunftsbilder gibt, die den Menschen von der Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit befreit sehen (Precht 2018), gibt es auch die etwas pessimistischere Sicht, die den Menschen am Rande seiner Nützlichkeit für Evolution sieht (Harari 2018).
Was immer die Zukunft auch bringen mag, Disruptionen gehören zum Alltag und können zukünftig noch stärkere Umwälzungen hervorrufen als bisher. Mit den daraus entstehenden Unsicherheiten werden wir umgehen müssen und Strategien entwickeln. Das „disruptive Denken“ und das Gestalten der Zukunft ist ein guter Startpunkt. Denn überall da, wo Sie Raum zur Gestaltung vorfinden, da entstehen Chancen, die Sie nutzen können.
➤ Tipps für VUCA-Helden
Auch wenn Digitalisierung sich sehr technologiebezogen anhört, so ist vielleicht die zentrale Botschaft, den Kunden in das Zentrum allen Bemühens und aller Innovation zu stellen. Die Bedürfnisse des Kunden beherrschen den Markt.
Wenn Sie den Kunden aber nicht nur als Konsumenten, sondern als wichtigen Partner sehen, dann können Sie daraus sehr viele Vorteile ziehen. Mit kurzen Feedbackzyklen und kreativen, innovativen Herangehensweisen können Sie neue Geschäftsmodelle erschließen und selbst disruptiv ganze Märkte verändern.
1 Sehen Sie den Kunden als Partner und stellen Sie ihn in den Fokus.
Versuchen Sie Ihre Kunden oder Zielgruppen möglichst gut zu verstehen. Das klassische Anforderungsmanagement hatte seit jeher damit zu kämpfen, dass die Kunden oft selbst nicht genau wussten, was sie wollten. Bringen Sie Ihre kreativen Teams direkt in Kontakt mit der Welt des Kunden, so dass diese mit den Kunden gemeinsam erarbeiten können, was benötigt wird. Bringen Sie Teams und Kunden auch während des Erstellungsprozesses zusammen, so dass frühzeitig Feedback gegeben werden kann.
Welches Bedürfnis hat der Kunde wirklich?
Gibt es noch eine andere Perspektive?
Wie können Sie den Kunden möglichst nah an das kreative Team bringen?
1 Digitalisierung bedeutet Beziehungen und Verbindungen.
Oftmals