Philippe Wampfler

Eine Schule ohne Noten (E-Book)


Скачать книгу

der Funktion von Schule widersprechen. Statt ganzheitlich und selbstwirksam zu lernen, nehmen Kinder schnell die Kriterien in den Blick, die bewertet werden. Sie geben sich in Fächern ohne Noten weniger Mühe, investieren kaum Zeit in freiwillige Projekte und lösen Aufgaben so, dass sie dafür Punkte bekommen: Wird Französisch nur schriftlich geprüft, lernen Kinder nicht, wie Wörter ausgesprochen werden, sondern lediglich, wie sie buchstabiert werden. Fächer, die in Abschlussprüfungen besondere rechnerische Bedeutung haben – oftmals Deutsch, Mathematik, Englisch – werden von den Lernenden ernster genommen als die anderen.

      Das Bewusstsein für die fehlerhafte Steuerung, die von Noten ausgeht, steigt: Besonders bei jungen Kindern und bei erfolgreichen Studierenden intensivieren sich Tendenzen im Bildungssystem, von Noten wegzukommen. Sie scheinen weder ein gutes Instrument zu sein, um Lust auf Lernprozesse zu machen, noch eigenen sie sich für die Qualifikation von beruflich erfolgreichen Menschen. Lediglich in der Mitte, dort wo Schülerinnen und Schüler an Schule gewöhnt sind, aber noch nicht in direkten Kontakt mit der Arbeitswelt getreten sind, dort halten sich Noten.

      In diesem Sinne sind die folgenden Seiten ein Plädoyer für ein Umdenken. Schule und Noten sind gedanklich aneinander geknüpft, wir haben gelernt, Unterricht mit Prüfungen und Bewertungen zu verknüpfen. Damit wir uns von dieser Vorstellung lösen können, müssen wir umdenken und den Prozess des Ent-Notens in Angriff nehmen. Dazu braucht es viele kleine Schritte, aus denen ein großer Schritt entstehen kann.

      Auch das vorliegende Buch ist nur ein kleiner Schritt – viele andere wurden vorher unternommen, viele weitere werden folgen. Die hier nachgezeichneten Überlegungen verdanken sich der Inspiration vieler Mit- und Vordenkenden, den mutigen Experimenten von Pionierinnen und Pionieren, differenzierten Forschungsergebnissen aus der Wissenschaft und dem beharrlichen Einsatz zahlloser Lehrenden in der Praxis.

      Besonderen Dank möchten wir folgenden Menschen aussprechen:

      Unseren Kolleginnen und Kollegen, die im Rahmen unserer Arbeit und im digitalen Austausch viele Hinweise und Ideen vorgebracht haben, die in dieses Buch eingeflossen sind. Enorm wertvoll ist für uns insbesondere der Austausch im Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, auf den auch unsere Zusammenarbeit zurückzuführen ist.

      Zwei Vorarbeiten waren uns bei der Niederschrift dieses Textes besonders wichtig. Wir empfehlen sie allen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen: Wer sich stärker wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen möchte, sei auf die Bücher von Felix Winter hingewiesen, wer die US-amerikanische Praxis des «Ungrading» kennenlernen möchte, sollte das Buch von Susan Blum mit demselben Titel lesen. Die Diskussion über Noten läuft weiter. Wer sie auf digitalen Plattformen verfolgen und sich beteiligen möchte, kann den Hastag #notenade verwenden.

      

      Remo Largo[3]

      Wo es Unterricht ohne Noten gibt

      «Die Einführung von Zeugnissen ohne Noten in der Grundschule eröffnet der pädagogischen Forschung die Chance, nach Jahrzehnten kritischer Anfragen an die Gerechtigkeit von Ziffernzensuren die Erfahrungen aufzuarbeiten, die heute Lehrer, Kinder und Eltern mit Zeugnissen ohne Noten machen.»[4]

      Wenn Schulen auf Noten verzichten, dann eröffnet das ein Feld für die Forschung, die ermitteln kann, ob und wie dieser Entwicklungsschritt auf alle Schulen übertragen werden kann. Dieser Gedanke ist nicht neu: Das einleitende Zitat stammt aus einem 1985 erschienenen Aufsatz. Das zeigt: Nicht nur die Forderung, Noten abzuschaffen, oder die Argumente, weshalb das ein sinnvoller Schritt ist, haben eine lange Geschichte – auch die praktische Umsetzung ist Teil einer bereits längeren Tradition.

      Diese Tradition zeigt uns: Schulen sind nicht an Noten gebunden, Lernen hängt nicht von Noten ab. Es geht auch anders.

      Im folgenden Kapitel soll aber diese Tradition an den Rand rücken: Im Fokus stehen aktuelle Lehr- und Lernformen, die ohne Noten auskommen. Die einleitenden Überlegungen zeigen, dass Noten zu Beginn und am Ende der formalen Ausbildung eine immer geringere Rolle spielen, nur in der Mitte der Schullaufbahn erscheinen sie aktuell alternativlos. Zwei ausführliche Fallbeispiele im zweiten Teil des Kapitels geben einen Einblick, wie aktuell ohne Ziffernnoten unterrichtet wird.

      Notenfreier Unterricht an Grundschulen …

      Wir müssen weder weit reisen noch vergangene Zeiten heraufbeschwören: Unterricht ohne Noten ist zu Beginn der Schulerfahrung für Schülerinnen und Schüler im deutschsprachigen Raum heute Realität. In Basel etwa werden Leistungen bis zur vierten Klasse nicht mit Noten beurteilt. An ihre Stellen rücken Aussagen, die beschreiben, ob Anforderungen oder Lernziele erreicht wurden. Diese Aussagen werden teilweise auch symbolisch dargestellt, etwa mit Gesichtern oder Farbcodes. Zusammengefasst kann man den notenfreien Unterricht an Schweizer Primarschulen wie folgt umschreiben: Lehrpersonen geben Schülerinnen und Schülern Rückmeldungen darüber, ob sie das können, was sie gemäß den Vorgaben können sollten. Sie nehmen so auch Förderbedarf wahr und bieten den Kindern Unterstützungs- oder Begabungsförderungsunterricht an. Die Eltern werden im Rahmen von Entwicklungsgesprächen einbezogen, in denen besprochen wird, wie das Kind mit den Anforderungen umgeht und wie es sich entwickelt. Was wegfällt: Diskussion, Rechtfertigung und Begründung von Noten. Dadurch rücken Lernen und Kompetenzen von Kindern in den Mittelpunkt.

      Wer Unterricht mit Noten erlebt hat, wird stets versuchen, Informationen aus Gesprächen oder Codierungen in Noten zu übersetzen. So erscheinen differenzierte Rückmeldeverfahren schnell als unnötig, als intransparent oder aufwendig. Doch für die tatsächliche Arbeit mit jungen Schülerinnen und Schülern in der Primarstufe und für ihre Wahrnehmung von Schule ändert sich die Perspektive radikal: Die Notwendigkeit, Prüfungen durchzuführen, mit denen sich Ziffernnoten belegen lassen, entfällt. Vielmehr können Lernende ermutigt werden, Lernziele zu erreichen, den Anforderungen zu genügen oder sie zu übertreffen. Lehrpersonen geben Rückmeldungen, die aber nicht aus Urteilen bestehen, sondern dazu einladen, sich selber einzuschätzen und die Anforderungen wahrzunehmen.

      Gleichwohl sind diese Bestrebungen umstritten. Eltern und Teile der Bildungspolitik erwarten von Schulen Noten, die sie mit Leistungsfähigkeit und Wettbewerb assoziieren. Immer wieder äußern sie die Vermutung, eine Schule ohne Noten würde Kinder schlecht auf gesellschaftliche und berufliche Aufgaben vorbereiten, sie sei zu weich.

      Kommende Generationen werden aber auf Schulerfahrungen zurückblicken, in denen Leistungen nicht bewertet wurden, sondern in denen verbindliches Feedback gegeben wurde und Gespräche über Lernzielerreichung stattfanden. Sie dürften eine andere Wahrnehmung von Schule und dem eigenen Lernprozess entwickeln.

      Was an diesen Grundschulen geschieht, entspricht Lernerfahrungen, die Kinder vor der Schule machen. Im Kindergarten und zu Hause lernen sie selbstverständlich, entwickeln sich in einigen Bereichen schneller, in anderen langsamer als Gleichaltrige. Sie erhalten vielfältige Rückmeldungen auf ihr Lernen und beziehen diese mit ein. Diese Rückmeldungen bestehen aber nie aus Noten, nur ganz selten aus Beurteilungen. Schulen nehmen diese Grunderfahrungen auf und lösen sich von Notensystemen, die auf Kinder willkürlich und unverständlich wirken.

       Das erste Beispiel zeigt: Kinder lernen ohne Bewertungen. Sie arbeiten und leisten auch in der Schule viel, ohne dass sie dafür benotet werden.

      … und an Elite-Unis in den USA

      Medizinische und juristische Fakultäten an Elite-Universitäten in den USA haben aufgehört, Leistungen von Studierenden zu benoten.[5] Sie verwenden stattdessen ein einfaches System, das auf der Unterscheidung bestanden/nicht-bestanden beruht (wobei Studierende sehr selten Kurse nicht bestehen), teilweise gibt es zusätzlich noch Auszeichnungen für herausragende Leistungen.

      Die Universitäten reagieren damit auf zwei Einsichten: Erstens haben Noten und die damit verbundene Vergleichbarkeit von Studierenden auf dem Berufsmarkt zu einem hohen Druck geführt, der zahlreiche Krisen und hohe Suizidraten ausgelöst hat.