Horst Afheldt

Wirtschaft, die arm macht


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das Dorf keine Steuern. Keine Grundsteuer, keine Hundesteuer und keine Gewerbesteuer. Laut Handelsregister haben sich deswegen inzwischen 514 steuerflüchtige Firmen aus dem ganzen Land im Koog angesiedelt, darunter namhafte und weltweit agierende Konzerne…

      Natürlich steht im Telefonbuch nicht ›Eon‹ oder ›Deutsche Bank‹, sondern ›VR Telecommunications GmbH&Co KG‹, ›DB Enterprise‹ oder ›DB Value‹ … Wenn Dividende ausgeschüttet oder Anteile verkauft werden, bleibt das alles wunderbar steuerfrei.«

      Selbstredend findet das Beispiel der Gemeinde Nachfolger. »Im Wettlauf um Firmen und Investitionen senken immer mehr Gemeinden die Gewerbesteuer auf null – und tricksen ganz legal den Fiskus aus.«65

      Niemand weiß genau, wie viele Millionen oder Milliarden Gewerbesteuern inzwischen in Norderfriedrichskoog und anderen Gemeinden »gespart« werden… »Aber als zum Beispiel Unilever nur seinen Bereich Bestfoods (Knorr, Pfanni, Mondamin, Maizena) in Monda umtaufte und in die ausgebaute Scheune von Dieckstraat 13 steckte, fehlte der Heilbronner Stadtkasse plötzlich ein zweistelliger Millionenbetrag.«66

      Nun muss Heilbronn an allen Ecken sparen. Wo? Überall, vor allem aber an den Beschäftigten. Die Beamten diskutieren zur Zeit (2003) gerade einen Verzicht auf 30% des Weihnachtsgeldes. Auch andere Sparprogramme liegen für sie und die städtischen Angestellten in der Luft.67 Denn eines ist allen klar: »In dieser schwierigen Lage müssen wir alle unser Schärflein beitragen!«

      Alle?

      Die Umverteilung der Steuerlasten zuungunsten der Arbeit und zugunsten des Kapitals fällt zeitlich zusammen mit einem drastischen Verlust des Anteils des Faktors Arbeit am Sozialprodukt zugunsten des Faktors Kapital. Weniger Arbeitsertrag muss so mehr Steuern aufbringen. Das traurige Resultat von 30 Jahren derartiger Umverteilung von Lasten und Chancen zeigte die gelbe bzw. Sternchenkurve in Grafik C (S. 32): Die durchschnittlichen Nettoeinkommen der (noch) nicht arbeitslosen abhängig Beschäftigten haben sich seit 1950 nur verdreifacht. Das Sozialprodukt stieg auf das Siebenfache und die Summe der Einkommen aus Unternehmen und Vermögen auf das 11,5fache, also fast viermal so stark wie die Einkommen der abhängig Beschäftigten.

      Und noch etwas zeigt sich an dieser gelben bzw. Sternchenkurve der Grafik C: Seit Mitte der 70er Jahre steigen die durchschnittlichen Nettorealeinkommen der abhängig Beschäftigten nicht mehr. Aber das Sozialprodukt, die Summe aller erzeugten Güter und Dienstleistungen, verdoppelte sich. 34,5 Millionen abhängig Beschäftigten stehen aber nur rund vier Millionen Selbstständige und mithelfende Familienangehörige gegenüber. Deren (gestiegene) Einkommen reichen nicht hin, die verdoppelte Produktion auch abzunehmen, zu kaufen. Aber wenn die Nachfrage dem Angebot nicht mehr folgt, entsteht Rezession. Zu den strukturell Arbeitslosen gesellen sich so die konjunkturell Arbeitslosen.

      Steuersenkungen für Unternehmen und obere Einkommen (Senkung des Spitzensteuersatzes) und die daraus zwangsweise folgende Suppenkaspar-Sparsamkeit der »öffentlichen Hände« können in einer solchen Situation nur noch mit Dantes »Lasst, die ihr einkehrt, alle Hoffnung fahren!« kommentiert werden.

      Steuererhöhungen für die Wirtschaft und die Besserverdienenden dagegen würden der bisherigen schiefen Verteilung entgegenwirken. Dabei ist dann nicht einzusehen, warum der »Spitzensteuersatz« wie bisher bei 53% liegt, noch, warum er schon ab ca. 50 000 € gelten soll. Und erst recht nicht, warum man ihn bis 2005 noch auf 43% senken will. Der Spitzensteuersatz inklusive aller lokalen und regionalen Abgaben liegt in den Vereinigten Staaten inzwischen bei immerhin gut 46%.68

      Ein von 10 000 € an von einem auf z.B. zehn Prozent abgesenkten Eingangssatz linear ansteigender Steuersatz, der bei 50 000 € vielleicht 30% erreicht und der bis zu einem zu bestimmenden Grenzwert weiter steigt, würde einer großen Zahl von bisher benachteiligten Menschen mehr von dem, was sie in der Wirtschaft verdient haben, lassen. Und würde so verfügbares Einkommen gerade da sichern, wo die größte Chance besteht, dass es in Konsum und damit Nachfrage umgesetzt wird: im unteren und mittleren Bereich der Einkommen. Gerade hier ist höheres Einkommen auch für die breite Vermögensbildung, die angesichts des Absinkens des Faktors Arbeit immer wichtiger wird, dringend nötig. Und gerade in diesem Bereich ist das Argument, man solle nicht die »Leistungswilligen« bestrafen, nicht ganz falsch. Dieses Argument verliert jedoch immer mehr an Gewicht, je höher die Einkommen im Millionenbereich liegen.

      Wie hoch kann und soll aber dieser Spitzensteuersatz liegen? Hohe Spitzensteuersätze sind zum Tabu geworden. Das ist eine Ideologie, die das Umsteuern der Wirtschaft erschwert.

      Robert Reich, der erste Arbeitsminister der Administration Clinton, meint, dass Solidarität einst auch die Voraussetzung für das Überleben der USA im Pionierzeitalter war. »Es war eine Solidarität aus wohlverstandenem Eigeninteresse, wie Alexis de Tocqueville beobachtete.«69 In dieser so verstandenen Solidarität konnte der Steuersatz 1935 auf 79% gesteigert und mit einer Steuer auf Erbschaften verbunden werden. Woodrow Wilson steigerte den Spitzensteuersatz auf 83%.

      »Als F. D. Roosevelt sagte, niemand solle mehr verdienen können als 25 000 $, was heute 200 000 $ im Jahr entspricht, hat ihn niemand bezichtigt, verrückt geworden zu sein oder seine politische Zukunft aufs Spiel zu setzen.«70

      Dass hohe Spitzensteuersätze der Wirtschaft schaden, das Wachstum hemmen, die Arbeitslosigkeit vergrößern, ist eine Aussage, die je nach den konkreten Bedingungen stimmt oder nicht stimmt. Sie hat im Amerika der 30er, 40er und 50er Jahre nicht gestimmt. Sie stimmt heute, weil die weltweite Öffnung aller Grenzen dem Kapital Fluchtmöglichkeiten bietet und die Öffnung der Märkte erlaubt, sich der Solidarität mit den anderen Bürgern des Staates zu entziehen. Auf Solidarität, die nicht auf Eigeninteresse gegründet ist, ist eben kein Verlass.

      Doch ohne höhere Spitzensteuersätze ist eine Umkehr der Verteilung von oben nach unten nicht möglich. Und ohne diese Umkehr wird die Gesellschaft so desolidarisiert, dass sie zerbrechen muss. Denn die Verlagerung des erarbeiteten Mehrwerts von der Arbeit zum Kapital ist unaufhaltsam. Selbst in einem geschlossenen Wirtschaftsraum könnte Politik sie allenfalls verlangsamen. Da die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktionskapital nur langsam voranschreitet und in absehbarer Zeit immer nur relativ kleine Teile der Bevölkerung erfasst, ist Umverteilung von oben nach unten und vom Kapital zur Arbeit für den Erhalt der Gesellschaft unverzichtbar geworden.

      Aber nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen muss die Umverteilung von unten nach oben umgekehrt werden. Genau so gewichtig, wenn nicht noch wichtiger sind wirtschaftliche Zwänge: Denn ohne die verschiedenen Formen der Umverteilung des erarbeiteten Mehrwerts zur Arbeit und insbesondere »nach unten« fehlt wegen des weltweiten Drucks auf die Löhne schließlich weltweit die kaufkräftige Nachfrage, die zur Abnahme der wachsenden Produktion notwendig ist. So entpuppt sich das neoliberale System letztendlich als wirtschaftsfeindlich.

      Schon heute nähert sich die Krise in den Industrienationen bereits dem Mittelstand. »Angst vor dem Absturz – Das Dilemma der Mittelklasse« nannte Barbara Ehrenreich71 ihr 1992 auf Deutsch erschienenes Buch, in dem sie die grassierende Furcht des amerikanischen Mittelstands vor diesem Desaster beschrieb. Eine Furcht, die durch die großen Vermögensverluste beim jüngsten Aktiencrash nur noch verstärkt wurde. Auch in der Bundesrepublik ist die Krise mittlerweile längst beim Mittelstand angekommen. Immer mehr kleine Unternehmer fallen durch den scharfen Konkurrenzkampf aus der »Gewinnerstraße«, die die rote Kurve der Grafik C auf dem Lesezeichen bzw. die graue Kurve der Grafik C auf S. 32 zeichnet, heraus. Im besten Fall konnten sie etwas Vermögen retten, von dem sie jetzt leben. Im schlechtesten Falle sind sie mittel- und arbeitslos. Das betrifft kleine Einzelhändler ebenso wie Handwerksbetriebe oder selbstständige Ärzte, aber auch immer mehr mittlere Betriebe müssen aufgegeben.

      Sogar die oberen Spitzen hat die Wirtschaftskrise schon erreicht. »Selbst die Reichsten werden ärmer«, meldet die Welt:

      »… ihr Geld zerrinnt mit jedem Zittern der Börse, mit der Talfahrt der Konjunktur, mit der schlechten Laune der Verbraucher. Millionen schmelzen dahin, und die Zahl der Milliardäre nimmt von Jahr zu Jahr ab … «72

      Nicht die schlechte Laune der Verbraucher, sondern ihre sinkenden Einkommen sind in der Bundesrepublik