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Erleben ist das subjektive Innewerden von Vorgängen, die als bedeutsam empfunden werden. Die Erfahrung stellt dann die Summe von Erlebnisanteilen dar, Erfahrung ist das durch das eigene Erleben und eigene Anschauung erworbene Wissen. Und aus Erfahrungen erwachsen schließlich Erkenntnisse, aus diesen können möglicherweise Einsichten resultieren, die als die höchste Stufe menschlicher Weisheit zu bezeichnen sind. Erlebnis, Erfahrung, Erkenntnis und Einsichten sind also wichtige Begriffe in der und für die Erlebnispädagogik 110
Erlebnis
Das Erlebnis hingegen zeichnet sich gegenüber „dem Erleben“ dadurch aus, dass
Leidenschaft und Lust mit Überlegung und Einsicht einhergehen
sich strukturelle Grenzen aufheben (Zeit vergeht wie im Flug)
es einen verstärkten Drang zu Ausdruck und Handlung zeigt
es durch den gesteigerten Manifestationsdrang eine höhere „Auseinandersetzungswahrscheinlichkeit“ gibt
Grenzen der Kommunikation schwinden (z. B. Ohmacht und Allmacht zugleich)
es Resultatscharakter aufweist (Einheit von Denken-Fühlen-Wollen)
es ein autokinetisches System darstellt; es ist nicht erzeugbar und nicht erzwingbar111
Aus meiner Sicht handelt es sich hierbei um eine sehr wichtige Unterscheidung, um Programme der Erlebnispädagogik genauer untersuchen zu können. So sind eben die „heilsamen Erinnerungsbilder“112 von Kurt Hahn nur durch ihre verdichtete Intensität und dementsprechende Wirkmächtigkeit, also durch die Kategorie des Erlebnisses erklärbar. Auf der anderen Seite ist das „Erfahrungslernen“ ohne den Begriff des „Erlebens“ und der daraus resultierenden Erfahrung nicht zu erklären. Diese Unterscheidung ist vor allem auf praktischer, konzeptioneller Seite von Bedeutung, erfordert sie doch eine vollkommen andere Vorgangsweise. Im Ansatz der „Erlebnispädagogik“ mit dem zentralen Augenmerk auf den Begriff des Erlebnisses ist von zentraler Bedeutung, eben solche Erlebnisse durch Settings/Medien etc. möglich zu machen. Auf der Seite des „Erfahrungslernens“ liegt der Fokus mehr auf der Prozessebene, auf der Reflexion des Handelns und dementsprechend auf der „Umsetzung“ der Handlung in (nutzbare) Erfahrung. Dabei bedarf es natürlich einer gewissen „Qualität des Erlebens“, um die Handlung als solche sozusagen für das Individuum erkennbar zu machen (siehe oben), allerdings in weit geringerer Intensität. Daher ist in der Praxis des handlungsorientierten Ansatzes die Reflexion von so zentraler Bedeutung, da das Erlebte von sich aus nicht wirkmächtig ist und dementsprechend (meist) erst über den Umweg der reflexiven Aufarbeitung des Erlebten von (Lern)Erfahrungen gesprochen werden kann. Dabei handelt es sich um einen bedeutsamen Unterschied (vgl. Abschnitt 9.3). Dilthey, Neubert und Hahn haben, da sie sich jeweils in ihrem Wissenschaftskonstrukt bewegten, keine strengen Abgrenzungen zu jeweils anderen Konstrukten vorgenommen (was diesen Pionieren wohl auch schwer gefallen wäre). Dementsprechend überschneiden sich die Ansätze in ihren Argumentationen. Diese Unterscheidung ist auch hinsichtlich des „Erfahrungslernens“ nicht unbedingt notwendig, denn natürlich kann man die „Wirksamkeit“ von Erlebnissen auch aus der Sicht des „Erfahrungslernen“ erklären:
Etwas sehr Ähnliches wie Dewey hat 1906 auch Wilhelm Dilthey in Bezug auf die Erlebnispädagogische Kernmetapher, das Erlebnis, deutlich gemacht: „Da Erlebnisse völlig individuelle und daher auch nicht manipulierbare, irrationale, emotionale Ereignisse sind, ein inneres Bewegt- und Ergriffensein, genau deshalb benötigen Erlebnisse ihrer rationalen Durchdringung, wenn eine Einheit von Denken und Fühlen, von Erlebnis und Erfahrung hergestellt werden soll.“ 113
Interessanterweise wird Dilthey dementsprechend auch als Vertreter „der Psychologie des ERLEBENS“ eingeordnet.114 Auch Erlebnisse müssen also „rational durchdrungen“ (Dilthey) werden. Der wesentliche Unterschied liegt in der Argumentation der „Wirksamkeit“ und der daraus folgenden didaktischen Umsetzung.
Für die „moderne Erlebnispädagogik“ ist, wie schon oben erwähnt, sicher der Ansatz von Dewey spürbarer und relevanter als der von Dilthey und auch, auf Seite der Theorie, von Hahn. Dies mag einerseits auf den starken Einfluss von Dewey und Thoreau auf die amerikanische Pädagogik und damit auf die „amerikanische Outward Bound Schools“ zurückzuführen sein, andererseits aber sicher auch auf den breiteren Ansatz von Dewey, der praktisch-methodisch-didaktisch leichter umsetzbar, eben pragmatisch, erscheint. Denn im Gegensatz zur aufwändigen, unsicheren Erzeugung wirkmächtiger Erlebnisse scheint bei einer didaktischen Gestaltung im Sinne von Dewey schon die Berücksichtigung der „Reflexion von Handlungen“ in der Planung ausreichend. Dementsprechend ist der handlungsorientierte Ansatz vor allem im Bereich der konzeptionellen Planung von Trainingsund Entwicklungskonzepten anzutreffen. John Dewey wird auch oft als „Begründer“ der Organisationsentwicklung bezeichnet. Gerade in der Personalentwicklung, in der Organisationsentwicklung und in der modernen Teamentwicklung wird oft in so genanten „Outdoortrainings“ auf erlebnispädagogische Methoden zurückgegriffen:
Gairing hat darauf hingewiesen, dass Deweys rigoroses Entwicklungsparadigma die Plattform für die moderne Organisationsentwicklung geschaffen hat. Ob bei Caritas, Jugendherbergs werk oder der Deutschen Bank: Die aktuellen OE-Prozesse sind ohne Dewey kaum zu denken. Auch die in den meisten Unternehmen vollzogene Kehrtwende in der Erstausbildung antizipierte Dewey schon 1916: die einzige Form der Ausbildung für den Beruf ist durch den Beruf. (…) Deweys Ansatz ist verblüffend radikal, indem er die Erfahrung als den „Lernort“ seiner Pädagogik positioniert.115
Daneben erscheint „Learning by doing“ als Schlagwort auf den ersten Blick als leicht einzulösendes Konzept und übte sicher zusätzlich einen starken Reiz auf Praktiker / -innen aus. Hier zeigt sich die auch heute in der modernen erlebnispädagogischen Literatur oft angesprochene Diskrepanz zwischen Theoretikern / -innen und Praktikern / -innen:
Deweys Pragmatismus wirkte auf den ersten Blick technokratisch und theoriefeindlich: Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie, einfach deswegen, weil jede Theorie nur in der Erfahrung lebendige und in der Nachprüfung zugängliche Bedeutung hat.116
Dieser Theorie Praxis Gap ist sozusagen ein Urproblem der Pädagogik als Wissenschaft.
2.2.2 Exkurs: Dewey, Hahn und Thoreau: Veränderung durch Erziehung
Während Dewey durch die Projektmethode und die reflexive Ausrichtung in Form des Erfahrungslernens einen großen Einfluss auf die didaktische Gestaltung des Schulunterrichts ausübte117, steht ein zweiter nordamerikanischer „Pädagoge“, Thoreau, der ebenfalls zu den „Urvätern“ der Erlebnispädagogik gezählt wird, für das „Prinzip der Unmittelbarkeit“:
Während eine europäische Erziehungsgeschichte ohne Rousseau, eine amerikanische Philosophiegeschichte ohne Thoreau unvollständig bleibt, ist das Thoreausche Gedankengut im europäischen Kulturraum einer seltsamen Vergessenheit preisgegeben. Nur gelegentlich leuchtet die Persönlichkeit dieses Propheten und Poeten, Philosophen und Pädagogen im Pantheon der Unsterblichen auf. So vor 25 Jahren, als Thoreau als Prophet der 68er Generation herhalten musste, oder als bekannt wurde, dass Mahatma Ghandi Thoreaus Buch „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ fast immer im Reisegepäck hatte. (…) Die Natur ist die große Erzieherin