Johannes Huber

Die Kunst des richtigen Maßes


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Aufzeichnungen haben für die eigene Ausrichtung auf Ziele, für die eigene Verarbeitung, für das eigene Gehirn mehr Gewicht als elektronische Memos.

       Die Methode Dorsey macht Schule

      Es scheint so, als würde sich zumindest Dorseys Ernährungsweise aus den elitären Zirkeln des Silicon Valley heraus in etwas größeren gesellschaftlichen Gruppen ausbreiten. Sie trägt den Namen OMAD, was sich vom englischen »One Meal A Day« ableitet.14 Es ist eine extremere Form des aus guten Gründen in Mode gekommenen Intervallfastens, bloß haben ihre Anhänger nicht sieben Stunden, sondern nur eine Stunde pro Tag Zeit zu Essen.

      Es gibt vier Grundregeln bei dieser OMAD-Diät:

      Erstens. In den restlichen 23 Stunden sind auch keine kalorienhaltigen Getränke erlaubt.

      Zweitens. Jeden Tag zum gleichen Zeitpunkt essen. Das soll dem Körper helfen, sich auf den Fastenrhythmus einzustellen.

      Drittens. Der Durchmesser des Tellers darf nicht mehr als 28 Zentimeter betragen. Das hilft gegen große Mengen.

      Viertens. Stapeln verboten! Das Essen am Teller darf nicht mehr als sieben Zentimeter hoch sein.

      Generell gilt: Zwei bis drei Liter Wasser am Tag trinken. Der Sprit für einen klaren Geist.

       Phil Libins Hunger nach geistiger Klarheit

      Werfen wir einen Blick auf Phil Libin.

      Mit 17 Jahren gründete er sein erstes Unternehmen, 2007 erfand er mit Evernote ein elektronisches Notizbuch, auf das User von jedem Computer oder Smartphone aus zugreifen können. Phil Libin stammt aus dem russischen Sankt Petersburg und kam mit seinen Eltern nach New York. Sein erstes Geld verdiente er mit Reparaturarbeiten, heute ist er Vorstandschef von Evernote und gilt als einer der innovativsten EDV-Unternehmensgründer der Welt.

      Auch Libin hat sich der Askese verschrieben. Zwischen zwei und acht Tagen am Stück verzichtet er gänzlich auf Essen. Den größten Vorteil sieht auch er darin, dass er sich durch das Fasten geistige Klarheit erarbeitet. Mit dieser Klarsicht kann er Dinge entwickeln, die er seiner Meinung nach nicht geschafft hätte, wenn er einfach jeden Tag normal gegessen hätte. Er fing damit an, als sich seine Frau von ihm getrennt hatte und er in eine tiefe Depression schlitterte. Er begann zu fasten und wurde erst dann erfolgreich. Hunger und Liebeskummer sind erstaunliche Motoren für den Erfolg.15

       Wie Steve Jobs den Macintosh erfand

      Oder nehmen wir Steve Jobs, der ein Adoptivkind war. Er wollte ursprünglich Kalligraph werden und baute dann, ähnlich wie Bill Gates, in der Garage seines Elternhauses die ersten beiden Apple-Computer. Der Durchbruch gelang ihm 1984, da stellte Apple den Macintosh vor.

      Von Steve Jobs gibt es eine bekannte Biographie, verfasst von Walter Isaacson. Isaacson beschrieb ganz genau, wie Jobs beim Fasten Euphorie-Gefühle bekam. Diese Momente des Verzückens waren es, die ihn begleiteten, als er den Macintosh entwickelte. Jobs aß nichts, und erst da flogen ihm die entscheidenden Ideen zu. 2003 kam dann die Krebsdiagnose. Jobs lebte asketisch weiter, immerhin bis 2011. Acht Jahre Lebenserwartung, das hätte ihm zunächst kein Arzt mehr zugetraut.16

      Dorsey, Libin und Jobs.

      Die gleiche Clique aus dem Silicon Valley, die pionierhaft und im Übermaß die Digitalisierung vorantrieb, erkannte die Vorteile der Mäßigung und nutzte sie konsequent und ihren Ambitionen entsprechend einigermaßen extrem für sich.

      Die Elite der silikalen Welt und ihr simples Credo: Weniger ist mehr. Das Zitat des Dalai Lama17 ließe sich so extemporieren:

      Loslassen vom Überschuss ist das Herz geistigen Wachstums, das sich auch in äußerem Erfolg manifestieren kann.

      Erstaunlicherweise verlangen die Eliten diesen Verzicht sich selbst ab, nicht aber ihren Mitarbeitern. Auf der Payroll von Google und Facebook zu stehen, heißt ganz im Gegenteil, zur Völlerei geradezu animiert zu werden. Die Internetkonzerne bitten zu Tisch, als wär jeder Tag das letzte Abendmahl.

      Die Mitarbeiter bekommen in den Betriebskantinen täglich gratis All you can eat in der Gourmet-Variante serviert. Google und Facebook sind bekannt für ihre Gourmet-Kantinen. Das Essen gilt als besonders exzellent. Asiatisch, mexikanisch, mediterran, vegan, natürlich auch Steaks und Burger, alles in jeder beliebigen Menge, aber nur vom Feinsten.

      Der Freibrief zum Fressen hat die Begriffe »Google 15« und »Facebook 15« hervorgebracht. Sie bezeichnen jene 15 Pfund, die neue Mitarbeiter im Schnitt an Körpergewicht zulegen. Siebeneinhalb Kilo, weil sie die Firma so gut abfüttert.18

      Das ist der Unterschied im Silicon Valley. Die Könige verzichten, das Volk völlert. Die einen lenken, die anderen folgen. Die einen wachsen, die anderen dienen.

      Josef Pieper19, ein deutscher christlicher Philosoph des 20. Jahrhunderts, formulierte das Prinzip dahinter schon Jahrzehnte vor der Erfindung der Computer und des Internets so:

      Auch der einfache Mensch ist in der Lage, zur Elite zu werden, aber er muss sich selbst bemühen.

      Pieper unterschied die außergewöhnliche, schon zur Vollkommenheit gereifte Persönlichkeit klar vom durchschnittlichen Menschen. Weil bei Letzterem die innere Ordnung gefährdet ist, braucht er innere Disziplin. Pieper schrieb:

      Man muss sich alles etwas kosten lassen, konkret Verzicht üben, um das Wesen des Menschen zu verwirklichen und eine sich selbst besitzende freisittliche Person zu werden.

      Jeder kann dieses Ziel erreichen. Wenn er das richtige Maß erkennt und an sich selbst anlegt.

       Der Weg zum See Genezareth

      Den drei genannten Herren aus dem Silicon Valley war vielleicht nie bewusst, dass sie einen Weg wählten, den auch schon Jesus Christus beschritt. Bevor der Sohn Gottes zum See Genezareth, einem der Zentren seines Wirkens, kam, fastete er vierzig Tage lang in der Wüste. Satan besuchte ihn, um ihn von seinem Weg abzubringen. Doch Jesus ließ sich nicht beirren. Durch diese vierzig Tage, so heißt es im Evangelium des Matthäus, entstand in ihm etwas. Etwas, das die Exegese, die Bibelinterpretation, bisher nicht gebührend berücksichtigt hat.

      Jesus muss in der Wüste etwas verstanden haben, das sein Leben veränderte, und es muss eine Art des Verständnisses gewesen sein, die weit über die kognitive Ebene hinausging. Ihm muss sich etwas eröffnet haben. Vielleicht ähnlich wie dem Ich-Erzähler in Star Maker, als sich sein Geist vom Körper löst und eine Reise auf höherer Ebene antritt, die ihm alles ermöglicht und das Universum offenbart.

      Wir dürfen nicht glauben, dass Jesus bereits in der Krippe wusste, dass er der Sohn Gottes ist. Offensichtlich gelangte er zu der Erkenntnis, dass ihm eine besondere Botschaft innewohnt, erst kurz bevor er den See Genezareth erreichte. Im Johannes-Evangelium gibt es dazu kryptische Dialoge. »Der Vater hat mich gesandt«, sagt Jesus an einer Stelle. An einer anderen öffnet sich der Himmel und aus seiner Höhe herab verkündet Gott: »Das ist mein vielgeliebter Sohn.«

      In unsere aufgeklärte Denkart, die Ereignisse wie dieses als Esoterik diskreditiert und die keine Sprache mehr dafür hat, könnten wir das am ehesten unter der Überschrift Tiefenpsychologie einordnen. Als tiefenpsychologisches Drama vielleicht, denn Jesus begriff nach vierzig Tagen des Fastens, wer er wirklich ist.

      Er absolvierte jedenfalls anscheinend einen Erkenntnisprozess, dessen sich Jack Dorsey, Phil Libin und Steve Jobs 2000 Jahre später durch ihre Übungen im Verzicht ganz bewusst ebenfalls bedienten.

      Fasten klärt den Geist.

      Weglassen weist den Weg.

      Das richtige