Ashley Curtis

Alles ist beseelt


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die Schuld gegeben, die Schuld an einer ökologischen Krise globalen Ausmaßes:

      Wir sind zu Schlußfolgerungen gekommen, die manchem Christen nicht gefallen werden. […] Die derzeitige zunehmende Zersetzung unserer gesamten Umwelt ist das Resultat einer dynamischen Technik und Naturwissenschaft, die sich in der mittelalterlichen Welt des Abendlandes herausbildeten. […] Ohne die ausgeprägten christlichen Vorstellungen von der Natur können wir die Geschichte ihrer Entwicklung nicht verstehen. […] Folglich werden wir weiterhin in einer sich verschlimmernden ökologischen Krise leben, bis wir den christlichen Grundsatz verwerfen, daß die Natur keine andere Existenzberechtigung hat, als dem Menschen zu dienen. […] Unsere derzeitige Naturwissenschaft und unsere derzeitige Technik sind so sehr von einer orthodoxen christlichen Arroganz gegenüber der Natur durchsetzt, daß von ihnen allein keine Lösung unserer ökologischen Krise erwartet werden kann. […] In diesem Falle trifft das Christentum eine schwere Schuld.7

      White zielte nicht nur auf Kirchgänger ab: In seinen Augen war auch die nachchristliche, säkulare Kultur von einer »christlichen Arroganz gegenüber der Natur durchsetzt«. »Daß die meisten Menschen diese Vorstellungen nicht als christliche erkennen«, schrieb er, »ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Kein neues System grundlegender Werte ist in unserer Gesellschaft angenommen worden, um das des Christentums zu verdrängen.«8 Atheisten und Agnostiker seien also genau so wie Theisten weiterhin mit diesen Überresten christlichen Dogmas infiziert, häufig, ohne es überhaupt zu merken.

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      Whites Bombe ist so erstaunlich, weil er auf so wenigen Seiten so viele Grundannahmen zunichtemacht. Schon 1966 argumentierte er, dass die ökologische Krise nicht mehr lokal sei, sondern sich in globalem Ausmaß entfalte – und sich auf das Klima auswirke. Er argumentierte, die Wurzeln der Krise lägen nicht in Wissenschaft oder Technik, sondern in der Religion. Er argumentierte, dass selbst das säkulare westliche Weltbild auf religiösen Grundsätzen basiere, und zwar auf denen der jüdisch-christlichen Tradition. Er argumentierte, diese Tradition, insbesondere das Christentum, basiere auf einem Bild des Menschen als Unterdrücker, Beherrscher und Ausbeuter der Natur; die Existenzberechtigung der Natur bestehe in diesem Weltverständnis wiederum alleinig darin, dem Menschen zu dienen. Er argumentierte, dass wir der ökologischen Krise in keiner Weise entkommen könnten – nicht mithilfe der Naturwissenschaften, nicht mithilfe von Technik, nicht mithilfe eines neuen wirtschaftlichen oder politischen Systems – »sofern wir nicht zu einer neuen Religion finden oder unsere alte überdenken«9.

      White war sich jedoch unsicher, ob ein solcher Wandel überhaupt möglich wäre. Wohlwollend verwies er auf das Interesse der damaligen »Hippies« am Zen-Buddhismus, »dessen Vorstellung von den Beziehungen zwischen Mensch und Natur fast ein Gegenstück zur christlichen ist«10. Allerdings hielt er es für unwahrscheinlich, dass eine Strömung wie der Zen-Buddhismus, tief von der Geschichte Asiens geprägt, im Westen je praktikabel wäre. Eher noch setzte er seine Hoffnung, sofern er denn welche hatte, »auf den bedeutendsten Radikalen in der christlichen Geschichte nach Christus […] Franz von Assisi«11. Franz von Assisi sei »so offensichtlich ein Ketzer« gewesen, dass der bedeutende Franziskaner Johannes Bonaventura später versucht habe, die frühe Geschichte seines eigenen Ordens zu unterdrücken. »Es ist erstaunlich«, so White über Franz von Assisi, »daß er nicht auf dem Scheiterhaufen endete.«12

      Im ketzerischen Weltbild des Franz von Assisi sah White eine »bemerkenswerte Variante der Allbeseelungslehre über alle belebten wie unbelebten Dinge«13 – in anderen Worten die Überzeugung, dass alles, ob lebendig oder nicht, ein Bewusstsein oder bewusstseinsähnliche Eigenschaften besitze:

      [Franz von Assisis] Brüderlichkeit mit den Werken Gottes kommt in seiner Lobeshymne auf den Weltenschöpfer deutlich zum Ausdruck: »Gepriesen seist Du, o Herr, für unsere Schwester Mond […]. Gepriesen seist Du, o Herr, für unseren Bruder Wind […] für unseren Bruder Feuer.«14

      Ebendiese Sichtweise, dass allen Naturdingen ein Geist innewohnt, hatte das Christentum mit seiner Unterdrückung des alten Heidentums rücksichtslos ausgemerzt:

      Im klassischen Altertum hatte jeder Baum, jede Quelle, jeder Bach und Berg seinen eigenen genius loci, seinen Schutzgeist. Diese Geister waren für die Menschen erreichbar, ihnen jedoch ganz unähnlich: Zentauren, Faune und Wassernixen beweisen diese Ambivalenz. Ehe man einen Baum fällte oder einen Bach staute, war es notwendig, den dafür zuständigen Geist zu besänftigen. Indem das Christentum die heidnische Naturbeseelung zerstörte, schuf es erst die Voraussetzungen für eine Ausbeutung der Natur. […] Die tatsächliche Alleinherrschaft des Menschen über den Geist hatte begonnen, und die alten Verbote über die Ausbeutung der Natur gerieten in Vergessenheit.15

      Kurzum, als White forderte, wir müssten »zu einer neuen Religion finden«, meinte er nicht, wir sollten vom Christentum zum Islam, Judentum oder Hinduismus konvertieren. Auch betraf seine Forderung nicht nur offen religiöse Menschen. Ob Atheist, Agnostiker oder Theist – wer auch immer die Ansicht teilt, Menschen seien von der Natur getrennt und die wichtigste Aufgabe der Natur liege darin, menschlichen Bedürfnissen zu dienen, ist White zufolge unwissentlich im Netz eines eigenartig religiösen, speziell christlichen Dogmas gefangen.

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      Über Whites These lässt sich streiten, und viele Umweltschützer sind anderer Meinung. Laut Heike Molitor und Pierre Ibisch von der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde begegnen viele Naturliebhaber der Umwelt nach wie vor mit anthropozentrischen Ansätzen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen, auch

      in den Mittelpunkt moralischen Handelns. Nur dem Menschen wird ein Eigenwert zugesprochen. Daraus leitet sich der Schutz der Natur ab, die für den Menschen zu schützen ist.16

      So schrieb beispielsweise ein »renommierter Forstwirtschaftsprofessor« an White, dass »wir Redwood-Wälder schützen, weil Menschen sich an ihnen erfreuen. Wenn Franz von Assisi fand, wir sollten sie für Eichhörnchen bewahren, dann predigte er eine Religion für Eichhörnchen, nicht für Menschen.«17

      In einem Artikel von 2016 beobachten Michael Paul Nelson und Thomas J. Sauer, für wie viel Irritation Überlegungen wie die von White in Naturschutzkreisen noch immer sorgen:

      Diskussionen über die philosophischen und ethischen Grundlagen des Naturschutzes wurden jüngst […] von einigen namhaften führenden Umweltschützern als »alberne Streitereien, die vom Eigentlichen ablenken« bezeichnet. […] Führende Umweltschützer haben all jene, die aus Prinzip eine nichtanthropozentrische oder anderweitig vom Pragmatismus abweichende Position einnehmen, bespöttelt. […] Manche Naturschützer wurden aufgrund ihrer »moralischen Gewissheit« abgetan, und es wurde behauptet, man fände es »belastend, […] unproduktiv und letztendlich kontraproduktiv […], mit anderen Naturschutzbiologen« über ideologische Angelegenheiten »diskutieren zu müssen«. »Die Realität des angewandten Umweltschutzes«, hieß es, »ist zu komplex und nuanciert für [eine solche] moralische Überzeugung.«18

      Völlig konträr zu White glaubt derweil eine weitere Fraktion von Denkern, die sogenannten Ökomodernisten, dass naturwissenschaftliche und technische Lösungen uns sehr wohl aus der Krise führen würden, dass unsere »Religion« irrelevant sei und Whites Anliegen kontraproduktiv, da er uns damit auffordere, einen menschzentrierten Lebensstil aufzugeben, der mühevoll erreicht worden sei und viele Vorzüge aufweise. Laut den Ökomodernisten sei niemand ernsthaft gewillt, unseren derzeitigen, sich ständig verbessernden Lebensstandard gegen die Armut, Anstrengungen, gesundheitlichen Mängel und die allgegenwärtige Gewalt vorindustrieller Gesellschaften einzutauschen. Ökomodernisten verwerfen somit das Ideal, »demzufolge die menschliche Gesellschaft in Einklang mit der Natur leben muss«, und beharren darauf, »dass die Erde ein menschlicher Planet ist«19. In Anbetracht der ökologischen Krise bevorzugen sie technologiegetriebene Lösungen, mitunter eine drastische Ausweitung der Nuklearenergie, kluge Urbanisierung, Intensivierung der Landwirtschaft mittels genetisch veränderter Nutzpflanzen sowie CO2-Abscheidung und -Speicherung. Manche befürworten auch offen die Idee des Geo-Engineerings – im wahrsten Sinne des Wortes ein Herumbauen am Planeten Erde.

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