Osama Abu El Hosna

Wie wir nicht sind


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weinte jeden Abend. Sie versuchte nicht einmal mehr, es zu verstecken.

      Wir hatten endlich das Visum. Aber das hielt die Zollbeamten an der Grenze nicht davon ab, uns bei unserem ersten Versuch wieder zurückzuschicken. Meine Mutter flehte und bettelte, aber sie blieben hart, und so kam es schneller zu einem Wiedersehen mit meiner Großmutter und meinen Freunden, als ich es mir gewünscht hatte. Noch in derselben Nacht riefen wir meinen Vater verzweifelt an. Wir wussten, wie schwer es war, über die Grenze zu kommen. Wir wussten es von den Geschichten der anderen. Vor allem als sechsköpfige Familie. Wenn sie uns in Ägypten nicht durchlassen würden, wie sollten wir dann nach Österreich kommen? Alle anderen Grenzen waren geschlossen, es war unmöglich auszureisen. Nur wer eine schwere Krankheit hatte, durfte es. Die Grenze nach Ägypten war unsere einzige Chance. An allen anderen Grenzen stirbst du, hieß es immer.

      Mein Vater versuchte uns zu beruhigen. Er sagte uns, wir sollten der ersten Person, die wir an der Grenze treffen würden, alles Geld geben, was wir gespart hatten. »Und helft eurer Mutter!«, sagte er.

      Wir nickten. Mein Vater versuchte uns Hoffnung zu machen, aber auch seine Stimme klang sehr ernst und angespannt. Erst heute, wenn ich daran zurückdenke, wird mir das richtig bewusst. Ich glaube, wir haben damals einfach alle Hoffnung gebraucht, jeden Funken und das wusste er. Wir konnten uns keinen Zweifel erlauben, auch wenn wir ahnten, wie knapp es werden konnte. Sie mussten uns einfach durchlassen.

      Am nächsten Tag also versuchten wir es erneut. Wir verließen das Haus ganz in der Früh. Um acht Uhr kamen wir an der Grenze zu Ägypten an. Wir taten, wie mein Vater gesagt hatte. Ich weiß heute noch genau, wie wir in dem kleinen Raum an der Grenze saßen. Es wurde immer später. Die Luft war heiß und stickig. Meine Mutter hatte direkt nachdem wir angekommen waren, einem der Männer das Geld gegeben. Dann waren wir zur nächsten Grenze gebracht worden. Dort warteten und warteten wir. Der Zeiger der großen Uhr über uns schritt ohne Mitleid voran. Wir warteten über Stunden. Irgendwann waren wir so erschöpft, dass wir nicht einmal mehr weinen konnten. Der Raum leerte sich immer mehr. Wir waren die letzten. Yasin und Ali, die kleinsten von uns, waren auf ihren Stühlen mit offenem Mund eingeschlafen. Ich konnte auch noch kaum meine Augen offenhalten, als endlich jemand kam – ein großer, ernst aussehender Mann, der sich vor uns aufbaute. In seiner rechten Hand hielt er unsere Reisepässe. Wir hatten über dreizehn Stunden auf diesen Moment gewartet. Schnell schlugen wir die Pässe auf. Die Stempel lachten uns an. Wir hatten es geschafft.

      Wir versuchten, so schnell wie möglich nach Kairo zu kommen. Dort sah es aus wie in einer anderen Welt. Nein, es sah nicht nur so aus, es war eine andere Welt. Ich war noch nie in einer so großen Stadt gewesen. Es war außergewöhnlich. Dort gab es schöne Möbel und keine Anzeichen von Krieg. Die Leute sahen alle so elegant aus. Das war nicht normal für uns.

      Es ging alles sehr schnell. Während wir noch über die Stadt, ihre Bewohner und die wahnsinnigen Autos staunten, saßen wir bereits in einem Flugzeug. Wir hatten natürlich schon gelernt, was ein Flugzeug war, aber wir hatten nie zuvor eines in echt gesehen. Früher, wenn ich Bilder davon im Internet gesehen hatte, wollte ich manchmal gar nicht richtig hinsehen. Ich dachte mir, warum auch, wenn ich es sowieso nie kennenlernen werde? Dass ich davon träumte weit wegzufliegen, die ganze Welt zu bereisen, das behielt ich für mich. Dabei hatten wir Kinder in Gaza, glaube ich, damals alle dieselben Träume. Ich saß in dem großen Flugzeugsitz und drückte meine Nase an das Fenster. Ich flog weit weg und musste doch an meine Freunde in Dschabaliya denken, daran, dass die meisten von ihnen wahrscheinlich nie erfahren würden, was es heißt, in einem Flugzeug zu sitzen. Das Gefühl, wenn der Magen ein Stück auf der Erde zurückbleibt. Das Meer von oben.

      Wir flogen also nach Österreich. Mein Vater hatte uns nicht viel über dieses Land erzählt, nur dass es schön sei dort, die Menschen nett seien, und vor allem sicher.

      »Es ist sicher hier«, hatte er immerzu wiederholt. Wir wussten also nicht wirklich, was uns dort erwarten würde. Aber als wir am Flughafen ankamen, spielte es für einen Moment auch keine Rolle mehr, wo wir waren, in welchem Land, auf welchem Fleck Erde. Nach fünf Jahren sahen wir zum ersten Mal meinen Vater wieder, in echt, wir konnten ihn wieder umarmen. Das war einer der schönsten Augenblicke meines Lebens und obwohl ich nicht das beste Gedächtnis habe, wenn es um Zahlen oder Daten geht, weiß ich dieses Datum heute noch ganz genau. Es war mein Geburtstag, der 14. September 2012 und wir waren wieder zusammen. Eine Familie.

      Als Familie hielten wir auch die nächsten Wochen zusammen. Anders, als wir es uns ausgemalt hatten, blieb es eng, wurde sogar enger, als wir es aus Gaza kannten. Wir tauschten unser Haus, indem wir als Familie gewohnt hatten gegen das Aufnahmelager in Traiskirchen ein, in dem wir einige Monate blieben. Danach kamen wir in das Caritashaus im achten Bezirk. Auch dort war es beengt, ein Haus mit vielen Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen. Dort roch es in jedem Stockwerk nach unterschiedlichen Gewürzen und man verstand sich mit Händen und Füßen. Wir waren alle fremd in diesem Land, das unsere neue Heimat werden sollte, aber da wir zusammen fremd waren, waren wir es weniger.

      Viele Österreicher, die ich später kennenlernte, konnten nicht begreifen, warum ich mich dort so wohlgefühlt hatte. Sie sehen nur die Enge, die vielen Menschen, die abgeschlagenen Türen, die abgewetzten Wände, das Chaos. Sie sehen einen Endpunkt. Für mich war es aber der Beginn meines Lebens in Österreich. Für uns alle war es das. Nach einiger Zeit dort bekamen wir in dem Haus eine kleine Wohnung zugeteilt, mit eigenem Bad und kleiner Küche. Es war ein Glück. Überhaupt habe ich mich fast nie wieder so wohlgefühlt, wie damals in diesem Haus mit den Menschen, die alle eine andere Sprache und doch dieselbe sprachen. Wir verständigten uns mit einem Lächeln, mit Gesten und mit Gerichten aus unserer Heimat. Wir spendeten Trost, wenn es mal schwer wurde, durch kleine Teller, die wir einander vor die Tür stellten.

      Mein Vater hatte uns erzählt, wie schön es in Österreich war, aber hatte er uns auch von den Schwierigkeiten erzählt? Wir sahen ihn immer öfter mit hängenden Schultern auf seinem Stuhl sitzen. Er hatte keine Arbeit als Englischlehrer bekommen, konnte noch nicht ausreichend Deutsch sprechen, und seine Ausbildung zählte hier nichts. Wir Kinder verstanden nicht, warum er sich trotzdem immer wieder aufraffte, warum er trotzdem glücklich war. Dabei war es für meinen Vater ganz einfach. Er hatte seine Arbeit verloren, aber er wusste seine Frau und seine Kinder in Sicherheit. Nichts anderes zählte. Er fand bald eine andere Arbeit und hielt trotzdem weiter an seinem großen Traum, eines Tages nach England zu gehen, um dort noch einmal studieren zu können, fest. »Nur nicht aufgeben«, sagte er uns, »niemals aufgeben«.

      Wir Kinder nickten, aber wir ahnten bereits, dass wir auch in Österreich schneller erwachsen werden mussten. Wir wollten arbeiten gehen, unsere Eltern unterstützen, ihnen eine Zukunft für ihre Träume bieten, nachdem sie uns die Chance für einen Anfang geschenkt hatten. Den anderen Kindern, die wir kennenlernten und mit denen wir durch die Parks im achten Bezirk zogen, ging es ähnlich. Unsere Lebensläufe glichen einander. Vielleicht versuchten wir auch deshalb, jede Sekunde unserer Kindheit auszukosten. Wir waren eine wilde Bande von Kindern aus unterschiedlichen Ländern, aus Österreich, Syrien, Tschetschenien, Palästina, der Türkei und Bosnien. Ich saugte alles auf, was ich für die österreichische Kultur hielt. Die Ein-Euro-Kekse, den Clever-Orangensaft, und die Tatsache, dass man immer den zur Tageszeit passenden Gruß sagen musste, was ich damals für typisch österreichisch hielt. »Guten Morgen«, »Guten Abend«, »Grüß Gott«, übte ich vor dem Spiegel, und was mir am Anfang wie eine Geheimsprache vorgekommen war, verlor ihren Zauber, ordnete sich langsam in ein Alphabet, dessen Regeln ich zu verstehen begann.

      Wir waren fremd, aber wir wollten alles versuchen, um anzukommen. Ich lernte Menschen kennen, die mir dabei halfen, mich besser zurechtzufinden. Da war der nette Deutschlehrer, der nie seine Geduld verlor. Da waren die Betreuer im Hamerlingpark, bei denen wir uns Bälle und Spielzeug ausleihen konnten, und wo wir etwas zu Mittagessen bekamen. Es war die glücklichste Zeit, an die ich mich zurückerinnern kann. Es war eine Zeit ohne Gefahr, dieser zweite Teil meiner Kindheit.

      Im Gazastreifen, noch einen Monat vorher, war es nie einfach nur draußen sein, einfach nur Fußball spielen. Es war immer alles begleitet von diesem Gefühl, dass jederzeit alles passieren konnte. Die wenigen Fußballplätze, die es in Gaza-Stadt gibt, sind umgeben von großen Parks, Gärten, in denen