eine neue Drachme schaffen müssen, bevor es sie vom Euro lösen konnte.6 Eine neue Währung zu schaffen dauert Monate. Mit anderen Worten: Der Grexit wäre so, als würde man eine Abwertung ankündigen, Monate bevor sie eintritt, ein Schritt mit schwerwiegenden Konsequenzen: Die Euros würden abfließen, und es gäbe keine lokale Währung für die alltäglichen Transaktionen.
Wäre er bereit, fragte ich Alexis, im Wahlkampf vor die Wähler zu treten und ihnen zu sagen, dass er das wolle? Dass das Plan A sein würde? Oder wäre es nicht besser, den Wählern Folgendes zu sagen: Wir werden Neuverhandlungen verlangen, an deren Ende eine neue Vereinbarung für Griechenland steht, die unseren Sozialstaat innerhalb der Eurozone stabilisiert. Aber wenn die EU und der IWF sich weigern, ernsthaft zu verhandeln, dann werden wir keine Kredite mehr von den europäischen Steuerzahlern annehmen. Und wenn sie dann Vergeltung üben wollen, indem sie uns aus dem Euro werfen, was mit enormen Kosten für sie und für uns verbunden wäre, dann sollen sie es eben tun.
Pappas nickte begeistert, aber Alexis schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Als ich ihn drängte, sein Schweigen zu erklären, bestätigte seine Antwort, dass ihn die Vorgänge innerhalb der Partei sehr viel mehr beschäftigten als das Thema, über das wir hier sprachen. Ich ließ mich davon nicht beeindrucken. Auf die Gefahr hin, herablassend zu klingen, gab ich ihm gegen Ende unseres Gesprächs noch einen gut gemeinten, wenn auch unerbetenen Rat in einer anderen Sache, den er vielleicht beleidigend fand: »Alexis, wenn du Ministerpräsident werden willst, musst du Englisch lernen. Nimm dir einen privaten Sprachlehrer, es ist absolut nötig.«
Zu Hause fragte mich Danae, wie die Begegnung verlaufen war. »Er ist ein sehr angenehmer Mensch, aber ich glaube nicht, dass er das Zeug dazu hat«, erwiderte ich.
Diese ersten Begegnungen mit Alexis und Pappas erwiesen sich in mehr als einer Hinsicht als Wendepunkt. In den vorangegangenen zwei Jahren hatte ich mich daran gewöhnt, besorgte Politiker aus allen Lagern zu treffen – mit Ausnahme von Vertretern der Kommunistischen Partei, die in einer Blase permanenter Selbstbestätigung leben. Aber als das Jahr 2011 zu Ende ging und das zweite Rettungspaket näher rückte, gab es weniger Gelegenheiten für echte Gespräche mit Vertretern der politischen Mitte, seien es Sozialisten von der schrumpfenden PASOK, von denen sich viele einfach in ein privates Fegefeuer zurückgezogen hatten, oder Konservative von der Nea Dimokratia, von denen viele meine Vorahnungen geteilt, aber inzwischen ein Bündnis mit den Versprengten von der PASOK geschlossen hatten, um das zweite Rettungspaket durchzubringen und gleichzeitig ihrer Partei zur Macht zu verhelfen. Auf einmal hatten sich die Chancen für Gespräche über Parteigrenzen hinweg verflüchtigt wie eine rasch abebbende Flut. Im Parlament kämpfte nur Syriza gegen Bailoutistan 2.0. Deshalb zögerte ich nicht, als Pappas wieder anrief, nachdem das zweite Rettungspaket auf die Tagesordnung gesetzt worden war: Trotz meiner Vorbehalte nahm ich seine Einladung zu einem Gespräch an.
Bei unserer zweiten Begegnung und bei allen weiteren, die noch folgten, war ich angenehm überrascht: Alexis wirkte verändert. Seine Lethargie, die Fixierung auf die internen Konflikt von Syriza und die lässige Einstellung gegenüber dem Grexit waren verschwunden. Er hatte eindeutig seine Hausaufgaben gemacht, sogar im Hinblick auf den Bescheidenen Vorschlag.7 Stolz erzählte er mir außerdem, dass er einen privaten Englischlehrer engagiert habe und gute Fortschritte mache. (Einige Jahre später hörte ich als Minister in seinem ersten Kabinett eine Telefonkonferenz zwischen ihm, Kanzlerin Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Hollande mit an und erinnerte mich an diesen Augenblick: Alexis sprach von den dreien am besten Englisch.)
Das Beste an unseren Treffen war, dass sich nach und nach Klarheit und Einigkeit über das Ziel einstellte. Ich investierte viel Energie, Alexis und Pappas klarzumachen, dass bei Verhandlungen mit der EU und dem IWF Alexis’ Erfolg vor allem davon abhängen würde, dass es ihm gelang, die griechischen Banken zu kontrollieren. Inzwischen schien er meine Empfehlung, eine dreigleisige Politik des konstruktiven Ungehorsams zu verfolgen, ganz und gar zu akzeptieren. Diese Politik bestand darin, erstens weitere Kredite und die damit verbundene Austerität abzulehnen, zweitens maßvolle Vorschläge für eine Umschuldung, niedrigere Steuersätze und auf das sündige Dreieck gerichtete Reformen vorzulegen und drittens im Kopf zu behalten, dass Berlin ihm irgendwann mit Ausschluss aus der Eurozone drohen würde in dem verzweifelten Versuch, Forderungen nach einer Umschuldung abzuweisen und zu verhindern, dass Frau Merkel ihren Abgeordneten die Wahrheit darüber erzählen musste, was sie 2010 getan hatte.
Der archimedische Punkt
Ich zögerte, Danae von dem Telefonanruf mit der Drohung gegen ihren Sohn zu erzählen. Bevor ich sie unnötig beunruhigte, wollte ich erst das Risiko einschätzen. Sicher war es nur eine leere Drohung, die mich zum Schweigen bringen sollte? Aber ich begriff, dass ich kein Recht hatte, das allein zu entscheiden. Als das zweite Rettungspaket näher rückte, bereiteten sich die Medien, die Banken und die Regierung fieberhaft auf ein letztes Gefecht vor. Es war schwer kalkulierbar, wozu sie fähig waren. So nahm ich meinen Mut zusammen und erzählte ihr davon.
Danae schaute mich vorwurfsvoll an und stellte ein lakonisches, nüchternes Ultimatum: »Entweder du gehst in die Politik, um uns zu schützen, oder wir verlassen das Land.«
Meine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Dann gehen wir.«
Ein paar Tage später sollte ich eine Reise durch Amerika antreten, um Werbung für mein neues Buch über die weltweite Krise zu machen.8 In Amerika tauchten zufällig zwei Jobangebote auf, die mir erlaubten, meinen Handel mit Danae zu erfüllen. Anfang 2012 war unser Umzug nach Amerika im Gang.9
An dem Tag, als wir ins Flugzeug stiegen, brachte Bloomberg-TV weltweit zwei Finanzschlagzeilen aus der Eurozone. Die erste lautete: »Merkel offen für Kompromiss bei Vergemeinschaftung der Schulden. Monti sieht Weg, sie zu überzeugen.«10 Die zweite Schlagzeile betraf uns unmittelbar: »Griechen treiben Universitätsprofessor aus dem Land, weil er die Wahrheit über die Wirtschaftslage sagt.« Wenn nur die erste Schlagzeile richtig gewesen wäre – sie war es nicht –, vielleicht wäre dann die zweite falsch gewesen!
Und so kamen Danae und ich nach Seattle, wo ich einige Monate als Gastökonom bei der Valve Corporation11 arbeitete, bevor es weiterging nach Austin, wo mein enger Freund und Kollege Jamie Galbraith arrangiert hatte, dass ich an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs der Universität Texas lehren konnte, unter anderem gab ich einen Kurs über Europas Finanzkrise. Jamie besitzt zwar eine enorme Gabe zur Voraussicht, dennoch bezweifle ich, dass er ahnte, in was er hineingeraten sollte, als er mir den Job verschafft hatte: Drei Jahre später kam Jamie zu mir ins Finanzministerium und leitete dort ein entscheidend wichtiges, hoch geheimes Projekt.
Über zwei Jahre war Austin ein archimedischer Aussichtspunkt: der ideale Platz, um zu beobachten, aber auch, um zu handeln. Während es mir fast das Herz brach, aus der Ferne mit anzusehen, wie die Troika und ihre Lakaien vor Ort Griechenland formell in Bailoutistan 2.0 verwandelten, bot der Blick aus Austin immerhin Klarheit.
Austin war auch eine Gelegenheit, eine Brücke zwischen Washington und meinen neuen Freunden von Syriza zu bauen, nicht gerade natürliche Verbündete. Es war zu erwarten, dass eine künftige Syriza-Regierung in einen gewaltigen Konflikt mit der deutschen Regierung, der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank geraten würde. Eine feindselige Administration in Amerika war das Letzte, was Alexis und Pappas dabei gebrauchen konnten. Und so tat ich von 2012 bis 2015 mit der Hilfe und den Verbindungen von Jamie Galbraith alles in meiner Macht Stehende, um amerikanischen Meinungsführern und der Regierung Obama zu erklären, dass die Vereinigten Staaten von einer Syriza-Regierung nichts zu befürchten hatten, deren oberste Priorität es sein würde, Griechenland von seinen erdrückenden Schulden zu befreien.
Austin ist auf eine sehr charmante Weise seltsam: ein Paradies für Fans von Livemusik und ein hervorragender Ort, um die Kümmernisse der restlichen Welt zu vergessen. Aber weder das eine noch das andere konnte ich genießen. Tagsüber, während Griechenland noch schlief, arbeitete ich an meinen Vorträgen und an einem Buch über die tieferen Ursachen der »hirnverbrannten Art und Weise, wie Europa mit der unvermeidlichen Eurokrise umging«.12 Abends nutzte ich den Zeitunterschied und meldete mich über Skype