»Das leise Sterben. Warum wir eine landwirtschaftliche Revolution brauchen, um eine gesunde Zukunft zu haben«, habe ich bereits einige Punkte unsere Gesundheit betreffend angesprochen, konnte aber nicht bei allen Themen ins Detail gehen. Dass dies offenbar für manche zu wenig bzw. etwas unbefriedigend war, haben mir die zahlreichen Zuschriften und die Publikumsfragen während der Diskussionen nach meinen Vorträgen gezeigt.
»Was soll ich konkret tun, um meine Gesundheit wiederzuerlangen, den richtigen Lebensstil zu finden, nachhaltig zu leben, die richtigen Lebensmittel für meine Familie einzukaufen …? Welche ›Superfoods‹ und Nahrungsergänzungsmittel empfehlen Sie? Welche Lebensmittelzusatzstoffe sind schädlich?« usw. So oder ähnlich lauteten die meisten der gestellten Fragen. Alles durchaus berechtigte Fragen jedes und jeder Einzelnen. Vermutlich fiel meine Antwort in vielen Fällen aber enttäuschend aus, denn einfache und kurze Antworten oder gar schnelle »Lösungen«, die für jede und jeden gleichermaßen zutreffen, gibt es, wie wir im Folgenden sehen werden, für all diese Fragen schlicht nicht. Ich bin allerdings der Auffassung, dass es äußerst hilfreich sein kann, die »richtige« Betrachtungsweise bezüglich der tieferen, all diesen Fragen zugrunde liegenden Zusammenhänge zu kennen, um stets selbstständig für die eigene Lebenssituation die richtigen Entscheidungen treffen zu können – zumindest soweit dies auf Basis der momentanen wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich ist. Ich versuche, mit meinen Ausführungen einem Ausspruch Albert Einsteins zu folgen, wonach man die Dinge so einfach wie möglich machen sollte, aber nicht einfacher. Auch wenn es dadurch an manchen Stellen vielleicht etwas komplizierter wird, werde ich versuchen, die Zusammenhänge so einfach wie möglich zu schildern und nichts unerklärt zu lassen.
Die zwei neuen Schlagworte in diesem Zusammenhang lauten Health Literacy und Eco Literacy, also Gesundheits- und Ökokompetenz. Unter Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit zu verstehen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die persönliche Gesundheit auswirken. Analog dazu ist ökologische Kompetenz die Fähigkeit, natürliche Systeme, die das Leben auf der Erde ermöglichen, zu verstehen und diese Prinzipien für die Schaffung nachhaltiger menschlicher Lebensgemeinschaften sowie das eigene Leben anzuwenden. Leider haben Untersuchungen gezeigt, dass vor allem die Gesundheitskompetenz sowohl der Österreicher als auch der Deutschen deutlich unter dem europäischen Durchschnitt liegt.2
So sieht sich mehr als die Hälfte der österreichischen und deutschen Bevölkerung im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt.
Zudem herrscht sowohl in der Medizin selbst als auch unter der weitaus größeren Gruppe der medizinischen Laien eine etwas unvollständige Sicht auf unseren Körper und seine möglichen »Gebrechen« bzw. deren tiefer liegende Ursachen. Im Vordergrund stehen vor allem Fehlannahmen hinsichtlich dessen, was idealerweise sein sollte (»Gesundheit«), und dem, was die ursächlichen Zusammenhänge im Rahmen von Fehlfunktionen betrifft (»Krankheit«). Das, was ich als »tiefer liegende Ursachen« bezeichne, bezieht sich nicht auf den unmittelbaren Auslöser einer Krankheit, sondern vielmehr auf die alles entscheidende Frage, warum wir überhaupt für die eine oder andere Krankheit anfällig sind bzw. geworden sind. Einige aufschlussreiche Antworten finden wir, wie so oft, wenn wir einen umfassenden Blick in unsere Vergangenheit werfen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse mit der aktuellsten Wissenschaft und unserer gegenwärtigen Lebensweise abgleichen.
Eine relativ neue Wissenschaftsdisziplin, die sich mit dieser langen (evolutionären) Vergangenheit in Verbindung mit den ungelösten medizinischen Fragen der Gegenwart beschäftigt, ist die sogenannte Evolutionäre Medizin (engl. Evolutionary Medicine).3
Ich werde später auf einige der durch diese evolutionäre Betrachtungsweise gewonnenen Einsichten genauer eingehen. Wenngleich diese Erkenntnisse in vielen Fällen nicht automatisch zu einer simplen Lösung im Sinne einer raschen und effektiven Behandlung von Krankheiten führen, so beinhalten sie doch viele Lösungsansätze, was die Verhinderung von Krankheiten und das bessere Verständnis ihrer Entstehung betrifft. So viel sei jetzt schon verraten: Die Ernährung und unsere Umwelt (bzw. wie wir diese gestalten) spielen hierbei eine ganz entscheidende Rolle.
Apropos Umwelt. Betrachten wir die evolutionäre Vergangenheit von Organismen, egal ob Mensch, Pflanze oder Mikrobe, so ist klar, dass wir dabei auch immer die komplexen Wechselwirkungen zwischen diesen Lebensformen selbst und deren Interaktion mit der Umwelt im weitesten Sinne mitberücksichtigen müssen.
Die wissenschaftliche Teildisziplin der Biologie, die sich mit den Beziehungen von Lebewesen (Organismen) untereinander und zu ihrer Umwelt beschäftigt und diese erforscht, nennt sich Ökologie. Integriert man die Erkenntnisse der modernen Evolutionsbiologie in ökologische Erklärungsmodelle, so erhält man das Fachgebiet der Evolutionsökologie. Tatsächlich werden heute in der Biologie zahlreiche ökologische Fragestellungen zu einem beträchtlichen Teil unter dem Aspekt der zugrunde liegenden Evolutionsprozesse untersucht.
Betrachten wir die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, befinden wir uns wiederum im biologischen Teilgebiet der Humanökologie. Hier wird es besonders spannend und aufschlussreich, denn, wie mittlerweile weithin bekannt ist, haben wir Menschen während der letzten 200 Jahre und ganz besonders während der letzten Jahrzehnte unsere Umwelt (und unsere Beziehung zu ihr) gravierenden Änderungen unterworfen. Diese umfassen tiefgreifende Änderungen und Zerstörungen von Ökosystemen im Zuge einer immer intensiveren Ressourcennutzung – sei es im Rahmen der Landwirtschaft, der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen und Bodenschätzen oder des Ausbaus unserer Infrastruktur. Eine mittlerweile weithin bekannte Folge ist der voranschreitende Klimawandel. Andere Konsequenzen, vor allem jene für unsere Gesundheit, sind hingegen nicht so ohne Weiteres auf den ersten Blick zu erkennen.
Wenn Sie mir bis hierher aufmerksam gefolgt sind, dann haben Sie zwangsläufig erkannt, dass wir wirklich sinnvolle, hilfreiche und fundamentale, weil lebensverändernde Einsichten nur dann gewinnen können, wenn wir alle oben genannten Teildisziplinen einer integrativen Sichtweise unterziehen. Wir müssen beginnen, systemisch zu denken, um uns dem Verständnis des unsichtbaren Netzes des Lebens zumindest annähern zu können.
Systemdenken
Systemdenken ist im heutigen Zeitalter der hoch spezialisierten Wissenschaften nicht bei allen beliebt, denn es erfordert, sich bis zu einem gewissen Grad auf unsicheres Terrain vorzuwagen, in dem wir nicht alles mit letzter Sicherheit vorhersagen können. Vieles entzieht sich einer exakten und einfachen experimentellen wissenschaftlichen Betrachtungsweise, denn Systeme bestehen selbst wiederum aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Einheiten und Subsystemen, die aus sich ständig verändernden Größen bestehen. Es gilt, in Prozessen zu denken und nicht in Zuständen. Ein simples Ja oder Nein, Richtig oder Falsch gibt es bei dieser Betrachtungsweise in der Regel nicht. Alle Teilaspekte und Systemgrößen existieren selbst wiederum nur als Produkt von anderen, zum Teil weitgehend unbekannten Größen. Die Vielgestaltigkeit lebendiger Systeme macht Vorhersagbarkeit nur bedingt möglich und erweckt häufig den Anschein von Chaos, denn wir haben es mit komplexen Regelkreisen, Prozesskreisläufen und in vielen Fällen noch unverstandenen Gesetzmäßigkeiten zu tun.
Dennoch können unsere herkömmlichen wissenschaftlichen Sichtweisen und Methoden bis zu einem gewissen Grad Einblicke in die Funktionsweise zumindest von Teilaspekten komplexer Lebenssysteme geben. Wir sind zu einem großen Teil auf diese eingeschränkte Sichtweise von Teilaspekten angewiesen. Auch ich werde mich in diesem Buch hauptsächlich auf derartige Erkenntnisse beziehen. Wir haben keine anderen. Das ist so lange kein Problem, solange wir nicht in den Irrglauben verfallen, diese wissenschaftlich »objektivierbaren«, mikroskopisch kleinen Ausschnitte des großen Ganzen würden uns ein eindeutiges, konkretes und vollständiges Bild der Realität liefern. Allerdings, je mehr wissenschaftliche Erkenntnisse aus unterschiedlichen Teilgebieten zusammengetragen werden, desto eher sind wir in der Lage, einen kleinen Einblick in das komplexe Netz des Lebens zu erhaschen und unsere Verflechtungen mit diesem besser zu verstehen.
Evidenzbasiert