Philippe Wampfler

Eine Schule ohne Noten (E-Book)


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Tätigkeit von Ärztinnen und Anwälten keine Bedeutung hat, wie die Noten in einem Einführungskurs zu Biochemie oder römischem Recht ausfallen. Entscheidend ist, ob die Studierenden die entscheidenden Lernschritte bewältigt haben, ob sie qualifiziert sind.

       Das zweite Beispiel zeigt: Qualifikationen sind nicht nur von Bewertungen unabhängig – Noten belasten Lernprozesse.

      Verbindet man diese Beispiele miteinander, so zeigen sich deutliche Tendenzen: Bei Kindern und professionellen Erwachsenen wird ersichtlich, dass Bewertungen Lernprozesse von dem ablenken, was im Zentrum der Bemühungen von Bildungsinstitutionen stehen sollte. Alternativlos erscheinen Noten nur noch in Zwischenphasen. Warum eigentlich? Weshalb ist so undenkbar, dass ältere Kinder und Jugendliche ohne Notendruck lernen, wenn das doch in jeder anderen Lebensphase nicht nur möglich, sondern geradezu selbstverständlich ist?

      Die folgenden Fallbeispiele zeigen, dass es auch für das notenfreie Lernen älterer Schülerinnen und Schüler aktuell bereits funktionierende Formen gibt.

      Fallbeispiel 1: Evangelische Schule Berlin Zentrum (ESBZ)

      In Berlin ist es per Beschluss der Schulkonferenz möglich, Schülerinnen und Schüler bis zum 2. Halbjahr der 9. Klasse notenfrei lernen zu lassen:

      «In der Integrierten Sekundarschule und der Gemeinschaftsschule kann die Schulkonferenz mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer stimmberechtigten Mitglieder beschließen, dass ab der Jahrgangsstufe 3 bis längstens einschließlich des ersten Schulhalbjahres der Jahrgangsstufe 9 der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler durch schriftliche Informationen zur Lern-, Leistungs- und Kompetenzentwicklung beurteilt wird.»[6]

      An der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) wird davon seit der Gründung 2007 Gebrauch gemacht. Ziffernnoten werden ersetzt durch qualitative Leistungsrückmeldungen. Dazu kommt ein Tutor-System, über das Lerndialoge in unterschiedlichen Formen fest institutionalisiert sind. Tutorgespräche sind im Stundenplan verankert, sie sind kein unbezahltes Add-on. Die Maxime in diesen Gesprächen ist eine enge Begleitung sowohl bei tagesaktuellen Fragen als auch bei längerfristigen Studienaufgaben. Dabei geht es um die Persönlichkeitsentwicklung, um die Entfaltung von Freiheit und Selbständigkeit. Aber auch um selbstgesteuerte Hilfe. «Wo wünschst du dir Unterstützung?», fragt Schulleiterin Caroline Treier ihre Schülerinnen und Schüler bei diesen Gesprächen, und: «Was ist dir heute wichtig?»

      Zweimal pro Jahr erfolgen Bilanz- und Zielgespräche, die neben dem Rückblick auch Ziele fokussieren. Das Besondere: Die Schülerin steht im Mittelpunkt, sie zieht Bilanz, der Fokus der Lernenden steht im Vordergrund. Die Lehrperson und die Eltern sind unterstützende Teilnehmer am Gespräch. Ziel ist es, dass die Schülerin für sich bedeutsame Halbjahresziele formuliert. Grundlage der Gespräche sind die individuellen Logbücher, die den Lernenden zur Dokumentation von Zielen, Vereinbarungen, Planungen, zur Rechenschaftslegung und zur Darstellung von Erfolgen dient.

      Ein weiteres Element sind Zertifikate für bestimmte Lernleistungen. Dazu gibt es standardisierte Bausteine, die auf beliebige Lerngegenstände angewendet werden können. Was wurde erreicht? Was ist hervorzuheben? Welche Tipps und Vereinbarungen sollen festgehalten werden? Das sind Fragen, die in dem Zertifikat beantwortet werden. Benutzt werden auch Kompetenzraster. Neben der standardisierten Ausweisung von Leistung dienen die Zertifikate also auch der individuellen Rückmeldung. Vor der Ausstellung des Zertifikats steht die reflektierte Selbsteinschätzung des Lernenden; sie erfolgt ko-konstruktiv im Dialog mit der Lehrkraft. «Ich nehme die Textbausteine der Schüler auf und nehme sie ins Zertifikat», sagt Caroline Treier. Drei Parteien setzen ihre Unterschrift darunter: Lehrkraft, Schülerin oder Schüler und ein Elternteil. Um die Zertifikate innerhalb der Schule bzw. der Fachbereiche zu vereinheitlichen, wurde neben der kontinuierlichen Arbeit an Differenzierung, Materialerstellung und Leistungsrückmeldung in der Fachschaft eine externe Evaluation vor ca. zwei Jahren durchgeführt.

      Am Schuljahresende ersetzen Lernberichte Zeugnisse mit Ziffernnoten in Jahrgang 7 bis 8 und ergänzen diese in den Jahrgängen 9 bis 11. Die Lernberichte enthalten einen ausformulierten Text und zusätzlich eine Übersicht über die erworbenen Zertifikate. Die Zertifikate werden im Laufe des Schuljahres ausgeteilt und in einer Dokumentationsmappe gesammelt. Zwei Anforderungen müssen die Lernberichte vor allem gerecht werden: Sie sollen klar sein in der Darstellung, ohne etwas zu beschönigen, und gleichzeitig motivierend für nächste Lernschritte. All diese Leistungsrückmeldungen werden in den halbjährlichen Bilanz- und Zielgesprächen besprochen. Hier sind die Eltern eher als Beisitzer und Gäste in einer zuhörenden und zurückhaltenden Funktion. Zusätzlich stellt die Schule bei Abgang nach der Oberstufe ein sogenanntes ESBZ-Zeugnis aus, da es hier noch keine Lernberichte oder Zertifikate gibt. Hier werden Besonderheiten des Lernenden, Teilnahmen an Wettbewerben, individuelle Umstände und Progressionen abgebildet. Gerade mit diesem Instrument sind die Erfahrungen im Übertritt zu nächsten Bildungseinrichtungen, bei Bewerbungen, Stipendien u.ä. sehr positiv.

      Was passiert, wenn die Schülerinnen und Schüler dieser Schule in der gymnasialen Oberstufe mit Noten konfrontiert sind? Die Beteiligten sind sich einig. «Da merken wir einen Bruch», muss Schulleiterin Caroline Treier feststellen. «Sobald Noten im Spiel sind, geht es um Noten, differenzierte Leistungsrückmeldungen rücken leider in den Hintergrund», sagt Christian Hausner, der an der ESBZ unterrichtet. Eine Schülerin, die vorher auf einem Gymnasium mit Benotung zu kämpfen hatte und dann auf die ESBZ wechselte, meint: «In meiner alten Schule ging es nur darum, wer die besten Noten in Arbeiten und Tests schreibt. Ich war total überfordert. Wir hatten jeden Tag mindestens einen Test und es ging nur um Leistung. In der 8. Klasse an der ESBZ keine Noten zu haben, entspannte mich. Ich durfte in meinem Tempo lernen und wurde auch nicht schlecht dargestellt, wenn es mal nicht so gut lief. Ab der 9. Klasse kamen wieder Noten und das hat dazu geführt, dass wir uns so einen Leistungsdruck gemacht haben.» Eine Oberstufenschülerin meint in Rückschau: «In der 7. und 8. Klasse, als wir noch keine Noten hatten, wollte ich manchmal auch benotet werden. Doch jetzt denke ich: Das war sehr gut, keine Noten zu bekommen. Wir waren nicht in Konkurrenz untereinander und ich finde Noten nicht immer fair und aussagekräftig.»

      Neue Kolleginnen und Kollegen werden systematisch mit der Vorgehensweise an der Schule vertraut gemacht, denn so, wie sich die Schülerinnen und Schüler ab Klasse 10 an Noten gewöhnen müssen, müssen sich neue Lehrkräfte auch an einen Lernkosmos ohne Noten gewöhnen. Für Eltern gibt es eine «Elternschule», um auch sie persönlich an die Maximen und Werkzeuge der Schule heranzuführen.

      An der Schule besteht der Anspruch, diese Lerndiagnosen an die Lernenden und Eltern klar und sinnstiftend zu kommunizieren: so differenziert wie möglich, um aussagekräftig zu sein und nächste Lernschritte vorzubereiten, so klar und reduziert wie nötig, um zur Kenntnis genommen zu werden und den Arbeitsaufwand nicht unmäßig zu erhöhen. Eine Herausforderung sieht die Schulleiterin derzeit darin, die Potenziale des Digitalen wirklich voll auszuschöpfen: Z.B. sollen die Logbücher mit den Notizen zu Halbjahres- und Wochenzielen digitalisiert werden. Es gibt bereits einen Fundus an digitalen Werkzeugen, die diese Formen der Leistungsrückmeldungen an der Schule unterstützen, aber das volle Potenzial in den Bereichen Kommunikation, Dokumentation und Reflexion ist noch nicht entfaltet.

      Fallbeispiel 2: Obersee Bilingual School

      von Nina Schnatz[7]

      Die Obersee Bilingual School im Kanton Schwyz am Fuße der Schweizer Alpen ist eine private, bilinguale Schule, die vom Vorkindergarten bis zur Matura oder dem Internationalen Bakkalaureat (IB) ca. 350 Lernende betreut. Seit Schulgründung basierte das Konzept schon auf den Prämissen von Individualisierung, selbstgesteuertem Lernen und Kompetenzorientierung, unterstützt durch digitale Tools. Die Schule stellte sich früh die Frage, was es bedeutet, Kompetenzen zu unterrichten. Wie bringe ich jemandem Fähigkeiten bei und wie prüfe ich diese? Die Lehrpläne sind bereits kompetenzorientiert gestaltet. Auch im Unterricht hat Kompetenzorientierung Einzug gehalten. Was aber im Sinne von Biggs Modell vom Constructive Alignment[8] noch fehlt, sind die Prüfungsformen, denn Lernziele, Methoden und Überprüfungsformen sollten eine Einheit bilden. Vernetztes Denken, Probleme lösen, im Team arbeiten und dort die Stärken jedes Einzelnen nutzen, analysieren, evaluieren und etwas neu erschaffen,