Fred Pearce

Fallout


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bin, habe ich mich wohl selbst einmal unter einer unsichtbaren radioaktiven Wolke befunden. Nach dem Feuer in der Plutoniumfabrik von Windscale 1957 zog sie über die Insel. Doch niemand wusste davon, denn welche Richtung sie genommen hatte, war ein Staatsgeheimnis. Der Bevölkerung wurde gesagt, die Wolke sei aufs Meer hinausgezogen und ohnehin nicht stark radioaktiv gewesen. Das war gelogen; erwachsene Menschen wurden angelogen, als wären sie Kinder.

      Wie alle anderen musste auch meine Familie damals für das Privileg bezahlen, im Atomzeitalter zu leben. Während meiner ersten Lebensjahre besaß in Großbritannien jeder eine Lebensmittelkarte. Sie begrenzte die Menge, die wir kaufen durften. Nur durch Rationierung und Entbehrungen konnte das bankrotte Großbritannien es sich leisten, mit den USA Schritt zu halten und eigene Atombomben zu bauen. So gut sich das anfühlte, so sehr machte uns die eigene Bombe zum bevorzugten Ziel, hätte sich die Sowjetunion – die die Pläne für ihre Bombe von dem in Deutschland geborenen britischen Wissenschaftler und Spion Klaus Fuchs bekommen hatte – zum Erstschlag entschlossen. Oder auch zu einem Zweitschlag.

      Glücklicherweise hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemand mehr in kriegerischer Absicht eine Atombombe auf ein Land abgeworfen. Einzig die Japaner in Hiroshima und Nagasaki erlitten dieses Schicksal. Gleichwohl habe ich, wie jeder Mensch in den 1950er- und den frühen 1960er-Jahren, Luft geatmet, die mit radioaktiven Stoffen aus Atomwaffentests an so entlegenen Orten wie Semipalatinsk im heutigen Kasachstan und dem Bikini-Atoll im Pazifik belastet war. Und auch ich nannte die herrlich minimalistischen zweiteiligen Badeanzüge, wie Brigitte Bardot und andere unerreichbare Frauen sie trugen, »Bikinis«. Denn um ehrlich zu sein, fand man es in meiner Jugend nicht nur Furcht einflößend, im Atomzeitalter zu leben, sondern mindestens ebenso aufregend. Atomkraft war »in«. Und falls wir nicht irgendwann in die Luft flogen, versprach die Nukleartechnik unser Leben zu verändern und, wie es hieß, so billige Elektrizität zu erzeugen, dass sich »Stromzähler nicht mehr lohnen«.

      Das war damals, doch schon von Beginn an trug diese schöne neue Atomwelt das Potenzial in sich, sich selbst zu zerstören. Ich glaube, es sind gar nicht so sehr die Strahlung oder die riesige Sprengkraft, die seit jeher ihr negatives Image ausmachen, sondern die Geheimniskrämerei und all der Betrug. Die Sache mit dem billigen Strom war natürlich immer schon gelogen. Das Gleiche gilt für die Legende, die »friedliche Nutzung der Atomenergie« habe nichts mit ihrer kriegerischen Nutzung zu tun.

      Vor mir liegt der schmale Band Die britischen Atomfabriken: Geschichte der Atomenergieerzeugung in Großbritannien aus dem Jahr 1954, herausgegeben vom Ministry of Supply. Schon der Name »Beschaffungsministerium« war ein George-Orwell-würdiger Euphemismus, denn in Wirklichkeit war es ein Kriegsministerium. Der Umschlag zeigt zwei der »Meiler« von Windscale, die damals in aller Eile Plutonium für britische Bomben herstellten. Doch das einhundert Seiten starke Buch gibt auf neunundneunzig Seiten vor, die Meiler seien konstruiert worden, um »grenzenlose Energie« zu erzeugen. Tatsächlich produziert haben sie keine. Erst auf der letzten Seite wird eingestanden, ihr eigentlicher Zweck sei es, Plutonium herzustellen, welches »als Sprengstoff in Atombomben […] verwendet werden kann«.3

      Ein doppeltes Spiel wie dieses war bei Regierungen in aller Welt verbreitet. Niemandem von den Zehntausenden, die in den 1950er-Jahren das Wasser des schmalen sibirischen Flusses Tetscha tranken, wurde gesagt, dass er lebensbedrohliche Mengen radioaktiven Abfalls aus einer Bombenfabrik wenige Kilometer flussaufwärts mit sich führte und dass die Ärzte vor Ort heimlich die Gesundheitsfolgen für ihre Patienten dokumentierten. Menschen aus dem Umland von Denver, Colorado, glaubten die offizielle Darstellung, dass die hell erleuchtete Fabrik auf dem Hügel Haushaltsreiniger herstellte und nicht Plutoniumkerne für Bomben. Und erst recht erzählte ihnen niemand, dass das radioaktive Metall nach einem Brand schon einmal auf sie herabgeregnet war.

      Ob nach dem Feuer im britischen Windscale oder der Katastrophe von Tschernobyl, ob in Rocky Flats oder Three Mile Island in den USA, ob im sowjetischen Majak oder in Fukushima – überall herrschen seit jeher dieselbe zwanghafte Geheimhaltung, Hinterhältigkeit und Verantwortungslosigkeit, und sie überdauern selbst den Wandel von einer militärischen zu einer zivil genutzten Technologie. Arglistige Verschleierungen rund um die Atomkraft haben das Vertrauen der Gesellschaft untergraben und der öffentlichen Debatte und Entscheidungsfindung sehr geschadet.

      Das erklärt auch die Entstehung einiger besonders kämpferischer Umweltschutzbewegungen. Greenpeace etwa hat seinen Ursprung im Don’t Make a Wave Committee (»Mach keine Welle«), einer Gruppe aus der kanadischen Provinz British Columbia, die 1969 gegen unterseeische Atomtests der Amerikaner vor den Aleuten im Pazifik protestierte. Den Grünen, Vorreiter vieler ähnlicher Parteien weltweit, war schon bei ihrer Gründung der Kampf gegen Atomkraft auf deutschem Boden genauso wichtig wie die Säuberung des Rheins.

      Der Abschottungshaltung der Kerntechniker steht die Hysterie mancher Kernkraftgegner gegenüber. So stützte sich das Don’t Make a Wave Committee bei seiner Kampagne auf das Argument, die Atomtests vor den Aleuten würden ein Erdbeben und einen Tsunami auslösen – was selbst die Organisatoren, wie sie heute zugeben, nie für möglich hielten.4 Wer sich für die Wurzeln der postfaktischen Argumentation in der heutigen Politik interessiert, ist sicher nicht schlecht beraten, deren Vorläufer in der Atompolitik zu untersuchen. Es ist kein Wunder, dass die meisten nichts von dem glauben, was man uns im Zusammenhang mit Kerntechnik erzählt, und immer vom Schlimmsten ausgehen.

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      Unabhängig davon, wie man zur Kerntechnik steht, herrscht Einigkeit darüber, dass die Welt nach der Detonation der ersten Atombombe nicht mehr dieselbe war. Seit diesem Augenblick liegt das Schicksal der Erde und unserer Spezies in unseren Händen – oder genauer gesagt: in den Händen derjenigen, die Zugriff auf den Atomknopf haben. Dieser Augenblick hat unsere Überlegungen zu vielen Themen verändert. Die Globalisierung wurde zu einer Tatsache, die über Leben oder Tod entscheiden kann. Auf einmal war kein Ort mehr sicher vor »der Bombe« und ihrem Fallout. Diese Erkenntnis ist beispielhaft für unser neues Verhältnis zur Erde.

      Nach Ansicht vieler Wissenschaftler leben wir heute in einer neuen geologischen Epoche, dem Anthropozän, in der die Menschen den Planeten Erde und seine wichtigsten Prozesse beherrschen, indem sie sein Klima, seine Biodiversität und seine chemische Zusammensetzung beeinflussen. Vermutlich wird die für derartige Fragen zuständige Organisation – die Internationale Kommission für Stratigrafie – bald erklären, dass das Holozän, dessen Beginn mit dem Ende der letzten Eiszeit zusammenfällt, vorüber ist und das Anthropozän begonnen hat. Das »Primärsignal« dieses neuen Zeitalters der Menschheit, so sagt sie bereits heute, ist der »Plutonium-Fallout« der ersten Atombomben.5

      Plutonium ist ein ursprünglich in der Natur äußerst seltenes Element, das wegen seines Potenzials zum Bombenbau von Atomwissenschaftlern künstlich erzeugt wird.6 Da es durch den Fallout der Kernwaffentests über die ganze Erde verteilt wurde, kommt es inzwischen sowohl an Böden gebunden als auch in Pflanzen vor und sammelt sich am Grund der Ozeane an. Es ist unsere einzigartige Signatur auf der Erde und wird im Verlauf seines Zerfalls noch über Millionen Jahre hinweg radioaktive Strahlung aussenden. Der Beginn des Anthropozäns ist damit auf den 16. Juli 1945 bei Sonnenaufgang datiert, auf den Tag, an dem die erste Plutoniumbombe über der Wüste von New Mexico zur Explosion gebracht wurde. Der Anbruch eines neuen Zeitalters. Kein Wunder, dass die Kernkraft solche Emotionen in uns weckt.

      Das Atomzeitalter wühlt unsere Gefühle auf und schafft Durcheinander im Kopf. Jeder hat eine Meinung dazu: Man ist entweder dafür oder dagegen, optimistisch oder pessimistisch, Panikmacher oder Technikgläubiger. Der Grund ist nicht allein die überwältigende Macht, die die Atomenergie uns verleiht. Das ist, je nach persönlicher Einstellung, verführerisch oder eben Furcht einflößend. Es liegt auch an der Strahlung. Sie ist unsichtbar, geruchlos und unberührbar. Wie ein Gespenst. Sie ist offen für alle Interpretationen, und das nutzen wir aus.

      Wenn wir über Atomkraft sprechen, reden wir häufig großen Unsinn. Die Macht der Wissenschaft, Atome steuern zu können, hat offenbar unsere Unvernunft entfesselt. Und das betrifft beide Seiten. Atomkraftgegner wollen nichts Gutes darüber hören, Befürworter nichts Schlechtes. Manche Gegner attackieren die etablierte Wissenschaft zum Strahlenschutz