Fred Pearce

Fallout


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Im Museum zeigten Eltern ihren kleinen Kindern großformatige Bilder von verbrannten und entstellten Menschen und lasen ihnen die Texttafeln vor, auf denen die Symptome der Strahlenkrankheit ausführlich aufgelistet waren. »Zahnfleisch- und Nasenbluten durch Zerstörung der Schleimhäute, Haarausfall, Knochenmarksversagen, Verminderung der roten Blutkörperchen, Darmblutungen« und so weiter. Manche Opfer, so erfuhren die Kinder, hatten buchstäblich ihre Eingeweide ausgehustet.

      Während meiner Forschungsreise um die Welt zu den Schauplätzen nuklearer Katastrophen habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen sich ihre Vorstellungen von den unsichtbaren Schädigungen durch die Kerntechnik zurechtlegen. Hier, wo die Menschen mit den schlimmsten Folgen eigene Erfahrungen gemacht hatten, ging man verstörend schonungslos und direkt damit um.

      Ebenso eindrucksvoll war, wie wenig Groll gegen die Amerikaner es hier gab – was angesichts der Fernsehberichte über rüpelhafte ausländerfeindliche Äußerungen im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016, die ich am Abend zuvor gesehen hatte, kein Wunder gewesen wäre. Doch nichts dergleichen. Manche zeigten sich vielmehr dankbar darüber, dass in diesem Jahr Präsident Barack Obama das Museum besucht hatte. Auch in Privatgesprächen äußerte sich niemand kritisch über die amerikanischen Touristen, die die Zeremonie still verfolgten. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sich die Amerikaner auf ähnliche Weise jede harsche Kritik verkneifen würden, hätten die Japaner eine vergleichbare Bombe über dem amerikanischen Festland abgeworfen.

      Doch da war noch etwas anderes. Wenngleich das Museum in Hiroshima sich sehr direkt mit der Bombe und ihren schrecklichen Folgen beschäftigte, erwähnte weder dieses Haus noch sein Pendant in Nagasaki die Kapitulation Japans wenige Tage nach den Bombenabwürfen, die das Ende des Zweiten Weltkriegs eingeläutet hatten. Mein Eindruck ist, dass Japan auf das Bombardement mit stoischer Ruhe und mit Würde zurückblicken kann. Die Niederlage hingegen war zu viel.

      Als ich das Museum verließ, gab die lächelnde Mitarbeiterin am Ausgang jedem eine abschließende Botschaft mit auf den Weg. »Bitte denken Sie immer daran«, sagte sie, »dass schon innerhalb eines Monats nach der Bombe das Gras in Hiroshima wieder zu wachsen begann.« Archivaufnahmen hinter ihr zeigten, wie sich entlang des Flussufers Pflanzen schnell wieder ausgebreitet und durch die Risse im Straßenbelag gedrängt, wie sie die Asche überdeckt und sich zwischen die Trümmer der Gebäude geschoben hatten. Das sei eine »Hoffnungsbotschaft«, sagte sie. Eine solche Botschaft hatte ich nötig, als ich an dem Hügeldenkmal vorbeiging, das die Überreste von 70.000 Menschen enthält, deren Leichen überall in der Stadt gefunden worden waren, aber nie identifiziert werden konnten. Die Widerstandskraft der Natur gegenüber atomarer Strahlung wurde zu einem weiteren Leitgedanken auf meiner Reise zu den nuklear belasteten Landschaften der Erde.

       KRITISCHE MASSE: MAUD IM GARTEN DER ATOME

      Von allen moralischen Fragen einmal abgesehen, war die Entwicklung der beiden auf Japan abgeworfenen Atombomben eine wissenschaftliche Glanzleistung des 20. Jahrhunderts. Nach Hiroshima und Nagasaki wirkte die dampfgetriebene industrielle Revolution plötzlich reizend altmodisch. Doch das Atomzeitalter hatte ganz unvermittelt begonnen. Es war das Ergebnis einer wahren Flut neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Aufbau der Atome und darüber, wie unbeständig diese vermeintlich soliden Bausteine der Materie in Wirklichkeit waren.

      Begonnen hatte alles Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung, dass die anscheinend so klar voneinander zu unterscheidenden Atome jedes Elements – Sauerstoff oder Uran, Kupfer oder Kohlenstoff – verschiedene Formen annehmen konnten: Isotope mit unterschiedlicher Anzahl Neutronen, die ihrerseits zu den Bausteinen der Atome zählen. Das Beunruhigende daran war die Instabilität vieler Isotope. Ein Isotop eines bestimmten Elements konnte sich in ein Isotop eines anderen verwandeln und dabei Energie freisetzen.

      Als man verstand, dass sich manche Atome gezielt spalten ließen, indem man sie mit den Neutronen eines anderen radioaktiven Elements beschoss, wurde aus einer spannenden wissenschaftlichen Erkenntnis eine Entdeckung, mit der sich die Kriegsführung revolutionieren ließ. Als Erstem gelang eine solche Atomspaltung oder »Kernfission« 1917 dem neuseeländischen Physiker Ernest Rutherford. Doch erst 1933 äußerte der Ungar Leó Szilárd die Vermutung, man könne damit eine explosive Kettenreaktion auslösen, bei der jedes gespaltene Atom viele weitere Neutronen freisetze, die wiederum mit anderen Atomen kollidieren würden. Jede Stufe dieser nuklearen Kettenreaktion würde enorme Energiemengen erzeugen.

      Am besten, so Szilárd, eigne sich für eine solche Kettenreaktion Uran, ein Metall, das aufgrund der Größe seines Atomkerns mit jedem Schritt die meisten Neutronen freisetze. Dazu müsse das Uran stark komprimiert vorliegen, damit bei der Spaltung möglichst viele frei gewordene Neutronen weitere Uranatome träfen. Und könne man eine »kritische Masse« Uran im Inneren einer Bombe zusammenführen, so würde sie mit einer Sprengkraft von Tausenden Tonnen TNT explodieren.

      Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren die wenigen Atomwissenschaftler vom europäischen Festland nach Großbritannien und in die USA geflohen, wo sie an ihren Ideen weiterarbeiteten. Ende 1939 traf sich der inzwischen in Amerika lebende Szilárd mit Albert Einstein, dem damals berühmtesten Physiker weltweit. Gemeinsam schrieben sie Präsident Franklin Roosevelt und schlugen vor, dass Amerika, wenngleich neutral, eine solche Bombe entwickeln sollte – nicht zuletzt für den Fall, dass Deutschland dasselbe täte.1

      Roosevelt schien anfangs wenig interessiert. In Großbritannien aber, das sich von einer deutschen Invasion bedroht sah, erhielten zwei weitere emigrierte Physiker eine ganz andere Resonanz. Wenige Wochen nachdem Szilárd von Roosevelt einen Dämpfer bekommen hatte, wandten sich der österreichische Physiker Otto Frisch und sein deutscher Kollege Rudolf Peierls in einem Brief mit derselben Idee an Winston Churchill. Er enthielt eine wichtige Ergänzung. Nach ihren Berechnungen war zur Herstellung einer Kernspaltungsbombe nur eine kritische Masse von 22 Pfund Uran nötig, viel weniger als die meisten Physiker erwartet hatten. Doch es gab eine Voraussetzung: Für die Bombe musste ein bestimmtes Uran-Isotop verwendet werden, Uran-235, das nur einen sehr geringen Anteil des natürlich vorkommenden Urans ausmacht.2 Unter dieser Voraussetzung jedoch versprachen sie Churchill eine Explosion, die »in einem großen Gebiet alles Leben zerstören würde […], wahrscheinlich das ganze Zentrum einer Großstadt«.

      Das war im Sommer 1940. Die Luftschlacht um England war in vollem Gang. Täglich bombardierten die Deutschen London, und eine Invasion stand womöglich kurz bevor. Innerhalb weniger Tage ernannte Churchill eine geheime Kommission mit dem Namen MAUD Committee, die die Umsetzbarkeit des Vorschlags prüfen sollte – und wie schnell eine solche Bombe bereitgestellt werden konnte.3 Es war der Beginn eines politischen Prozesses, der auf der anderen Seite des Atlantiks das Manhattan-Projekt ins Leben rufen und nur fünf Jahre später zum verhängnisvollen Abwurf zweier Atombomben auf das bereits geschwächte Japan führen sollte.

      Schon bald nahmen zwei weitere emigrierte Wissenschaftler mit der MAUD-Kommission Kontakt auf: der Österreicher Hans von Halban und der Russe Lew Kowarski. In ihrem gemeinsamen Labor in Cambridge hatten sie nach Möglichkeiten gesucht, aus der freigesetzten Energie nuklearer Kettenreaktionen nutzbare Elektrizität zu gewinnen. Anstelle einer unkontrollierten Explosion war es nach ihrer Überlegung auch möglich, die Kettenreaktion in einem von ihnen so bezeichneten Kernreaktor kontrolliert ablaufen zu lassen.4 Die dabei gewonnene Energie könne zu nicht-zerstörerischen Zwecken genutzt werden. Bei ihren Forschungen erkannten sie allerdings auch, dass bei der Spaltung von Uranatomen unter anderem das Element Plutonium entstand. Plutonium kam allem Anschein nach in der Natur nicht vor, doch ihre Berechnungen ergaben, dass eines seiner Isotope, Plutonium-239, sogar noch leichter spaltbar war als Uran-235. Für eine Bombe reichten daher womöglich noch kleinere Mengen aus. In Kriegszeiten interessierte sich natürlich niemand für die Möglichkeiten der Stromerzeugung durch Kernspaltung, aber die Idee einer Plutoniumbombe ließ die MAUD-Kommission aufhorchen.

      Um die Bestandteile einer Atombombe herstellen zu können, hätte man entweder eine Quelle für Uranerz finden müssen, um daraus Uran-235 zu isolieren, oder Reaktoren bauen müssen, um Plutonium zu gewinnen. Beides waren gewaltige technische Vorhaben, die Großbritannien sich nicht leisten konnte.