Fred Pearce

Fallout


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Wüste von Nevada so gut dafür geeignet war, testeten die Atombombardiere nun wieder auf heimischem Grund und Boden. Nachdem sie am 27. Januar 1951 den »Apparat« ABLE über dem ausgetrockneten See Frenchman Flat auf dem neuen Testgelände von Nevada zur Detonation gebracht hatten, wurde der frühmorgendliche Himmel nun häufiger von Atomtests erhellt, die oft sogar im Fernsehen übertragen wurden.

      Schon bald verfolgte das ganze Land begeistert das nukleare Spektakel. Alles Mögliche, von Uhren über Lampen bis hin zu Firmenlogos, wurde plötzlich im »Atomstil« gestaltet, etwa mit Pilzwolken oder einem Atomkern, umkreist von Elektronen. Highschool-Football-Teams bekamen neue Namen wie »The Atoms«. (Eine Schulmannschaft aus der Umgebung des Nuklearkomplexes von Hanford verwendet bis heute das Atompilzsymbol.6) Doch unter die Begeisterung mischte sich Angst. Es war die Amtszeit von Senator Joe McCarthy, und die von ihm geleiteten öffentlichen Verhöre zur Aufdeckung einer befürchteten Unterwanderung der Regierung durch Kommunisten führten in der Politik zu einem Klima der Paranoia. Dabei gab es durchaus echte Spione, wie den jüngst inhaftierten Klaus Fuchs. Und aufgrund der Furcht vor einem totalen Atomkrieg zwischen den USA und den Sowjets wurden erschreckend systematische Vorkehrungen getroffen.

      Unheimlicher noch als die Atomtest-Gaffer in den Luxussuiten von Las Vegas waren die sogenannten Survival Towns. Auf dem Testgelände errichteten Soldaten Abbilder amerikanischer Vorstädte mit vollständig eingerichteten Häusern, bewohnt von Schaufensterpuppen. Ihre Zerstörung wurde detailgenau auf Film festgehalten, denn man wollte wissen, was passierte, wenn das Land apfelkuchenseliger Heimeligkeit in Grund und Boden gebombt würde.7

      Nicht weit davon entfernt, ebenfalls auf dem Testgelände, lag eine beinahe genauso surreal anmutende Stadt. Mit Mercury, einem alten, etwa acht Kilometer vom Highway 95 entfernten Bergbauort, bekam nun auch Amerika eine geschlossene Atomstadt. Sie bildete den Zugang zum Testgelände, war aber zugleich durch militärische Bewachung von der Außenwelt abgeschnitten. Zeitweise hatte Mercury eine Bevölkerung von über zehntausend Angestellten und kam damit fast an die ständige Bevölkerung von Las Vegas heran. Es gab eine Bowlingbahn, ein Kino, ein Schwimmbad, eine Kirche, ein Krankenhaus, eine Bibliothek und das Atomic Motel – ganz zu schweigen von der Desert-Rock-Landebahn, eigens errichtet für den Besuch von Präsident John F. Kennedy im Jahr 1963. Auch Mercury war ein perfektes Imitat einer amerikanischen Vorstadt – und endete als einziges nicht in Trümmern. Wenngleich auf nur noch fünfhundert Seelen geschrumpft, besteht diese Zeitkapsel der 1950er-Jahre bis heute.

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      Zwischen 1951 und 1962 wurden in Nevada rund einhundert oberirdische Tests durchgeführt. Broschüren der Atomenergiekommission sollten jegliche Ängste beschwichtigen, dass es gefährlich sei, die Tests zu beobachten. Anwohnern und Touristen wurde versichert: »Obwohl manche von Ihnen einem potenziellen Risiko durch Lichtblitz, Detonation oder Fallout ausgesetzt gewesen sind«, sei die von den Tests ausgehende Strahlung »nur geringfügig höher als die normale Strahlung […] unabhängig von Ihrem Wohnort« und »stellt für alles Leben außerhalb des Testgeländes keine ernsthafte Gefahr dar«.8

      Auf jeden Fall sei es patriotisch, Zeuge zu sein. »Sie nehmen damit ganz konkret aktiv am Atomtestprogramm unserer Nation teil«, hieß es in der Broschüre. Ja, natürlich, aber zugleich waren die Zeugen unfreiwillige Versuchskaninchen in einem staatlichen Experiment. Als die Pilzwolken vom Wind auseinandergetrieben wurden, verteilten sie radioaktive Partikel über das ganze Land. In späteren Jahren sollten Forscher Gesundheitsstatistiken studieren, um herauszufinden, wie gefährlich dieser Fallout womöglich gewesen war. Viele US-Bürger klagten vor Gericht auf Ausgleichszahlungen für körperliche Schäden, die sie angaben, erlitten zu haben.

      Anwohner hakten bereits früh nach, ob die Tests wirklich so unbedenklich für sie waren, wie die Atomenergiekommission es stets erklärte. Anfang 1953 starben rund viertausend Schafe, darunter neugeborene Lämmer, auf einer achtzig Kilometer entfernten Weide in Hauptwindrichtung vom Testgelände. Damals wurde der Vorfall vertuscht. Tote Lämmchen waren schlechte PR, doch zwanzig Jahre später stellten Forscher – obwohl die Kommission einen Zusammenhang immer zurückgewiesen hatte – fest, dass die Tiere durch den Fallout radioaktiv belastetes Gras gefressen hatten und daran gestorben waren. Als einige Wochen nach dem Vorfall mit den Schafen kurz nach der Detonation des Tests »Simon« der Fallout niederging, waren die Behörden so alarmiert, dass Straßen jenseits der Grenze zu Kalifornien gesperrt und Dutzende Fahrzeuge dekontaminiert wurden. 1958 mischte sich eine Fallout-Wolke mit dem Smog über Los Angeles.9

      Die Wissenschaft hinkte den Ängsten der Bevölkerung stets hinterher. Als Erstes widmete man sich den Armeeangehörigen. Wie eine Studie aus den späten 70er-Jahren befand, waren unter den dreitausend Soldaten, die man im August 1957 hatte antreten lassen, um dem Test »Smokey« beizuwohnen, später doppelt so viele Leukämiefälle zu verzeichnen als statistisch erwartbar. War das nun Zufall, das Ergebnis einer besonders genauen Erhebung oder eine tatsächliche Auswirkung? Möglich sind alle drei Erklärungen. Die Amerikanische Krebsgesellschaft gab später bekannt, dass die Zahl der Leukämiefälle unter Militärangehörigen, die den Tests im Rahmen ihrer Dienstpflicht beigewohnt hatten, im Durchschnitt dreimal höher gewesen sei; andere Studien hingegen erkannten keinen vergleichbaren Zusammenhang.10 Da weitreichende Entschädigungen bereits flossen, ehe wissenschaftliche Belege vorlagen, ist die Motivation, die Wahrheit herauszufinden, gesunken. Die Zusammenhänge sind bis heute unbewiesen.

      Als Nächstes befassten sich Forscher mit der Zivilbevölkerung, die in Windrichtung vom Testgelände lebte. In den 1980er-Jahren stellte der Epidemiologe Carl Johnson aus Colorado eine um 60 Prozent erhöhte Krebsrate bei den viertausend Mormonen der Kleinstädte in Südwest-Utah fest; darunter auch die Stadt St. George, in der 1954 »Unsere kleine A-Bombe« gekrönt worden war und die weniger als 250 Kilometer vom Detonationsort in Nevada entfernt liegt.11 In St. George war man in die Bombe vernarrt, und die Behörden setzten die eigenen Bürger einigen Gefahren aus. Schulen veranstalteten Ausflüge zu Aussichtspunkten, von denen man die Atompilze im Süden gut sehen konnte.

      Im Mai 1953 wurde die Stadt direkt getroffen, denn der Wind drehte und bescherte ihr den Fallout einer Bombe namens »Harry« – die ihren Spitznamen »Dirty Harry« der Tatsache verdankt, dass sie mehr Fallout generierte als jeder andere oberirdische Test auf dem Festland der Vereinigten Staaten.12 Die Strahlendosis, der ein Mensch dort an diesem Tag ausgesetzt war, wurde auf 60 Millisievert geschätzt, das ist mehr als das Dreifache des damaligen Grenzwerts für die Öffentlichkeit. Der Strahlenbiologe, der die Messungen durchführte, gab später vor Gericht an, er sei angewiesen worden, die gemessenen Werte zu verschweigen. Außerdem sei sein offizieller Bericht von Dritten manipuliert worden.13 Eine Dosis von 60 Millisievert liegt noch unter dem Wert, bei dem eine Zunahme von Krebserkrankungen und anderen Schädigungen sicher nachgewiesen wurde; er wird im Allgemeinen bei rund 100 Millisievert angesetzt. Allerdings waren die Menschen in Südwest-Utah dem Fallout vieler Tests ausgesetzt. Wie der Strahlenexperte John Gofman von der Atomenergiekommission 1984 vor einem Bezirksgericht aussagte, schätzte er die kumulierte Belastung der Einwohner während der 1950er-Jahre auf rund 360 Millisievert, also deutlich in dem Bereich, der Schädigungen wahrscheinlich macht.14

      Unter anderem aufgrund von Gofmans Aussage entschied der Richter, dass zehn Menschen aus dem Bundesstaat aufgrund des Fallouts an Krebs gestorben seien, darunter auch Sheldon Nisson aus St. George und Sybil Johnson aus dem benachbarten Cedar City, beide dreizehn Jahre alt. Außerdem befand er die Regierung der Fahrlässigkeit bei der Durchführung der Tests für schuldig und bemängelte, dass sie die in Hauptwindrichtung lebende Bevölkerung (»downwinders«) nicht über die Gefahren informiert habe. Der Richterspruch wurde von einem Berufungsgericht und danach vom Obersten Bundesgericht aufgehoben, doch in beiden Verfahren lediglich unter der Begründung, dass das Gesetz nicht bei Fällen greife, die die nationale Sicherheit beträfen.15

      Viele vermuten, dass auch der Schauspieler John Wayne zu den Opfern der Kernwaffentests in Nevada zählt. In der Nähe von St. George drehte er 1974 Der Eroberer, einen Film über Dschingis Khan, den die Kritik verriss. Zwar fanden die Dreharbeiten lange nach dem Ende der Tests statt, doch wahrscheinlich wirbelte Wayne dabei jede Menge durch den Fallout kontaminierten Sand auf.