agierende Rentiers, die sich keineswegs auf Kriegsanleihen einließen, verloren bis zu drei oder vier Fünftel ihres Vermögens.19
Aber dieser Bruch traf nicht alle bürgerlichen Klassen der Monarchie in gleicher Weise. Sicher, gewisse Vermögenseinbußen durch den Wertverlust der österreichischen (und ungarischen) Staatspapiere dürften so ziemlich alle Besitzenden erlitten haben. Aber es ist erstaunlich, wie schnell die tschechoslowakische Aufbauanleihe unmittelbar nach der Staatsgründung 1918 überzeichnet war – die tschechische Bourgeoisie hatte offenkundig einige Reserven, die sie dem alten Österreich vorenthalten hatte, dem neuen – ihrem – Staat aber gerne anvertraute. Hauptverlierer der Veränderung war eindeutig – Otto Bauer hat das in oft zitierten Worten gesagt – das deutsch-österreichische, insbesondere das Wiener Bürgertum: „[...] Derselbe Prozeß der Geldentwertung [...] hat breite Schichten der alten Bourgeoisie pauperisiert. Zunächst traf dieses Schicksal die Rentiers [...] Mit den Rentiers wurden die Hausbesitzer expropriiert [...] Auch die höhere Beamtenschaft wurde von der Geldentwertung niedergedrückt [...] Es war das Altwiener Patriziat, es waren die führenden Schichten der österreichischen Intelligenz, es waren große Teile des mittleren und kleineren Bürgertums, die durch die Geldentwertung verelendet wurden. Sie waren die eigentlich herrschende Klasse der Habsburgermonarchie gewesen. Sie waren die Träger des österreichischen Patriotismus, der altösterreichischen Tradition gewesen. Sie hatten der Habsburgermonarchie ihre Beamten, ihre Offiziere gestellt. Sie waren die Träger des österreichischen Patriotismus, der altösterreichischen Tradition gewesen. Sie waren seit einem Jahrhundert die Träger der spezifisch österreichischen Kultur, der Wiener Literatur, der Wiener Musik, des Wiener Theaters gewesen. Sie waren die eigentlich Besiegten des Krieges. Es war ihr Reich, das im Oktober 1918 zusammengebrochen war. Und mit ihrem Reich hatten sie auch ihren Reichtum verloren [...]“ 20.
Allerdings hat gerade der Mieterschutz verarmten Bürgerlichen weiterhin die Aufrechterhaltung eines Wohnstandards ermöglicht, der bei einem völlig freien Wohnungsmarkt nicht zu halten gewesen wäre.21 Auch die Freizeit- und Sommerfrischegewohnheiten veränderten sich kaum. Im Gegenteil – gleich nach dem Kriege flüchtete man sich oft in die Sommerfrischen, in der stillen Hoffnung, hier gäbe es bei den Bauern noch etwas Nahrung. Der Kapitalmangel ließ auch keinen bedeutenderen Käufermarkt für schon früher erstandene Sommersitze entstehen, sodass auch hier eine recht erstaunliche Kontinuität zu beobachten ist.22
Materielle Depravierung – politische Desorientierung?
Die Inflation vernichtete zahlreiche Kapitalien, vor allem jene, die in staatlich gesicherten Papieren (und hier wiederum: vorab in Kriegsanleihen) angelegt waren. Es gibt kaum eine bürgerliche Autobiografie, die diese Tatsache nicht erwähnt – es hat ja auch fast alle Menschen von irgendwie bürgerlichem Zuschnitt getroffen.23 Ganz gleichartig hat sich – Otto Bauer hat das schon richtig gesehen – die Mieterschutzgesetzgebung ausgewirkt, die die Hausbesitzer faktisch enteignete. Im Allgemeinen war es bis 1914 eine gängige Sicherungsstrategie im mittleren Bürgertum, durch den Besitz eines Zinshauses für das Alter vorzusorgen. Heinrich Röttinger (✝1952), zuletzt Direktor der Universitätsbibliothek (1933 Ruhestand) hatte 1914 ein Jahreseinkommen von mehr als 16.000 Kronen; es stammte nur zu 34 Prozent aus dem (immerhin schon K 5.400 betragenden) Gehalt, zu fast 36 Prozent aber aus Vermietung und zu 15 Prozent aus Kapitalerträgen. Nicht untypischerweise gehen nach 1918 die letzten beiden Posten auf Null zurück, teils durch Entwertung, teils durch systematisches Abstoßen des Hausbesitzes und der Wertpapiere. Nun erst war der Beamte zur Gänze auf sein Gehalt verwiesen.24 Für das hochentwickelte Sicherheitsbedürfnis der Bürgerlichen der späten Monarchie, das Stefan Zweig so liebevoll gezeichnet hat,25 war die Erfahrung der Unsicherheit ein zentraler Schock. Beamte verloren in der Inflation mehr als 85 Prozent ihres Realeinkommens (1920: Beamte erhielten 14 Prozent der Friedenskaufkraft), und noch 1925 betrugen die Beamtenbezüge nur etwa 56 Prozent der Friedenshöhe.26 Unterstrichen wurde dieser materielle Positionsverlust durch die Nivellierung der Einkommenssituationen während der Inflation: Im März 1922 verdiente (im Vergleich mit 1914) ein Kohlenträger das 1.300-fache, ein Friseurgehilfe aber nur das 400-fache, ein Hochschulprofessor das 214-fache, ein Hofrat das 124-fache und ein Hilfsarzt gar nur das 100-fache. Im März 1922 verdiente ein qualifizierter Arbeiter der Metall-, Zucker oder Elektroindustrie bis zu 1,8 Millionen Kronen, ein Ministerialrat 1,5 Millionen Kronen.27 Auch wenn es nach der Stabilisierung (Herbst 1922) wieder zu einem wachsenden Auseinanderdriften der Lohnschere kam, blieben doch die Relationen völlig andere als es den traditionellen Vorstellungen entsprach. Keineswegs waren die Arbeiter „reich“ geworden – sie verdienten noch immer, im Vergleich zu den entsprechenden Arbeitern anderer Länder, sehr wenig.28 Dennoch bedeutete die Wahrnehmung der Nivellierung für die betroffenen „Bürgerlichen“ genau den Verlust an gesellschaftlichem Vorsprung, den das Bürger-Sein bisher ausgemacht hatte.
Das Gefühl der materiellen Depravierung verband sich in den ersten Nachkriegsjahren mit der Erfahrung gesellschaftlicher Machtlosigkeit, angesichts der Dominanz der Linken auf den Straßen und im politischen Prozess: „Gestützt auf die Straße und die Mittel des gewerkschaftlichen Kampfes, sicher der aus ihren Reihen geworbenen Bundeswehr, kann sich die Sozialdemokratie den ungeheuren Luxus gestatten, alle Verantwortung den bürgerlichen Parteien zu überlassen, da sie in Wirklichkeit auch unter einem bürgerlichen Kabinett die leitende Vormacht bleibt. Die Stützen des alten Regimes aber, Bürger und Bauer, räumen verschüchtert das Feld, irre geworden an der eigenen Bestimmung [...]“29.
Die Erfahrung anhaltender materieller Schlechterstellung ging bei nicht wenigen „Bürgerlichen“ auch nach der Übernahme der Regierung durch „bürgerliche“ Koalitionen weiter. So erzwang die Genfer Sanierung von 1922 einen weitgehenden Beamtenabbau. Man nannte eine runde Gesamtziffer von 100.000 „abzubauenden“ öffentlich Bediensteten. Bis Ende 1925 wurden tatsächlich 83.386 Staatsangestellte entlassen oder in Pension geschickt, dazu kamen noch etwas mehr als 10.000 Südbahn-Bedienstete. Die Gesamtzahl erreichte etwa 50 Prozent der noch Aktiven, d. h., dass ca. ein Drittel aller im öffentlichen Dienst Stehenden von dieser Maßnahme getroffen wurde. In den folgenden Jahren reduzierte sich die Zahl der öffentlich Bediensteten nur langsam, um als Folge des Zusammenbruchs der Creditanstalt und der enormen staatlichen Kosten für deren Sanierung neuerdings stärker abzunehmen: Waren in Hoheitsverwaltung, Bundesbetrieben und Bundesbahn 1926 etwa 200.000 Menschen beschäftigt, so waren es 1933 nur mehr 166.000 (später stieg diese Zahl wieder leicht, aber nur wegen der höheren Zahl von eingestellten Soldaten und Polizisten).30 Ähnlich wirkten sich die seit der Stabilisierungskrise von 1924 aufeinander folgenden Bankenzusammenbrüche aus. So zählte der Reichsverein der Bank- und Sparkassenbeamten 1924 noch 24.500 Mitglieder, 1926 aber nur mehr knapp 11.000 und 1931 nur mehr 7.700.31
Die von Monarchiezerfall, Inflation, Mieterschutzgesetz, Budgetsanierung und Bankzusammenbrüchen am stärksten betroffenen bürgerlichen Gruppierungen lebten zu einem hohen Prozentsatz in Wien. Dass „Republik“ für diese verarmten und statusverunsicherten Bürgerlichen des positiven Beiklanges entbehrte, den das Wort für uns heute allgemein hat, ist zwar unerfreulich, aber nicht unverständlich. Weniger verständlich ist es, dass die „bürgerlichen“ Parteien und Regierungen so wenig Einsatz für die Interessen dieser, ihrer Klientel zeigten. Die radikalen Bezugskürzungen, die man im Zuge der CA-Krise deren Bediensteten zugemutet hat, veranlassten selbst Otto Bauer im Hauptausschuss des Nationalrates zu der Wortmeldung, er habe natürlich nichts gegen solche Bezugskürzungen, er möchte sich aber doch die Bemerkung erlauben, dass die bürgerlichen Parteien durch ein solches Vorgehen den Ast absägen, auf dem sie sitzen.32 Vermutlich war jenes Vorgehen Ausdruck gewisser antisemitischer Strömungen bei den Christlichsozialen und Großdeutschen (Bankdirektoren waren vielfach Juden) und im Zusammenhang damit wohl auch der Versuch, durch Schuldzuschreibungen und massives Vorgehen gegen Bankdirektoren und -beamte Popularität zu gewinnen.33
Die Erinnerungen Alexander Spitzmüllers (1862–1953) bieten für dieses Verhalten insbesondere der Christlichsozialen breites Material: Der ehemalige Staatsbeamte, dann Bankdirektor (bei der Creditanstalt), österreichischer Handelsminister und letzter gemeinsamer Finanzminister der österreichisch-ungarischen Monarchie, war trotz seiner eindeutig katholischen