bis heute der Geheimhaltung unterliegt. Wem diese Geheimhaltung nutzt, ist unklar, da wir heute wissen, dass alle Einzelheiten, kaum dass das Patent erteilt war, ohnehin durch Fuchs’ sowjetische Kontaktleute an Kurtschatow und den »Vater« der sowjetischen Wasserstoffbombe, Andrei Sacharow, weitergeleitet worden waren. Als in den 1990er-Jahren die Archive des sowjetischen Atomenergieministeriums geöffnet wurden, fand der britische Militärhistoriker Mike Rossiter Kopien von Mitschriften zur Wasserstoffbombe, die 1945 bei Vorträgen in Los Alamos entstanden waren, sowie Berichte über die Entwicklung aus den Jahren bis 1948.10
Bei seinem Marsch durch die britischen und amerikanischen Atomforschungseinrichtungen hatte das Genie Fuchs eine Unmenge Informationen zusammengetragen. Er spionierte für die Briten ebenso wie für die Sowjets. Das könnte erklären, warum seine britischen Vorgesetzten – trotz eines frühen Verdachts auf der anderen Seite des Atlantiks – ihm bis zum Eingeständnis seiner Verbindungen zur Sowjetunion 1950 freien Zugang zu allen Einrichtungen gewährten. Anschließend wurde er von den Briten wegen Spionage verurteilt, aber bereits nach neun Jahren wieder freigelassen.
Als Fuchs schließlich in ein Flugzeug mit Ziel DDR gesetzt wurde, waren die Atompilze der sowjetischen Wasserstoffbomben aus der Steppe Kasachstans bereits nicht mehr wegzudenken. Und als Sinnbild des jungen Atomzeitalters hatte sich der Atompilz längst im globalen Bewusstsein verankert.
Kapitel 3
LAS VEGAS: SILBERSTREIFEN AM STRAHLENDEN HORIZONT
Die Nevada National Security Site ist Nordamerikas Atomlandschaft schlechthin: ein umzäuntes und weitgehend verlassenes Gebiet aus nichts als Sand, Kakteen und Joshua Trees, größer als der Bundesstaat Rhode Island. Damals, als auf dem Gelände noch die US-amerikanischen Kernwaffentests stattfanden, ließ man hier die Korken knallen. Alles, was in Amerika neu und aufregend war, trug die Bezeichnung »atomic«, und in Nevada konnte man das neue Zeitalter an vorderster Front miterleben.
Zu sehen war das Leuchten noch im 560 Kilometer entfernten San Francisco. In dem jungen, aufstrebenden Wüstenressort Las Vegas jedoch, weniger als 120 Kilometer vom Testgelände entfernt, waren die Bombenexplosionen eine regelrechte Attraktion für Wochenendtouristen. Die Handelskammer vermarktete Las Vegas als »Atomic City, USA« und gab Gratiskalender mit den Zeiten der geplanten Atomtests heraus. Es war der letzte Schrei, mit Atom-Cocktails die Nächte durchzufeiern und dann den Highway 95 hinunterzufahren, um in der Morgendämmerung die Detonation aus der Nähe zu beobachten. Oder man erlebte den Atompilz und das Beben der Erde vom Hotelzimmer aus. Für Suiten, die Fenster in Richtung des Testgeländes besaßen, wurde ein Aufpreis verlangt.1
Auch die Stars erlagen der nuklearen Versuchung. Als der junge Elvis Presley in Las Vegas auftrat, wurde er als »Amerikas einziger Sänger mit der Power des Atoms« angepriesen. Um den Glamour noch zu steigern, kürte man eine Zeit lang alljährlich eine »Miss Atomic Bomb«. Atombomben, Elvis und Showgirls – mehr Las Vegas ging nicht! Was hätte ein mächtigeres Sinnbild für das moderne Amerika sein können?
Zur Blütezeit der Atomtests in der Wüste von Nevada wurde vier Mal, von 1952 bis 1957, eine junge Frau zur Miss Atombombe gekrönt. Die erste war Candyce King, eine Tänzerin im Last Frontier Hotel von Las Vegas – die »vor Liebreiz anstelle tödlicher Atomteilchen strahlt«, wie es ein Journalist formulierte. Ihr offizieller Titel war »Miss Atomic Blast«, und einen Schönheitswettbewerb hatte es gar nicht gegeben, lediglich ein Werbefoto, auf dem sie eine atompilzförmige Kappe trägt.
Die nächste war Paula Harris, die bei einem Festumzug auf einem der Wagen neben einer Atompilzwolke saß, eine Anspielung auf den Oscar-nominierten Film Die Stadt der tausend Gefahren (The Atomic City). In dem Film von 1952 wird der Sohn eines Wissenschaftlers der geheimen Atombombenstadt Los Alamos Opfer einer Entführung. Auf Harris folgte Anfang 1955 Linda Lawson, die als Sängerin im Sands Hotel arbeitete. Sie soll »Miss Cue« genannt worden sein, eine ironische Anspielung auf die mehrfach verschobene Testreihe »Operation Cue«, bei der die Auswirkungen einer atomaren Explosion auf Häuser, Brücken und die städtische Infrastruktur getestet werden sollten.
Die berühmteste Miss schließlich war ein weiteres Showgirl aus dem Sands Hotel; sie trat 1957 unter dem Namen Lee Merlin auf. Auf einem Foto trägt sie einen Badeanzug, der weitgehend aus einem großen Baumwoll-Atompilz besteht. Mit diesem Bild war alles klar. Blonde Locken im Wind, die Arme hochgereckt, rote Lippen – und ein weißer Atompilz. Seltsamerweise weiß niemand, was aus ihr geworden ist und ob sie tatsächlich so hieß. Fast genauso schnell wie die Pilzwolken war sie wieder verschwunden.
Die Bombe war so sexy, dass nicht nur Frauen nach Bomben benannt wurden, sondern auch umgekehrt. Ein Atomtest im Juni 1957 – bei dem siebenhundert Schweine hoch radioaktiver Strahlung und umherfliegenden Glaspartikeln ausgesetzt wurden, um herauszufinden, wie es ihnen danach ging – trug den Namen »Priscilla«. Gerüchten zufolge war das der Name einer beliebten Prostituierten aus Pahrump, einer Kleinstadt nahe dem Testgelände, in der zahlreiche dort beschäftigte Arbeiter untergebracht waren.2
Auch Kinder ließ man die Bombe feiern. In St. George, Utah, einer Mormonenstadt, die in Hauptwindrichtung vom Testgelände lag und in der später vermehrt Krebserkrankungen auftraten, wurde 1954 ein kleines Mädchen mit Atompilz auf dem Kleid zu »Unserer kleinen A-Bombe« gekürt. Die erste Miss Atombombe aber wurde skurrilerweise gar nicht in Nevada ernannt, wie der damalige Strahlenschutztechniker Robert Friedrichs zu erzählen weiß, der später für das Zeitzeugenprojekt der Testanlage recherchierte. Ja, nicht einmal in Amerika. Gekürt wurde sie bei einem 1946 von den amerikanischen Besatzungstruppen organisierten Schönheitswettbewerb in Nagasaki, nur wenige Monate nachdem die amerikanische Bombe diese Stadt zerstört hatte.3 Auf Fotos, die damals in einem Frauenmagazin erschienen, sieht man die vier Finalistinnen in Kimonos statt Badeanzügen und hinter ihnen einen Haufen grinsender GIs.4
Nevada war ein Nachzügler in Sachen Nuklearwaffentests. Die allererste, zunächst geheim gehaltene Atombombendetonation fand in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1945 statt. (Atomtests wurden in der Regel in der Morgendämmerung angesetzt, weil meist Windstille herrschte, was die Ausbreitung des Fallouts minimierte und die Wolke besonders pilzförmig erscheinen ließ.) Schauplatz des Trinity-Tests war die Wüste Jornada del Muerto, wörtlich »Marsch des Toten«, südlich von Albuquerque in New Mexico. Durch die Detonation der tennisballgroßen Plutoniumkugel verdampfte der gut dreißig Meter hohe Stahlturm, an dem die Bombe aufgehängt war, und zurück blieb ein dreihundert Meter breiter Krater im Sand. Die Pilzwolke über der Wüste erhob sich bis in eine Höhe von mehr als zwölf Kilometern. Nach vierzig Sekunden erreichte eine dröhnende Druckwelle die knapp zehn Kilometer entfernten nächsten Beobachter und riss viele von ihnen um. Der Sand rings um den Krater schmolz zu grünem Glas, dem Geologen später den Namen Trinitit gaben.5
1952 füllten Pioniere der US-Armee den Krater auf und errichteten einen Obelisken mit Gedenktafel. Der Ort der Detonation gehört heute zum Raketentestgelände White Sands Missile Range und ist zweimal im Jahr für die Öffentlichkeit zugänglich. Wer versucht ist, einen der Trinititsplitter aufzuheben, die man immer noch rund um den Obelisken finden kann, wird ermahnt, dies sei verboten – das Glas ist mit radioaktiven Plutoniumspuren bedeckt, deren Zerfall noch Zehntausende Jahre andauern wird.
Nach dem Krieg hatten die Bombenmacher zunächst beschlossen, amerikanischen Boden nicht durch Atomtests zu beschmutzen. Für weitere Versuche mit noch mächtigeren Bomben fiel ihre Wahl auf die Marshallinseln im Pazifik, die man jüngst von den Japanern befreit hatte, genauer auf eines ihrer entlegensten Atolle, das Bikini-Atoll. Das bescherte der Welt den Bikini. Das erste zweiteilige Badeanzugmodell bekam den Namen atome und wurde 1946 von dem französischen Modeschöpfer Jacques Heim begeistert als »der kleinste Badeanzug der Welt« angepriesen. Nach dem ersten US-Kernwaffentest in jenem Sommer jedoch brachte ein französischer Kfz-Ingenieur namens Louis Réard, der kurz zuvor das Dessous-Unternehmen seiner Mutter übernommen hatte, einen noch winzigeren Zweiteiler auf den Markt, den er Bikini nannte. Der Vatikan nannte ihn »sündig« – den Badeanzug wohlgemerkt, nicht den Atomtest.