September 1951, im August 1953 und im August 1956 – gehen insgesamt 95 Prozent der Strahlendosis zurück, der die örtliche Bevölkerung ausgesetzt war.7 Der erste – bei dem die Welt entsetzt feststellen musste, dass nicht nur Uncle Sam die Bombe besaß, sondern auch Onkel Josef – war womöglich zugleich der schlimmste. Er fand am Morgen des 29. August 1949 statt. Die Wirkung der Bombe wurde dadurch noch vergrößert, dass sie in nur 36 Metern Höhe zur Detonation gebracht wurde. Der Feuerball traf mit enormer Wucht auf den Boden und riss riesige Mengen Erdreich in die Luft, das dadurch radioaktiv kontaminiert wurde und in einer dichten Wolke über Dutzende kasachischer Dörfer hinweg in Richtung Nordosten über die Grenze und bis in den russischen Teil des Altai-Gebirges zog.
Direkt vom Fallout betroffen war das Dorf Dolon, das rund 110 Kilometer entfernt am Ufer des Flusses Irtysch liegt. Niemand wurde evakuiert. »Wegen der offiziellen Geheimhaltung wurden die Leute nicht gewarnt, in ihren Häusern zu bleiben. Sie waren sich selbst überlassen«, erzählte Leonid Iljin, der Direktor des russischen Instituts für Biophysik, meinem Kollegen Rob Edwards mehr als vierzig Jahre später, als sich in der Sowjetunion der Schleier der Geheimhaltung hob.8 Allerdings hätte es ohnehin wenig genützt, drinnen zu bleiben, denn die Holzhäuser boten kaum Schutz vor der Strahlung. Jüngste wissenschaftliche Schätzungen anhand der alten Messungen aus Sowjetzeiten ergaben, dass die Bewohner von Dolon wohl allein durch diesen Test eine durchschnittliche Dosis von 1.300 Millisievert erhielten – genug, um eine wahre Epidemie akuter Strahlenkrankheit auszulösen, die wohl viele Todesopfer forderte. Eine Strahlenbelastung in ähnlicher Höhe erlitten die Einwohner von Sarzhal, 120 Kilometer südöstlich des Testgeländes, als ihr Ort am 12. August 1953 direkt vom Fallout getroffen wurde.9 Und die zwanzigtausend Bewohner des Landkreises Uglowskoje, kurz hinter der russischen Grenze, waren laut Iljin wohl rund 800 Millisievert ausgesetzt.10 Die Studien sind zu dem Ergebnis gekommen, dass im Lauf der Jahre rund zehntausend Menschen in der Umgebung des Polygons vermutlich Strahlendosen von über 70 Millisievert erhalten haben, und damit einem potenziellen Gesundheitsrisiko ausgesetzt waren.11
Kaischa Atachanowa gehört zu den Leuten, die sich gut an diese Zeit erinnern, denn sie ist in Karaganda aufgewachsen, einer Stadt mit einer halben Million Einwohner, vierhundert Kilometer westlich des Polygons. Später, als Biologin, forschte sie an den Fröschen, die in den radioaktiv belasteten Tümpeln des Polygons leben, und wurde schließlich Umweltschützerin. Ich interviewte sie in London, als sie gerade mit dem angesehenen Goldman Environmental Prize für Umweltschutz ausgezeichnet worden war. »Die Leute sahen diese riesigen Pilzwolken am Himmel, wussten aber nicht, was das war«, erzählte sie mir. Nach 1956 wurden ein paar halbherzige Anstrengungen zum Schutz der Menschen unternommen: »Soldaten kamen in die Dörfer und sagten ihnen, sie sollten ins Freie gehen, sich in Gräben legen und sich mit weißen Sachen zudecken, etwa mit Laken oder Handtüchern, und nicht nach oben schauen. [An anderen Tagen] gaben sie den Leuten Rotwein, angeblich ein Gegenmittel gegen die Strahlung.«
Es gab sogar Evakuierungen: »für ein paar Tage, bis der Staub sich gelegt hatte. Aber das Vieh und die Hühner blieben in den Dörfern. Danach wohnten die Menschen wieder in ihren radioaktiv verseuchten Häusern, zusammen mit ihren radioaktiv verseuchten Tieren.« Sie schwammen sogar in dem See, der durch einen Bombentest entstanden war, und fingen die darin lebenden Fische; dort, wo Atachanowa später an radioaktiv belasteten Amphibien forschen sollte. »Sie wussten nicht, dass es gefährlich war.«12
Die Auswirkungen der Bombentests im Polygon auf die Gesundheit der Menschen sind im Lauf der Jahre oft übertrieben dargestellt worden. Nachdem der gerade unabhängig gewordene Staat Kasachstan 1991 das Testgelände geschlossen hatte, schwor er den Nuklearwaffen ab und erfand sich als Opfer des sowjetischen Atomwaffenprogramms neu.
Einige Jahre lang war auf der Website seiner diplomatischen Vertretung in den USA ein Banner mit dem Schriftzug »Der nukleare Albtraum von Kasachstan« zu sehen.13 Reporter sollten dazu animiert werden, ein Gruselkabinett in Formaldehyd konservierter deformierter Föten an der Staatlichen Medizinischen Akademie Semei zu besuchen und in die Dörfer hinauszufahren, wo die Leute allzu bereit waren, ihre Horrorgeschichten zu erzählen und ihre kranken Kinder vorzuführen.14
Wie glaubhaft ist all das? Kranke und missgebildete Kinder leben überall auf der Welt; schrecklich aussehende Föten aus Abtreibungen und Fehlgeburten gibt es in jedem Krankenhaus. Die Frage ist, ob sie in diesem bestimmten Gebiet zahlreicher sind als statistisch zu erwarten, und ob das in irgendeiner Form auf die Strahlung aus den Atomwaffentests zurückgeführt werden kann.
In den 1990er-Jahren begannen die Forscher um Apsalikow am IRME, Informationen über die Menschen, die im Schatten der Falloutwolken gelebt hatten, in einer Datenbank zu sammeln. Die daraus gezogenen Schlüsse sind umstritten. Manche Wissenschaftler sind überzeugt, Auswirkungen der Strahlung erkennen zu können. Laut Marat Sandybajew, dem Leiter des Onkologischen Zentrums von Semei, sind Krebserkrankungen in den Gebieten in der Hauptwindrichtung doppelt so häufig wie statistisch zu erwarten.15 Eine andere Studie ermittelte eine erhöhte Zahl von Leukämiefällen unter den Kindern, die in den 1980er-Jahren weniger als 190 Kilometer von dem Testgelände entfernt gelebt hatten.16 Manche Forscher schließen nicht immer klar aus, ob etwa Störvariablen wie schlechte Lebensbedingungen oder Mangelernährung daran schuld sind, und nicht radioaktive Strahlung.17 Gleichwohl machen die hohen Strahlendosen, denen die Menschen der ganzen Region um Semipalatinsk ausgesetzt waren, diese Schlussfolgerung sehr plausibel.
Heute zieht das Polygon die Fans des sogenannten Dark Tourism an. Es gibt Führungen zu den Betontürmen, in denen die Instrumente zur Messung der Sprengkraft installiert waren. In ihrer Nähe ist die Strahlung bis heute recht hoch. Das führt zu der Frage, ob die Bewohner der Steppenregionen Ostkasachstans hier ein halbes Jahrhundert später überhaupt schon wieder gefahrlos Fische fangen, ihre Schafe weiden lassen, die Luft atmen, Brot und Milch aus der Gegend verzehren und in ihrem Garten Gemüse anbauen können.
Ein großer Teil der radioaktiven Isotope ist zerfallen. Die Strahlenbelastung bewegt sich selbst bei denjenigen, die Lebensmittel aus der Region zu sich nehmen, in einer geringeren Größenordnung als zu der Zeit der Atomwaffentests. Aber weiterhin liegt Material herum, das die Geigerzähler zum Knattern bringt. 2006 stießen japanische Forscher in den Böden rings um das Dorf Dolon, über das 1949 die Falloutwolke niedergegangen war, auf Plutonium.18 Sergej Lukaschenko, als stellvertretender Direktor des Nationalen Nuklearzentrums von Kasachstan zuständig für die Verwaltung des Polygons, ist dennoch optimistisch. Wie er mir sagte, könnten nach weiteren Reinigungsmaßnahmen bis zu 80 Prozent des Geländes »der Gesellschaft zur gewöhnlichen wirtschaftlichen Nutzung zurückgegeben werden«.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass er die übrigen 20 Prozent – ein Gebiet so groß wie Israel – in absehbarer Zukunft weiterhin als unsicher betrachtet. Wie Apsalikow es formuliert, ist das Testareal »nicht die endzeitliche Katastrophenzone, zu der es manchmal erklärt wird, aber es ist auch klar, dass ein Teilgebiet nie wieder zu einem natürlichen Zustand zurückfinden wird, dass die Lage in anderen Gebieten ungeklärt und potenziell gefährlich ist und dass die Menschen vor Ort bis heute Gesundheitsrisiken und psychologischem Stress ausgesetzt sind«.19
Gerade dieser psychologische Stress ist bedeutsam. Wie die Strahlung ist auch er eine Folge der Atomwaffenversuche. Die Vorstellung, dass man selbst oder das eigene Kind aufgrund von Bombentests, die vor Jahrzehnten im eigenen Land stattfanden, eine Erkrankung in sich trägt, ist beängstigend. Ebenso beängstigend ist es, nicht zu wissen, was aus der nächsten Umgebung überhaupt bedenkenlos verzehrt oder verwendet werden kann und was einen das Leben kosten könnte.
Eine solche Angst kann einen zerfressen. Bei einer regionalen Untersuchung kam zutage, dass zwei Drittel der Menschen, die die Zeit der Atomwaffentests selbst erlebt haben, glauben, der Fallout sei verantwortlich für die schlechte Gesundheitslage in ihrem Umfeld. Womöglich irren sie sich. »Offenbar führen viele Ortsansässige alle möglichen Probleme auf das nukleare Erbe zurück«, sagt Apsalikow. Doch von der radiologischen Wirkung der Strahlung ganz abgesehen, »sind psychologischer Stress und Angst ein bedeutendes und andauerndes Erbe der Kernwaffenversuche«.20