Johannes Huber

Die Kunst des richtigen Maßes


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ist für uns Menschen möglich? Wie groß können wir werden? Wie lautet der biblische Satz von der Öffnung des Himmels in der Sprache unserer Seele?

       Das richtige Maß beim Verzicht

      Leonardo da Vinci sagte:

      Die Einfachheit ist die höchste Stufe der Vollendung.20

      Wir hören es und finden es gut, und doch widerspricht es unseren inneren Programmierungen. Das lässt sich unter anderem mit einer kürzlich im Wissenschaftsmagazin Nature publizierten Studie des Sozialpsychologen Gabriel Adams21 belegen. Das Experiment beschäftigte sich mit der Kunst des Weglassens. Die Probanden, allesamt Architekturstudenten, bekamen die Aufgabe, ein Dach zu errichten. Sie sollten versuchen, die stabilste Konstruktion zu finden.

      Die jungen Tüftler machten sich ans Werk. Fast alle fügten mehr Schindeln hinzu und verwendeten mehr Materialien. Bald zeigte sich: Wenn ein Dach zu schwer ist, hat das viele Nachteile. Nur Wenige fanden die stabilste Konstruktion. Die Voraussetzung dafür war, wegzulassen, statt hinzuzufügen.

      Der Mensch fügt grundsätzlich lieber etwas hinzu, als etwas wegzulassen. Das ist ein innerer Drang. Wegzulassen ist kognitiv viel anstrengender als hinzuzufügen. Addieren ist kognitiv einfacher als Subtrahieren. Dazu kommt unsere längst auch in Studien dokumentierte Ehrfurcht vor dem Bestehenden.

      Etwas wegzulassen, gilt gemeinhin auch als weniger kreativ, als etwas hinzuzufügen. Dabei liegt die Schönheit zum Beispiel in der Arbeit eines Bildhauers immer im Weglassen und Wegnehmen. Aus einem formlosen Block schlägt der Künstler die Form. Die menschliche Standardeinstellung lautet also schlicht und einfach:

      Mehr ist mehr.

      Aktuell sind wir allerdings alle umgeben von einem Gefühl des Zuviels. Explodierende Zeitpläne, mehr, schneller, besser. Ausartende Bürokratie, explodierende Kommunikation, immer mehr Arbeit innerhalb der gleichen Zeit. Der ganze Planet, der durch ständiges Hinzufügen von Neuem an die Grenzen seiner Möglichkeiten und Ressourcen stößt. Bis er zu platzen droht. Das fördert unsere Bereitschaft, zu verzichten, wenn wir es denn schaffen, aber ist Verzicht umso besser, je radikaler er ausfällt, wie es die drei genannten Beispiele aus dem Silicon Valley vermuten lassen könnten?

      Die Antwort lautet Nein. Denn auch das wäre ein Dogma und Dogmen können uns bei unserer Suche nach dem richtigen Maß nur im Wege stehen. Es gibt wie gesagt keine allgemeingültige Regel für das richtige Maß. Es ist keine starre Größe wie zum Beispiel: Iss nur einmal am Tag und das wenn möglich nur fünf Mal in der Woche, dann bist du so weit. Das wäre zu einfach. Wir müssen uns vielmehr immer wieder fragen, wo und wann wir den Punkt erreichen, an dem etwas nicht mehr passt, an dem wir das Gefühl haben, unsere innere Mitte zu verlieren.

      Der Buddhismus etwa sieht Fastenrituale eher skeptisch. Zur Erleuchtung gelangt der Mensch laut Buddha nicht durch Kasteiung, sondern eben durch das richtige Maß. Streng genommen gehört das Fasten gar nicht zur grundlegenden buddhistischen Praxis, es dient dort eher dazu, Gefühle zu erkennen und daraus zu lernen. Das drückt sich auch in einer Legende aus dem Leben des Buddha aus. Siddhartha, der junge Buddha, heißt es, fastete, bis er »sein Rückgrat durch seinen Magen spüren« konnte. Dann fiel er in Ohnmacht und erkannte, dass bloße Kasteiung nicht zur Erleuchtung führt.

      Kehren wir an dieser Stelle noch einmal zurück zu Josef Pieper, dem bereits zitierten deutschen christlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts und seiner Unterscheidung zwischen außergewöhnlichen, schon zur Vollkommenheit gereiften Persönlichkeiten und durchschnittlichen Menschen. Auch Letztere sind in der Lage, zur Elite zu werden, lautete das Zitat, aber sie bedürfen des Verzichtes, um ihre innere Ordnung herzustellen.

      Wir könnten die Frage nach dem Nutzen der Askese und ihrer Wechselwirkung mit dem richtigen Maß also so beantworten: Das richtige Maß besteht nicht in Askese, aber Askese ist eine gute Möglichkeit, es zu finden und sich darin zu trainieren, es zu wahren.

Winkelmaß und Zirkel

      Wie kam der Mensch darauf, dass es das richtige Maß zu wahren gilt, wenn er werden will, was er sein kann? War ihm dieses Wissen in die Wiege gelegt? Und wenn nicht, wovon auszugehen ist, wie entstand es? Das sind spannende und interessante Fragen, auf die es eine ebenso spannende und interessante Antwort gibt, und die hat viel mit der Freimaurerei zu tun.

      Die Geschichtsschreibung kennt einen relativ klar abgrenzbaren Punkt, ab dem das richtige Maß als Mittel und Instrument des Menschen für ein inneres Wachstum zu Höherem Thema wurde. Um diesen Punkt zu erkennen, müssen wir uns zunächst mit dem Bauwesen befassen. Fangen wir mit seiner basalsten Grundlage, der Waagrechten an. Von der Waagrechten aus erhebt sich alles und auf ihr lässt sich alles aufbauen. Die Baumeister der Pyramiden, der Megabauten schlechthin, legten jeweils rund um die Baustelle einen Kanal an, weil sie vom Wasserspiegel ausgehend das richtige Maß eruieren konnten. Die Waagrechte ist das erste Prinzip, das Maurerlehrlinge verstehen müssen.

      Der erste Mega-Bau, der in der europäischen Geistesgeschichte immer wieder Gestalt annimmt, ist der Tempel des König Salomo, des Herrschers des vereinigten Königreiches Israel im 10. Jahrhundert vor Christi Geburt. Dieser Tempel war gleichsam ein Vorläufer der Kathedralen, die mit ihren 100 oder sogar 150 Meter hohen Türmen die Frage aufwerfen, wie sie mit damaligen technischen Mitteln überhaupt zu errichten waren.

      Irgendwann fingen die Freimaurer an, diese Geheimnisse nicht nur für die Architektur von Gotteshäusern, sondern auch für die innere Architektur des Menschen anzuwenden. So, wie sie zunächst auf wundersame Weise dafür sorgten, dass ihre steinernen Werke in den Himmel wuchsen, sorgten sie von da an dafür, dass Menschen wahre Größe erreichen und werden, was Menschen sein können.

      Welche Geheimnisse kannten ihre Baumeister, um ohne jegliches Computerprogramm die Statik genau genug für ihre Kathedralen berechnen zu können? Und wie konnten sie diese Geheimnisse auch für die Befreiung der Seele des Menschen anwenden?

       Der Beitrag der Maurer

      Im Inneren einiger Kathedralen weisen geheimnisvolle Spuren auf die spannende Beziehung zwischen der Architektur sakraler Bauten und der inneren Architektur des Menschen hin. Unvergesslich ist mir in diesem Zusammenhang die frühere Diözesanarchivarin des Wiener Stephansdoms, Dr. Annemarie Fenzl. Ausgewählte Besucher führte sie zur sogenannten Pilgramkanzel im Dom, wo sie ihnen mit einer speziellen UV-Lampe in den Stein gravierte Zeichen zeigte.

      Es war dann zunächst immer eine Art ultraviolette Offenbarung eines Wirkens und Denkens abseits dessen, was wir rational in unsere Betrachtung der Geschichte einordnen können. Sie fasziniert, diese Offenbarung, weil die Botschaft der Symbole ungemein einfach ist und gerade deshalb nach einer tieferen Deutung zu verlangen scheint.

      Drei Gruppen von Menschen haben an der Errichtung des Doms gearbeitet, lautet sie. Lehrlinge, Gesellen und Meister. Sie mussten Gesetze einhalten, damit der Bau auch wirklich hält. Das ist die Grundlage jeder Maurerkunst. Welche tiefere Deutung legt das nahe?

      Unter der Kanzel, geschützt vor den Blicken vorbeiströmender Gläubiger und Touristen, gibt es ein Fenster. Durch dieses Fenster schaut der Meister heraus, der den Dom erbaut hat, Baumeister Anton Pilgram. In seinen Händen hält er Winkelmaß und Zirkel, die Hauptinsignien der Freimaurerei. Warum?

      Hier sind wir genau an jenem Punkt, ab dem das richtige Maß als Mittel und Instrument des Menschen für ein inneres Wachstum zu Höherem Thema wird. Rund um Winkelmaß und Zirkel entstand das große Mysterium der Freimaurerei, das detailliert wie keine andere philosophisch-spirituelle Tradition mit dem richtigen Maß als Herzstück den Weg des Menschen zu dem, was er sein kann, zeigt.

      Womit wir uns auch auf eine tiefere Deutung der geheimnisvollen, im Stein der Pilgram-Kanzel verewigten Symbole festlegen können: Wir müssen die Gesetze des richtigen Maßes einhalten, damit wir werden, was wir sein können. Auf dem Weg dorthin sind wir zunächst Lehrlinge, dann Gesellen und schließlich Meister. Das ist eine der Botschaften der Freimaurerei.

      Die