Weise ihres Umgangs mit Menschen, die als Falloutopfer galten, oft wenig hilfreich. »Wissenschaftler untersuchten die Leute und schrieben Fachartikel über sie. Aber geholfen hat ihnen keiner«, erzählte sie mir. »Sie kamen sich vor wie Versuchskaninchen.«
Vielleicht aber steht diese passive Opferrolle, sei sie nun radiologisch oder psychologisch begründet, zu sehr im Fokus. Forscher, die Zeit bei den Menschen in der Öde von Semipalatinsk verbracht haben, berichten von einer zwiespältigen Haltung gegenüber den Risiken. Viele Leute sind entschlossen, wieder selbst Herr der Lage zu werden. Scheinbar furchtlos widersetzen sich viele den staatlichen Vorschriften und ziehen durch die radioaktiv belastete Steppe, bauen Futterpflanzen an und pflücken wild wachsende Erdbeeren. Schafe und Rinder lassen sie zu Zehntausenden in der Nähe der kontaminierten Testareale und vollgelaufenen Krater weiden.
Die Dorfbewohner verfügten über eine ganz eigene psychologische Überlebensstrategie, sagt die Ethnologin Magdalena Stawkowski von der Universität Stanford. »Viele behaupten, sie seien ›Mutanten‹ und hätten sich an die Strahlung gewöhnt. Sie betrachten ihr verstrahltes Erbgut als genetisch weiterentwickelt und perfekt an ihr Ökosystem angepasst. Sie halten sich für verbesserte Menschen, die auch in toxischer Umgebung überleben können.« Auf Außenstehende möge eine solche Haltung befremdlich wirken, sagte sie, doch einem ewigen Selbstbild als geschädigtes Opfer sei sie womöglich vorzuziehen.21
Kapitel 6
DER PLUTONIUMBERG: GREIFEN SIE NUR ZU!
Auf den meisten Testgeländen war es nach dem Moskauer Atomteststoppabkommen von 1963 vorbei mit oberirdischen Kernwaffentests. Doch wie in Nevada bedeutete das auch in Semipalatinsk nicht das Ende der Versuche an sich, sie gingen lediglich in den Untergrund. Sie wurden in einen Granitberg in einer entlegenen Ecke des sowjetischen Testareals verlegt, den Geografen unter dem Namen Degelen kennen und viele Mitglieder der Atomgemeinde den »Plutoniumberg« nennen. Er heißt so, weil man das spaltbare Metall, das das Herzstück der meisten Atomwaffen bildet, nur hier und nirgendwo sonst auf der Welt fördern könnte, wenn man wollte. Das Plutonium ist allerdings nicht das Ergebnis geologischer Prozesse. Plutonium ist im Wesentlichen ein vom Menschen hergestelltes Element. Es existiert hier, weil sowjetische Atomingenieure fast drei Jahrzehnte lang, zwischen 1961 und 1989, in 181 in den Berg getriebenen Stollen Experimente durchführten.1
Viele davon waren gewöhnliche unterirdische Atomexplosionen, bei denen spaltbares Material verdampfte. Allerdings hatten die russischen Bombenbauer eine Vorliebe dafür, die Wirkung konventioneller Sprengstoffe auf Plutonium und dessen Verhalten in verschiedenen möglichen Kampfszenarien zu testen. Bei diesen Experimenten, häufig »Nebentests« genannt, verdampfte das Plutonium nicht und es wurde auch nicht zerstreut. Vielmehr blieben ganze Brocken davon in den Stollen zurück. Die Umweltfolgen sind daher alles andere als nebensächlich.
Derartige Experimente gab es nicht nur in der Sowjetunion. In der Anfangszeit gingen die USA in der Wüste von Nevada auf ganz ähnliche Weise vor. Die amerikanischen Forscher allerdings kamen bald zu dem Schluss, dass sie damit eine große Schweinerei anrichteten und dass dabei eine unvertretbare Menge Plutonium vernichtet würde. Daher gingen sie schon früh dazu über, derartige Experimente in kleinerem Maßstab und unter kontrollierten Bedingungen im Labor durchzuführen. Die sowjetischen Atomwissenschaftler und Waffeningenieure hatten solche Skrupel nicht. Fast drei Jahrzehnte lang war der Berg Degelen ihr Spielplatz. Als die Forscher 1991 nach dem Ende der Sowjetunion abzogen, ließen sie Hunderte Kilogramm waffenfähiges Plutonium in den Stollen zurück: eine wahre Fundgrube für jeden, der auf der Suche nach radioaktivem Material ist, um damit Unfug anzustellen.
Vorhang auf für Siegfried Hecker, einen der berühmtesten Atomwaffenforscher Amerikas und den früheren Direktor des National Laboratory in Los Alamos. Anfang der 1990er-Jahre – als Boris Jelzin im Kreml regierte und die ehemaligen Sowjetbehörden sich gegenüber technischen Beratern, Geldgebern und Wissenschaftlern aus den USA öffneten – wurde Hecker zur zentralen Figur eines Kraftakts der amerikanischen Nuklearinstitutionen, die sich vom sowjetischen Atomerbe ein Bild machen wollten.2
Hecker und die anderen Ermittler waren zum einen neugierig. Sie wollten herausfinden, was ihre Gegner während des fast fünfzig Jahre andauernden Kalten Krieges getrieben hatten. Außerdem wollten sie sicherstellen, dass es in Zukunft keine Unfälle mit der nuklearen Hardware der Sowjets gab. Vor allem aber wuchs ihre Sorge darüber, wer sich sonst noch für das spaltbare Material der Russen interessieren könnte. Sie wussten, dass Terroristen, Schurkenstaaten und einfache Kriminelle in den Weiten der früheren Sowjetunion auf eine wahre Wunderkammer strahlender Scheußlichkeiten stoßen könnten. Womöglich würden die Übeltäter außerdem bereitwillige Unterstützung von den Kadern der staatlichen Wissenschaftler und Techniker erhalten, die während der frühen Neunzigerjahre oft noch nicht einmal ihr Gehalt bekamen.
Durch den Zusammenbruch der Sicherheitssysteme im gesamten sowjetischen Netzwerk von Laboren, Testgeländen, Armeegerätelagern und Kraftwerken »war die Lage im russischen Nuklearkomplex der 1990er-Jahre so gefährlich wie nie zuvor in der Geschichte der Atomenergie«, schreibt Hecker in seinem Buch Doomed to Cooperate. Das Risiko eines Atomkriegs zwischen den Supermächten mochte zwar geringer geworden sein, »aber die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von Atomwaffen irgendwo auf der Welt hatte zugenommen, weil es möglich wurde, Nuklearwaffen oder nukleares Material zu stehlen oder zur Seite zu schaffen«.3
1995 brachte seine Reise durch das unbekannte Sowjetsystem Hecker nach Kurtschatow, der eigens zum Unterhalt des Testgeländes errichteten Stadt, benannt nach dem Atompionier Igor Kurtschatow. Früher war sie fast ein zweites Las Vegas gewesen, nur ohne die Hotels. Mitten im Nirgendwo der ostkasachischen Steppe hatte man sie aus dem Nichts hochgezogen, und zu ihrer Blütezeit wohnten hier 40.000 Einwohner auf dem höchsten Lebensstandard, den das Sowjetsystem zu bieten hatte.
Als Hecker dort eintraf, herrschten andere Zeiten. Anstelle eines lebendigen Orts, bewohnt von den militärisch-industriellen Eliten der Sowjetunion, fand er eine Art Geisterstadt vor, mehr wie Mercury denn wie Las Vegas. Ein paar Tausend Einwohner waren noch da, die meisten angestellt beim Nationalen Nuklearzentrum von Kasachstan, einer damals neuen Behörde, die sich noch in ihre Rolle einfinden musste. Doch die Stadtränder waren zum großen Teil verwaist, und der grandiose Kulturpalast stand verlassen da. Aus der Villa, die einst Lawrenti Beria bewohnt hatte, Leiter der Atomwaffenproduktion unter Stalin, war kurioserweise eine russisch-orthodoxe Kirche geworden.
»Es war nichts zu hören als eine Herde Pferde, die am Stadtrand frei durch die Straßen lief, und zahllose Raben«, schreibt Hecker. Auch in der Steppe weiter südlich, wo sich das Polygon erstreckt, herrschte Stille. Die Straßen und Türme, Büros und Abschussrampen, die für Hunderte Atomwaffentests erbaut worden waren, lagen verlassen da. Am meisten aber erschreckte ihn der Berg Degelen.
Er hatte gehört, er sei schlecht gesichert, und die Menschen aus der Gegend würden darin nach Altmetall graben, das zum Teil bereits im benachbarten China aufgetaucht sei. Das allein war schon schlimm genug. Jedes Stück Schrott war potenziell mit Plutoniumpartikeln kontaminiert. Womöglich war manch einer sogar auf der Suche nach Plutonium, das sich verkaufen ließe. Was ihn jedoch überraschte, war das Ausmaß der Aktivitäten. »Ich hatte Kerle mit Kamelen erwartet, die Kupferkabel aus dem Boden ziehen«, schrieb er 1998 in einem Bericht. Stattdessen sah er »meilenlange Gräben, die nur mithilfe schwerer Baumaschinen angelegt worden sein konnten«. Auf dem ganzen Gelände wurde in industriellem Ausmaß nach Metallen gegraben.4
Durch den Wegfall der Arbeitsplätze auf dem Testgelände blieb den Einheimischen wenig anderes übrig, als den nuklearen Müll nach allem zu durchforsten, was sich verkaufen ließ. Da sie die Stollen ja selbst angelegt hatten, wussten sie ganz genau, wo etwas vergraben lag. Sie hatten sogar ein Vorbild. Der letzte russische Bürgermeister der Stadt Kurtschatow war 1993 wegen Plünderungen gefeuert worden.
Solche Plünderungen waren in den 1990er-Jahren weit verbreitet. Die Täter hatten sich an den zurückgelassenen sowjetischen Bergbaumaschinen bedient und trugen Waffen. Es ist nicht bekannt, dass Plünderer Plutonium aus dem Berg entnommen oder in ernstem Maß Kontaminationen erlitten hätten, aber niemand kann