Fred Pearce

Fallout


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abbekommen; niemand wurde verschont. Er lässt sich in den Wachstumsringen der Bäume ebenso nachweisen wie in den Korallenriffen, den Böden und den Küstensedimenten jedes Kontinents. Auf dem Höhepunkt im Jahr 1963 erhielt jeder Mensch im Durchschnitt eine Dosis von 0,15 Millisievert, was nur etwa vier Prozent einer typischen Jahresdosis aufgrund der natürlichen Umgebungsstrahlung entspricht. Nur in wenigen Gegenden erreichten die Dosen eine Höhe, die wohl zu Schädigungen führen konnte, doch wie wir in Kapitel 20 noch sehen werden, herrscht große Unsicherheit darüber, wie viele Menschen der Weltbevölkerung durch kleinste Strahlendosen ums Leben kommen. Kann sein, dass der Fallout niemanden das Leben gekostet hat, es kann aber auch sein, dass er für den Tod Zehntausender verantwortlich ist.

      Während solche Fragen selbstverständlich wichtig sind, sollten wir darüber nicht die vielen weitaus unmittelbareren Probleme der Menschen aus den Augen verlieren, die das Pech hatten, in der Nachbarschaft von Kernwaffentestgebieten zu leben. Um mir ein besseres Bild davon zu machen, habe ich die bruchstückhaften, aber zunehmend überzeugenden Dokumente durchforstet, die zeigen, was rund um das sowjetische Testareal von Semipalatinsk in der ostkasachischen Steppe geschah, dort, wo früher häufig ein tödlicher radioaktiver Nebel übers Land trieb.

       SEMIPALATINSK: DIE GEHEIMNISSE DER STEPPE

      »All das war viele Jahre lang geheim«, schrieb mir Kazbek Apsalikow, der Direktor des Instituts für Strahlenmedizin und Ökologie (IRME), einer kasachischen Regierungsbehörde. Ich hatte ihn per E-Mail kontaktiert, weil er Mitverfasser eines Artikels über die sowjetischen Kernwaffentests war, die vor einem halben Jahrhundert in Semipalatinsk stattgefunden hatten. In einem hochinteressanten Absatz hatte der Text aus dem Jahr 2014 von einer tödlichen Falloutwolke berichtet, die 1956 über eine Großstadt in Kasachstan hinweggezogen sei. Die 250.000 Einwohner von Ust-Kamenogorsk (heute Öskemen), eines Zentrums der Schwerindustrie, gut vierhundert Kilometer vom Detonationsort entfernt, »waren durch nuklearen Fallout teils Strahlendosen ausgesetzt, die so hoch waren, dass sie akute Strahlenkrankheit auslösten«, hatte Apsalikow geschrieben. In der Folge »[wurden] 638 an Strahlenkrankheit leidende Menschen in ein Spezialkrankenhaus gebracht, das Dispensarium Nr. 3 […] Moskau schickte eine von einem Minister geleitete ›Sonderkommission‹, die herausfinden sollte, was geschehen war.«1

      Apsalikow selbst war in den ehemals geheimen Archiven seines Instituts auf dieses spannende Fitzelchen Information gestoßen. »Leider sind keine weiteren Daten über das Schicksal dieser Leute zugänglich«, erklärte er mir. Vermutlich seien die Akten größtenteils nach Moskau gebracht worden, entweder damals schon oder dann 1991, als die Sowjetunion zerfiel. Was an jenem Tag geschehen war, sollte geheim bleiben. So wissen wir noch immer nicht, wie viele Menschen, die mit akuter Strahlenkrankheit eingeliefert worden waren, am Ende daran starben. Bekannt ist jedoch, dass weitaus mehr erkrankten als nach dem Unglück von Tschernobyl; dort litten 134 Menschen an ähnlichen Symptomen, und achtundzwanzig von ihnen starben wenig später. Überträgt man das Zahlenverhältnis auf Ust-Kamenogorsk, wären dort 130 Menschen ums Leben gekommen. Aber das ist reine Spekulation.

      Nach seiner Inbetriebnahme 1949 hatte sich das Areal von Semipalatinsk zum geschäftigsten Bombentestgelände weltweit entwickelt. Außerdem unterlag das von den Sowjets Polygon genannte Gebiet der strengsten Geheimhaltung. Insgesamt wurden 619 Tests dort durchgeführt, davon 122 oberirdisch. Die in Hauptwindrichtung lebenden Menschen wurden nicht über die Pläne der Bombentester informiert. Viele spürten die Erde beben und sahen das Leuchten und die pilzförmigen Wolken, doch in den Zeiten Josef Stalins stellte man besser nicht zu viele Fragen. Ganz besonders nicht in einer geschlossenen Stadt, wo Uran für die Atomindustrie gefördert und verarbeitet wurde.

      Dennoch war die Fallout-Wolke über einer so großen Stadt ein Weckruf für die Sowjetbehörden. Sie müssen sich gedacht haben, dass es hier um mehr ging als nur ein paar entbehrliche Bauern.2 Daher forderte die »Sonderkommission«, die sich vor allem aus Wissenschaftlern des Moskauer Instituts für Biophysik zusammensetzte, wissenschaftliche Messungen der Radioaktivität, um die Strahlenbelastung der rund eine Million Menschen zu bestimmen, die in Hauptwindrichtung nahe dem Testareal lebten.

      Das unter dem Namen »Dispensarium Nr. 3« eilig eingerichtete Krankenhaus wurde zu einer dauerhaften Forschungsanstalt, aus der später das IRME hervorging, das Apsalikow heute leitet. Seit damals erfasst und dokumentiert das Institut das Schicksal der Atomtestopfer, zuerst in seiner Funktion als geheime sowjetische Forschungsstelle, seit 1991 als öffentliche Einrichtung. Selbst andere vor Ort ansässige Wissenschaftler erfuhren vor 1991 nur wenig von den gewonnenen Erkenntnissen. Danach wurde das Archiv offenbar aufgelöst – bis auf diesen einen Bericht, auf den Apsalikow jetzt gestoßen war.

      Geschrieben hatten ihn 1957 die Wissenschaftler des Moskauer Instituts für Biophysik, und er schildert die »Expedition« der Sonderkommission nach Semipalatinsk. Er ist auf Russisch verfasst und als »streng geheim« gekennzeichnet, Apsalikows Mitarbeiter haben ihn für mich übersetzt. Angesichts seiner Mischung aus Pedanterie, Vagheit und einzelnen atemberaubenden Enthüllungen bin ich mir so gut wie sicher, dass er echt ist.

      Die Forscher berichten von einer großflächigen und dauerhaften radioaktiven Kontamination der Städte und Dörfer Ostkasachstans. Mitte September 1956 betrug die Strahlendosis durch das Einatmen der Luft in und um Ust-Kamenogorsk 1,6 Mikroröntgen pro Stunde, was ungefähr 140 Millisievert pro Jahr entspricht. Das war das Hundertfache des damals »zulässigen Werts« und offenbar die Folge einer »vor kurzer Zeit erfolgten Kontamination«, so der Bericht.3

      Einen Monat später hatte die Expedition in einigen Dörfern Proben genommen. Am schlimmsten stand es um Snamenka auf dem halben Weg zwischen dem Polygon und Ust-Kamenogorsk. Es hatte wohl genau in der Bahn des Fallouts gelegen. »Nahe Snamenka fiel über mehrere Jahre wiederholt ein Niederschlag aus radioaktiven Substanzen, die Menschen und Umwelt schadeten«, hielt der Bericht fest. Dieser Fallout sei »eine Gefahr für die Gesundheit«. Die Bedrohung sei »ernster und gefährlicher als im Bezirk Ust-Kamenogorsk«. Bei ihrem Besuch des Dorfs hatten Armeeärzte drei Personen mit Schädigungen des Blutkreislaufs und des Nervensystems angetroffen und diese als Symptome einer akuten Strahlenkrankheit diagnostiziert.

      Außerdem kam die Expedition zu dem Ergebnis, dass Kara-aul, ein landwirtschaftlicher Bezirk südöstlich des Polygons, nach wie vor durch den »gefährlichen« Fallout eines drei Jahre zuvor durchgeführten Tests kontaminiert sei. Am 12. August 1953 war er genau über Karaaul hinweggezogen.4 Die Ermittler fanden im Umkreis weitere offenkundige Fälle von akuter Strahlenkrankheit, doch laut Bericht hatte das medizinische Personal Schwierigkeiten, zwischen den Symptomen der Strahlenkrankheit und der Brucellose, einer durch Kontakt mit Vieh übertragenen Erkrankung, zu unterscheiden. In jüngerer Zeit haben Forscher die Vermutung geäußert, diese »Verwechslung« sei vielmehr Teil einer skrupellosen Strategie gewesen. Wie Cynthia Werner von der texanischen A&M University erläutert, wurde das »Dispensarium Nr. 3« in »Anti-Brucellose-Dispensarium Nr. 4« umbenannt, um seinen wahren Auftrag zu verschleiern: die Auswirkungen der Strahlenexposition auf die Ortsbevölkerung zu beobachten.5

      Wer in der Hauptwindrichtung des Polygons lebte, atmete nicht nur strahlendes Material in besorgniserregendem Maß ein, sondern nahm es auch mit der Nahrung zu sich. Die Autoren des Berichts von 1957 stellten eine »beträchtliche Kontamination der Böden, der Vegetation und der Nahrung« fest. Stuhlproben der Arbeiter einer südlich des Polygons gelegenen Kolchose wiesen eine hohe Radioaktivität auf, was sich aber änderte, nachdem die Familien von außerhalb herbeigeschaffte, saubere Nahrung bekommen hatten. Die Expedition forderte ein Verbot des Konsums von lokal angebautem Getreide, »das am stärksten kontaminiert war«. Außerdem sei »davon abzuraten, Atomtests (besonders Explosionen am Boden) durchzuführen, ehe die ganze Ernte der Felder eingebracht und Getreide und Gemüse in Lagern, Schuppen, Kellern etc. eingelagert« sei. Wie die Termine der folgenden Tests beweisen, wurde diese Empfehlung nicht befolgt.6

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      Zwischen 1949 und 1962 führte