die zu verstehen oder auch nur wahrzunehmen ein Hinauslehnen über den Rand von uns verlangen würde, uns herzlich egal sind.
Der öffentliche Raum existiert natürlich, jedoch eher als Substitut, als Schein, als ein Schauspiel vor stark abgenutzten Kulissen, das die Herrschenden und ihre Rituale sich angeeignet haben. In den ausgetretenen Zentren, den früheren Orten des Gedankenaustauschs, gibt es keine Luft mehr. Die Agora ist nur mehr eine Ansammlung von Strecken und Bahnen, auf denen wir uns mechanisch bewegen. Die Universitäten haben ihre alte Rolle verloren und sind zum grotesken Abklatsch ihrer selbst geworden – statt Wissen zu erzeugen und Plattformen gegenseitiger Verständigung zu schaffen, ziehen sie sich hinter ihre Mauern und Portale zurück, indem sie den Wissenszugang beschränken und Forschungsergebnisse eifersüchtig voreinander geheim halten. Die Forschenden wetteifern blindwütig um Fördermittel und Punkte, haben sich in rivalisierende Lohnarbeiter verwandelt. Da wir das große Ganze nicht sehen, werden wir hin- und hergeworfen von lokalen Verwirbelungen und Strudeln und bleiben abhängig von den einzelnen Teilen des großen Puzzles – der gegebenen Welt und der, die wir darüber errichten.
In meinem Schreiben versuche ich immer, das Augenmerk und die Sensibilität meiner Leser und Leserinnen auf das große Ganze zu lenken. Ich habe mich am allwissenden Erzähler abgearbeitet, habe mit fragmentarischen Formen provoziert, indem ich suggerierte, es gebe Konstellationen, die über die simple Summe von Bestandteilen hinausgehen und einen eigenen Sinn kreieren. Mir scheint, die Literatur als unaufhörlicher Prozess des Erzählens der Welt hat größere Möglichkeiten als irgendetwas sonst, diese Welt in ihrer gesamten Perspektive gegenseitiger Einflüsse und Verbindungen zu zeigen. Weit gefasst, so weit wie möglich, ist sie von ihrer Natur her ein Netz, das die verzweigte, umfassende Korrespondenz zwischen allen Teilhabern des Seins verbindet und abbildet – eine raffinierte und ganz besondere, präzise und zugleich totale Art der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Ich komme in diesem Text immer wieder auf die Literatur zu sprechen – hier erwähne ich Kairos, da beziehe ich mich auf Flammarion und den anonymen Holzstich, den er irgendwo auftrieb, um sein Buch L’atmosphère. Météorologie populaire zu illustrieren. Viele Menschen, das weiß ich, sehen Literatur als leichte Unterhaltung an, in Form von Büchern, die man »wegliest« – ein Zeitvertreib, ohne den es sich ebenso glücklich und erfüllt leben lässt. Im weitesten Verständnis aber ist die Literatur ein Sesam der anderen Gesichtspunkte, der unterschiedlichen, durch den individuellen Verstand der einzelnen Menschen gefilterten Weltsichten. Und darin lässt sie sich mit nichts anderem vergleichen. Literatur, auch die älteste, die mündlich überlieferte Literatur, schafft Ideen und zeichnet Perspektiven, die sich tief in unserem Verstand verankern und ihn formatieren – ob wir es nun wollen oder nicht. Sie ist die Heimat der Philosophen (was ist denn Platons Gastmahl anderes als ein Stück gute Literatur?), bei ihr beginnt das Philosophieren.
Es wäre schwierig, eine Vision der Literatur für neue Zeiten zu kreieren, insbesondere, weil gut informierte Quellen zu wissen meinen, dass eben derzeit die letzte lesende Generation heranwächst. Trotzdem möchte ich, dass wir uns weiterhin zugestehen, neue Geschichten zu ersinnen, neue Begriffe und neue Wörter. Zugleich aber weiß ich, dass in der Welt – in diesem gewaltigen, wandelbaren, flirrenden Universum – nichts jemals neu ist. Es ist lediglich eine andere Konfiguration, die die Dinge auf andere Weise darstellt, neue Assoziationen und damit neue Begriffe schafft. Der Terminus »Anthropozän« ist gerade einmal dreißig Jahre alt, doch dank ihm sind wir imstande zu begreifen, was rings um uns und mit uns geschieht. Er setzt sich aus zwei gut bekannten griechischen Wörtern zusammen: ánthrōpos (Mensch) und kainós (neu), und er beweist den großen Einfluss des Menschen auf die weltweit vor sich gehenden Prozesse in der Natur.
Was haltet ihr von Ognosie?
Ognosie (poln. ognozja, engl. ognosia, frz. ognosie) – narrativ orientierter, ultrasynthetischer Erkenntnisprozess, in dessen Zuge Dinge, Situationen und Phänomene einer Reflexion unterzogen und so in ein höheres Sinngefüge der wechselseitigen Bedingtheiten eingeordnet werden sollen, siehe auch → Fülle, → Vielheit; ugs.: die Fähigkeit, sich Fragestellungen und Problemen auf synthetische Weise anzunähern, indem sowohl in den Narrativen selbst als auch in den Details, den einzelnen Teilchen des Ganzen, nach einer zugrundeliegenden Ordnung gesucht wird. Im Fokus der Ognosie stehen Ereignisketten außerhalb der kausalen und logischen Zusammenhänge, sie präferiert → Fügung, → Brücke, → Refrain, → Synchronizität. Häufig wird eine Verbindung zwischen Ognosie und → Mandelbrot-Menge, → Chaostheorie nahegelegt. Gelegentlich wird die Ognosie als alternative religiöse Haltung betrachtet, als → Alterreligion, die eine sog. verbindende Kraft nicht in einem übergeordneten Sein erkennt, sondern eher in untergeordneten, »niederen« Existenzen, den sog. → ontologischen Kleinformen. Eine Ognosiestörung äußert sich in der Unfähigkeit, die Welt als integrale Ganzheit wahrzunehmen, stattdessen wird alles zersplittert und unzusammenhängend gesehen; bei dieser Störung ist die Funktion des → Einblicks in die Situation, der Synthese und der Verknüpfung von scheinbar unverbundenen Fakten blockiert. In der Ognosietherapie wird häufig die Heilmethode der Romanbehandlung angewandt (ambulant auch die mündliche Erzählbehandlung).
Lasst uns eine Bibliothek der neuen Begriffe schaffen und sie mit ex-zentrischen Inhalten füllen – Inhalten, von denen das Zentrum noch nie gehört hat. Denn schließlich wird es uns an Wörtern, Termini, Wendungen, Phrasen fehlen, und wer weiß, vielleicht sogar an ganzen Stilen und Gattungen zur Beschreibung dessen, was da kommt. Neue Landkarten werden wir brauchen und den Mut, den Humor von Wanderern, die sich nicht scheuen, den Kopf aus der Sphäre der bisherigen Welt hinauszustrecken, über den Horizont der bisherigen Wörterbücher und Enzyklopädien. Ich bin schon gespannt, was wir dort sehen werden.
Deutsch von Lisa Palmes
Übungen im Fremdsein
Ich bin mit den Büchern von Jules Verne aufgewachsen – sie haben mir eine ferne Welt gezeigt, haben meine Vorstellung davon geformt, wie der Mensch des Westens auf Reisen geht. Das nahm ich mir zum Maß, dem wollte ich nacheifern, während ich in der abgeschlossenen und öden Sphäre der Volksrepublik lebte. Und der Verne’sche Reisende war nicht irgendwer – auch wenn die letzten weißen Flecken noch nicht von der Weltkarte verschwunden waren, schien er die Gefahren nicht wahrzuhaben, selbstsicher und mutig machte er sich auf den Weg, im Gefühl, dass ihm die Welt gehöre, dass ihm dies alles zustehe. Auf seinen Reisen behielt er seine Gewohnheiten bei, blieb der Mode seines Landes treu (unverzichtbar die tabakbraunen Hosen und der schwarze Gehrock). Für gewöhnlich genügte ihm auch die eigene Muttersprache. Stets dachte er daran, die neuesten technischen Erfindungen mitzunehmen, die ihm im entscheidenden Moment aus der Klemme halfen, ihm das Leben retteten. Und selbst wenn er ein guter, ein weltoffener Mensch war, steckten doch in der Tiefe seiner Seele die Überzeugung seiner evolutionären Überlegenheit sowie das Bewusstsein, dass es unstrittige historische Prozesse gebe, die früher oder später jeden Winkel der Erde auf das zivilisatorische Niveau des Westens heben würden. Atemberaubende Abenteuer brachten ihn in die entferntesten Einöden, doch auch dort fühlte er sich sicher, denn noch in den einsamsten Gegenden traf er auf einen Beamten des eigenen Kulturkreises, der ihm im Falle eines Falles den verlorenen Reisepass ersetzte und ihn mit etwas Klatsch über die Eingeborenen versorgte.
Faszinierende Dekoration
In der Form des Pastiches kehrt der Verne’sche Standpunkt häufig in der Popkultur wieder, zum Beispiel in den Indiana-Jones-Filmen. Hier ist die Welt nur ein exotisches Bühnenbild für die Heldentaten des Protagonisten, deren Struktur an ein Computerspiel denken lassen. Und wie faszinierend die Kultur auch wäre, auf die der Held träfe – er wird sich nicht ändern, wird bis zum Schluss derjenige bleiben, der er im Moment seiner Ankunft war. Eingeschlossen in der dichten Kapsel der westlichen Identität, zeigt er sich wie imprägniert gegen alles Fremde, auch wenn er als Archäologe agiert, der in dieser Hinsicht aufgeschlossen sein sollte. Fixiert auf sein Ziel (den Schatz zu finden, das Geheimnis zu lüften), knüpft er keine engeren Beziehungen zu den Eingeborenen, nimmt keinen kulturellen Dialog auf. In der festen Überzeugung, dass die Menschen ihn verstehen müssten, spricht er Englisch oder Französisch mit