Stefano Mancuso

Die Intelligenz der Pflanzen


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Vertreter dieser Ansicht lediglich auf ihre – wenngleich geniale – Intuition berufen. In den letzten fünfzig Jahren hat die Wissenschaft jedoch zahlreiche neue Erkenntnisse gewonnen, die die Pflanzenwelt in einem neuen Licht erscheinen lassen. Damit beschäftigen wir uns im ersten Kapitel. Wir werden sehen, dass die Argumente derer, die Pflanzen jegliche Intelligenz absprechen, bis heute nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, sondern vor allem auf vorgefassten Meinungen, die in unserer Kultur seit Jahrtausenden fest verankert sind. Doch die Zeit scheint reif für einen Paradigmenwechsel. Angesichts der Fülle an wissenschaftlichen Studien setzt sich heute langsam die Meinung durch, dass Pflanzen nicht nur imstande sind, sorgfältig abzuwägen und Entscheidungen zu fällen, sondern auch Lern- und Erinnerungsvermögen besitzen. Nach hitzigen Debatten hat die Schweiz sogar vor wenigen Jahren als weltweit erstes Land die Würde der Pflanzen gesetzlich geschützt.

      Doch was sind Pflanzen genau? Wie sind sie beschaffen? Obwohl der Mensch – seit Anbeginn der Menschheit – mit ihnen Seite an Seite lebt, kann er keineswegs behaupten, sie besonders gut zu kennen. Allerdings ist dies nicht nur auf Probleme wissenschaftlicher oder kultureller Art zurückzuführen, die eigentliche Ursache liegt tiefer: in der unterschiedlichen Evolutionsgeschichte von Tier- und Pflanzenreich.

      Wie andere Tiere auch, besitzt der Mensch spezifische Organe und ist als Lebewesen unteilbar. Weil Pflanzen aber sesshafte Organismen sind, die sich nicht von der Stelle rühren, haben sie sich evolutionsgeschichtlich anders entwickelt und einen modular aufgebauten Körper ohne spezifische Organe ausgebildet. Die Körperfunktionen von Pflanzen sind also nicht in speziellen Organen angesiedelt, sondern im ganzen Körper verteilt. Der Grund liegt auf der Hand: Pflanzen müssten sonst unweigerlich sterben, wenn ein gefräßiger Pflanzenfresser eins ihrer Organe verschlingen würde.

      Der fundamentale Unterschied zwischen Tier- und Pflanzenreich erklärt auch, warum wir die Pflanzen bis heute nicht wirklich kennen und nicht als intelligente Wesen wahrnehmen. Wie es dazu kommen konnte, erörtern wir im zweiten Kapitel. Wir sehen dort, dass Pflanzen selbst massive Schädigungen überleben, weil sie, anders als wir, teilbar sind und zahlreiche »Kommandozentralen« sowie eine Netzstruktur besitzen, die dem Internet nicht so unähnlich ist. Schon in naher Zukunft könnte es sich allerdings als wichtig erweisen, dass wir uns mit den Pflanzen besser vertraut machen. Denn unser Überleben hängt letztendlich von ihnen ab. Nicht nur, dass es uns ohne Pflanzen gar nicht gäbe – denn ohne Fotosynthese hätte sich der Sauerstoff, den wir zum Atmen brauchen, nie gebildet. Pflanzen stehen auch am Anfang unserer Nahrungskette, und ihnen verdanken wir – was wir gerne vergessen – unsere Energieressourcen, die fossilen Brennstoffe, auf denen unsere Zivilisation seit Jahrtausenden aufbaut. Pflanzen sind für uns Nahrung, Arzneimittel, Energiereserve und Produktionsmaterial, also ein wertvoller Rohstoff, auf den wir auf Gedeih und Verderb angewiesen sind – und von dem unsere künftige wissenschaftliche und technologische Entwicklung in zunehmendem Maße abhängt.

      Im dritten Kapitel stellen wir schließlich fest, dass Pflanzen über alle fünf Sinne verfügen: Sie können sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen. Freilich sind ihre Sinne »pflanzlicher« Art, doch deshalb keineswegs weniger zuverlässig. Könnte man folglich sagen, dass Pflanzen uns in diesem Punkt ähneln? Nein. Pflanzen sind viel empfindungsfähiger als wir und besitzen neben unseren fünf mindestens fünfzehn weitere Sinne. So können sie etwa Schwerkraft, elektromagnetische Felder und Feuchtigkeit wahrnehmen und berechnen oder das Konzentrationsgefälle zahlreicher chemischer Stoffe analysieren.

      Anders als vielfach angenommen, bestehen die grössten Ähnlichkeiten zwischen Pflanzen- und Tierreich wahrscheinlich im sozialen Bereich. Wir beleuchten im vierten Kapitel nicht nur, wie sich Pflanzen mit ihren Sinnen in der Welt orientieren, sondern auch, wie sie mit Nachbarpflanzen, mit Insekten und anderen Tieren interagieren und über chemische Moleküle kommunizieren und Informationen austauschen. Pflanzen reden miteinander. Sie erkennen Verwandte. Und sie haben Charakter: Nicht anders als in der Tierwelt gibt es opportunistische und großzügige, grundehrliche oder verschlagene Pflanzen. Pflanzen belohnen, wer ihnen Gutes tut, und bestrafen, wer ihnen schaden will.

      Wie kann da noch jemand abstreiten, dass sie intelligent sind? Letztendlich handelt es sich dabei um eine Definitionsfrage, darum, wie wir den Begriff Intelligenz interpretieren. Im fünften Kapitel werden wir erläutern, warum man unter Intelligenz die »Fähigkeit zur Problemlösung« verstehen kann und warum Pflanzen sich, laut dieser Definition, gegenüber Schwierigkeiten im Leben nicht nur intelligent, sondern geradezu genial verhalten. Auch ohne ein Gehirn in unserem Sinne reagieren sie adäquat auf äußere Reize und sind sich ihrer selbst und ihrer Umwelt bewusst – auch wenn »bewusst« im Zusammenhang mit Pflanzen zugegebenermaßen etwas seltsam klingt.

      Dass Pflanzen wesentlich raffiniertere Organismen sind als gemeinhin angenommen, konnte Charles Darwin als Erster durch wissenschaftlich gesicherte, quantifizierbare Daten belegen. Heute, beinah eineinhalb Jahrhunderte später, beweisen zahlreiche Forschungen, dass höher entwickelte Pflanzen tatsächlich »Intelligenz« besitzen: Sie empfangen Signale aus ihrer Umgebung, verarbeiten die erhaltenen Informationen und kalkulieren, welche Lösung ihr Überleben am besten sichert. Und damit nicht genug. Sie verfügen auch über eine sogenannte »Schwarmintelligenz«, die es ihnen ermöglicht, nicht nur als Einzelne, sondern als Gruppe bestimmte Verhaltensweisen zu entwickeln. Damit zeigen sie ein ähnliches Verhalten wie Ameisenvölker, Fisch- oder Vogelschwärme.

      Nüchtern betrachtet, würde das Pflanzenreich hervorragend ohne uns auskommen. Die Menschheit dagegen wäre ohne Pflanzen zum baldigen Aussterben verdammt. Dennoch kennen beinahe alle Sprachen Wörter wie »dahinvegetieren«, die ein Leben bezeichnen, das auf die rudimentärsten Bedürfnisse reduziert ist.

      Was heißt hier vegetieren? Wenn Pflanzen sprechen könnten, würden sie uns das vielleicht als Erstes fragen.

      ERSTES KAPITEL

      Die Wurzeln des Problems

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      IM ANFANG WAR DAS GRÜN: ein Chaos aus pflanzlichen Zellen. Dann schuf Gott die Tiere und zum Schluss das erhabenste unter ihnen: den Menschen. Wie in zahlreichen anderen Schöpfungsmythen ist der Mensch in der Bibel die Krone der Schöpfung. Er erscheint erst, als die Schöpfung beinahe vollendet, als alles für ihn bereit ist: auf dass sich der »Herrscher der Erde« die Schöpfung untertan mache.

      Bekanntlich vollendet Gott sein Werk in einem Zeitraum von sieben Tagen. Die Pflanzen werden am dritten Tag erschaffen, während das überheblichste der Geschöpfe erst ganz zuletzt, am sechsten Tag, das Licht der Welt erblickt. Die Reihenfolge ihres Erscheinens auf der Erde entspricht in etwa dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand: Danach gab es auf unserem Planeten bereits vor dreieinhalb Milliarden Jahren die ersten Zellen, die zur Fotosynthese in der Lage waren, während der Homo sapiens, der sogenannte »moderne Mensch«, seine ersten Spuren erst vor zweihunderttausend Jahren hinterließ – nach den Maßstäben der Evolution also erst vor wenigen Augenblicken. Dass der Mensch als Letzter auf der Erde erschien, hinderte ihn allerdings nicht daran, sich als privilegiertes Wesen zu begreifen – obwohl die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Evolution seine Stellung als »Weltenherrscher« dramatisch beschnitten haben und ihm die wesentlich weniger prestigeträchtige Rolle des »zuletzt Erschienenen« zuweisen. Die sichert ihm keineswegs mehr a priori die Herrschaft über alle anderen Arten, auch wenn uns zahlreiche kulturelle Konditionierungen genau das glauben machen wollen.

      Im Lauf der Jahrhunderte haben viele Philosophen und Wissenschaftler die Vorstellung vertreten, Pflanzen besäßen ein »Gehirn« und eine »Seele« und noch die einfachsten pflanzlichen Organismen könnten äußere Reize wahrnehmen und darauf reagieren. Einige der genialsten Köpfe ihrer Zeit, von Platon bis Demokrit und von Fechner bis Darwin, sahen in den Pflanzen intelligente Wesen. Manche glaubten an ihre Fähigkeit zu fühlen, andere stellten sie sich als Menschen vor, die kopfüber in der Erde stecken: als sensible, intelligente Lebewesen, die über alle menschlichen Fähigkeiten verfügen, mit Ausnahme derer, die ihnen durch ihre befremdliche Position verwehrt sind.

      Dutzende großer Denker haben die Intelligenz der Pflanzen theoretisch untermauert