Martin Grassberger

Das unsichtbare Netz des Lebens


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immer problemlos verlaufen. Dennoch haben Jahrmillionen der Evolution lebenserhaltende Mechanismen entstehen lassen, die, wenn nicht durch abstrakte Vorstellungen und falsche Vorgaben behindert, einen positiven Ausgang in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ermöglichen.

      Wie aufgeheizt die Diskussion um die Frage ist, ob eine Hausgeburt oder eine Krankenhausgeburt die sicherste Option sei, zeigte sich 2010, als eine aufgrund der mangelhaften Methodik heftig kritisierte Publikation erschien.20 Diese Auswertung mehrerer Studien der vergangenen Jahrzehnte aus mehreren Ländern schlussfolgerte mit einem einzigen vernichtenden Satz: »Weniger medizinische Eingriffe während einer geplanten Hausgeburt sind mit einer Verdreifachung der neonatalen Sterblichkeitsrate verbunden.« Dreimal dürfen Sie raten, wie in der Folge die skandalisierenden Überschriften in den internationalen Medien lauteten. Die unkritische Übernahme von einfachen und griffigen Aussagen, ohne sich über das Zustandekommen derartiger »Ergebnisse« ein differenziertes Bild zu machen, ist typisch und eines der größten Probleme in der Kommunikation und öffentlichen Wahrnehmung von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Tatsächlich war die methodische Vorgangsweise der Studien mehr als fraglich, was sich auch in entrüsteten Kritiken und Gegendarstellungen in derselben Fachzeitschrift niederschlug.21

      So wurden beispielsweise einerseits Daten aus Geburtsregistern der 1980er- und 1990er-Jahre aus einem einzigen US-Bundesstaat inkludiert und andererseits die Ergebnisse unterschiedlicher Länder in einen Topf geworfen. Dass das US-Gesundheitssystem nicht gerade zu den besten zählt, ist bekannt, auch die Tatsache, dass wir nicht mehr in den 1980er-Jahren leben. Gerade was die gesundheitspolitischen Maßnahmen in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt betrifft, gehen die meisten Länder eigene Wege. Die Daten fallen daher auch extrem unterschiedlich aus.

      Die Ergebnisse einer Auswertung geplanter Hausgeburten (ohne Risikoschwangerschaften) aus Spanien wurde erst im April 2021 publiziert.22

      Sie zeigten, dass Frauen ohne Risikoschwangerschaft im Zuge von geplanten Hausgeburten mit einer qualifizierten Hebamme eine höhere Wahrscheinlichkeit einer spontanen vaginalen Entbindung aufwiesen und diese mit guter Gesundheit der Mütter einhergingen. Darüber hinaus war das Risiko einer Krankenhausverlegung gering (10,7 Prozent) und die Rate des Stillens länger als ein Jahr mit 99 Prozent extrem hoch. Ähnlich positive Daten liegen u. a. aus British Columbia (Kanada)23, Norwegen24, Ontario (Kanada)25 und interessanterweise auch Nordamerika26 vor.

      Eine groß angelegte Metaanalyse aus dem Jahr 2018 fand keine signifikanten Unterschiede in der Neugeborenensterblichkeit zwischen Krankenhaus- und von ausgebildeten Hebammen begleiteten Hausgeburten.27

      Und schließlich belegte eine Auswertung von etwa 500 000 als Hausgeburt geplanten Entbindungen, dass es im Vergleich zu Krankenhausgeburten zu signifikant weniger Kaiserschnitten, Dammschnitten, schweren Dammrissen, Anwendungen von Wehenmitteln und mütterlichen Infektionen kam.28

      Ein differenzierter Zugang, ohne ideologische Grabenkämpfe, zwischen der ärztlichen Geburtshilfe und Hebammen wäre also angebracht und im Sinne von Müttern und deren Kindern. Die negative Einstellung der Medizin gegenüber Hausgeburten hat in zahlreichen Ländern dazu geführt, dass die dafür notwendigen Systeme entweder stark zurückgefahren wurden oder gänzlich verschwunden sind. Das ist schon deshalb problematisch, weil mittlerweile zahlreiche Länder und Einrichtungen wie die WHO29 und UNICEF30 eine Erhöhung der natürlichen (vaginalen) Geburtenrate sowie längeres Stillen fordern.

      Ich habe die Geburt nicht nur aufgrund der Tatsache, dass wir sie weitläufig mit dem Beginn neuen Lebens gleichsetzen, an den Beginn dieses Buches gesetzt, sondern auch weil sie ein Musterbeispiel für zahlreiche, auf unzulässigen Vereinfachungen basierenden Fehlannahmen darstellt und unser modernes Dilemma bestens charakterisiert.

       Gesundheit ist nicht alles

      »Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts«, lautet eine fundamentale Einsicht. Wir alle streben nach einem möglichst gesunden, zufriedenen und langen Leben. Wie diese ewige Gesundheit zu erreichen ist, scheinen offenbar viele zu wissen, denn die Informationen hierzu in Form von Büchern, Filmen, Podcasts, YouTube-Videos und den dazugehörigen »Beratern« ist kaum überschaubar. Begleitet von einem stetig steigenden Angebot an unzähligen Nahrungsergänzungsmitteln und sonstigen »lebensverlängernden« Substanzen, wird auf diesem Sektor jährlich ein Millionenumsatz erzielt. Die einen schwören auf dies, andere auf jenes, doch eine Panacea, ein sprichwörtliches Allheilmittel, hat offenbar noch niemand gefunden. Denn obwohl viel Geld für fragwürdige Diäten, Gesundheitsgurus, Coaches und Berater (egal, ob das Leben oder die Ernährung betreffend) ausgegeben wird, sprechen die Gesundheitsstatistiken eine ziemlich deutliche Sprache: Während unsere Zivilisation mit all ihren Errungenschaften und Annehmlichkeiten voranschreitet, scheint es mit unserer Gesundheit nicht gerade zum Besten bestellt zu sein. Auch wenn manche auf unsere in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegene Lebenserwartung verweisen, so ist das nicht gleichbedeutend mit einer stetig steigenden Gesundheit in der Bevölkerung.

      Medizinischer und ökonomischer Fortschritt – und damit ein besseres Leben – lassen sich an der allgemeinen Zunahme der Lebenserwartung ablesen, lautet die gängige, durchaus nachvollziehbare Ansicht. Aber ähnlich wie bei der vereinfachten Gleichung, ein steigendes mittleres Prokopfeinkommen eines Landes sei gleichbedeutend mit individuellem Wohlstand und Wohlergehen, liegt auch dieser Annahme eine unzulässige Vereinfachung zugrunde. »Mehr« ist in beiden Fällen nicht zwangsläufig mit »besser« gleichzusetzen. Denn eine steigende Lebenserwartung gibt keinesfalls automatisch Auskunft darüber, ob die im Zuge des Fortschrittes gewonnenen Lebensjahre auch in Gesundheit verbracht werden.

      Um diese Realität besser abzubilden, hat die Wissenschaft Kenngrößen wie Disability adjusted Life Years (DALYs) oder Healthy Life Years (HLY) definiert. Diese Indikatoren beschreiben die Anzahl jener Lebensjahre, die eine Person tatsächlich in Gesundheit bzw. frei von Behinderung und Krankheit verbringt oder statistisch verbringen wird. Derartige Kategorien sind daher als eine ganz wesentliche Ergänzung des Indikators Lebenserwartung zu sehen, da nicht alle Lebensjahre einer Person in guter Gesundheit verbracht werden. Das sagt uns schon die Lebenserfahrung. Lebensqualität und Lebenserwartung sind nicht dasselbe. Jeglicher Verlust an Gesundheit zieht erhebliche individuelle und gesellschaftliche Nebeneffekte nach sich und hat schließlich auch weitreichende Folgen für Verbrauch und Produktivität innerhalb einer Volkswirtschaft.

      So liegen Österreich und Deutschland zwar im EU-Spitzenfeld, was den Anteil der Gesundheitsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt betrifft. Doch bedeutet dies, dass wir in diesen Ländern auch die gesündesten Menschen antreffen? Nein, sagt die Statistik. Während wir in beiden Ländern derzeit zwar eine durchaus ähnlich hohe durchschnittliche Lebenserwartung vorfinden (ca. 84 Jahre bei Frauen und ca. 79 Jahre bei Männern), fällt die Anzahl gesunder Lebensjahre (ohne Krankheit oder Behinderung) vor allem in Österreich im EU-Vergleich äußerst bescheiden aus. Laut Datenerhebung von Eurostat aus dem Jahr 2016 haben Herr und Frau Österreicher bei der Geburt im statistischen Schnitt mit etwa 57 gesunden Lebensjahren zu rechnen. Im EU-Schnitt sind es hingegen rund 64 gesunde Lebensjahre und in Schweden gar 73.

      Den relativ hohen staatlichen Gesundheitsausgaben steht also ein eher ernüchternder Gesundheitszustand der Bevölkerung gegenüber. Dass Österreich nur 1,7 Prozent seines Gesundheitsbudgets für Prävention und Gesundheitsförderung ausgibt, mag einer der Gründe hierfür sein.1

      Im Schnitt der OECD-Länder liegt dieser Wert gut doppelt so hoch bei 3,4 Prozent. Wir wissen aber mittlerweile, dass für jeden in Krankheitsprävention und Umweltbewusstsein investierten Euro geschätzt etwa zwei bis vier Euro an gesamtökonomischem Benefit zu erwarten sind. Prävention zahlt sich also auf jeder Ebene aus, sowohl auf der persönlichen als auch auf der ökonomischen Ebene eines Landes.

      Ein großer Teil dieser verloren gegangenen gesunden Lebensjahre geht auf das Konto der ernährungsassoziierten Erkrankungen, also auf Krankheiten, die durch Ernährungsgewohnheiten (mit)verursacht werden bzw. durch Ernährungsgewohnheiten