und Verräter bezeichnet hatten, fanden sich auf einmal in der Rolle derjenigen wieder, die nach dem Willen der Troika die Umschuldung durchführen sollten. Für sich genommen wäre das eine amüsante Fußnote gewesen, wenn es bei der Umschuldung tatsächlich darum gegangen wäre, Griechenland wieder zahlungsfähig zu machen. Aber das war nie die Absicht.
Gegenüber Gläubigern zahlungsunfähig zu sein und sich formell bankrott zu erklären, ist eine furchtbare Sache. Aber es hat ein Gutes: Die Schulden schrumpfen, man bekommt eine Chance, sich durch harte Arbeit selbst aus dem Sumpf zu ziehen und das Vertrauen potenzieller Investoren wiederzuerlangen. Auf diese Weise erholte sich beispielsweise General Motors nach 2009 und die Deutschen kehrten in den 1950er-Jahren unter die Lebenden zurück: durch deutliche Schuldenerleichterungen. Aber für Griechenland kam das nicht infrage, es sollte Geschichte schreiben. Nach den Bedingungen der zweiten Rettungsvereinbarung würde die Regierung den größten Zahlungsausfall in der Weltgeschichte erklären und dank des größten Kredits in der Weltgeschichte trotzdem weiter im Schuldgefängnis bleiben.
Der Schuldenschnitt in Höhe der Rekordsumme von 100 Milliarden Euro traf Griechenlands wehrlose Rentner, seine Berufsverbände und kleinen Anleihebesitzer – sie mussten sich von dem Geld verabschieden, das sie dem Staat geliehen hatten –, während der Nation ein Rekordkredit über 130 Milliarden Euro in den Rachen gestopft wurde, von dem so gut wie nichts beim griechischen Staat ankommen würde. Ein großer Teil der Gelder ging stattdessen an griechische Banker (eine mehr als ausreichende Entschädigung für die Verluste, die sie durch den Schuldenschnitt bei den Anleihen erlitten hatte), ein weiterer Teil an Griechenlands private ausländische Geldgeber (als Anreiz, dass sie den Schuldenschnitt akzeptierten), und ein dritter Teil wurde dazu verwendet, die Kredite aus der ersten Rettungsvereinbarung mit der EU und dem IWF zu bedienen.20
Bailoutistan 2.0 brachte drei neue Institutionen, die dieses Regime noch schlimmer machten als die Vorläuferversion. Diese drei Institutionen umgingen das Parlament und höhlten damit die demokratische Souveränität des Landes aus. Es waren ein neuer Mechanismus zur Rettung der Banker, eine neue Form der Verwaltung von Staatseinnahmen und Zöllen und eine Abteilung, die im Interesse der Geldgeber das Tafelsilber verschleuderte – mit anderen Worten Privatisierungen nach den Regeln des Griechenland-Programms der Troika durchführte. Ein rascher Blick auf die drei ist eine nützliche Einführung in das System Bailoutistan 2.0.
Die wohl hässlichste der drei Institutionen war die erste, der Mechanismus zur Rettung der Banker. Wenn in eine private Firma Geld gepumpt wird, erhält der Geldgeber Anteile an der Firma im Verhältnis zu dem, was er zur Verfügung stellt, und einen entsprechenden Einfluss auf die Führung des Unternehmens. Nach der zweiten Rettungsvereinbarung sollten die Banker 41 bis 50 Milliarden Euro erhalten, neue Staatsschulden, die die Staatsbürger belasteten. Aber statt im Gegenzug irgendeine Form der öffentlichen Kontrolle über die bankrotten Banken zu gewährleisten, wurde ein raffinierter Weg ersonnen, um solche Kontrollen komplett zu umgehen. Ein neuer Fonds wurde eingerichtet, der sich ganz im Besitz des griechischen Staats befand, der Griechische Stabilitätsfonds (Hellenic Financial Stability Fund, HFSF). 50 Milliarden Euro der insgesamt 130 Milliarden des zweiten Rettungspakets flossen an den HFSF mit der Anweisung, sie umgehend an die privaten Banken weiterzureichen. Rechtlich gesehen sollten die Banker Anteile im Wert von 80 Prozent ihres Eigenkapitals an den HFSF übertragen, aber zwei Vorkehrungen sorgten dafür, dass das Parlament trotzdem keine Mitsprache bei der Führung der Banken haben würde: Erstens stimmte das Parlament zu, dass die Anteile, die der HFSF bekommen würde, stimmrechtslos wären. Zweitens sollte der Verwaltungsrat des HFSF aus ausländischen Direktoren bestehen, die direkt von der Troika ernannt würden, und von griechischen Staatsbürgern (der Geschäftsführer und der Vorsitzende des Verwaltungsrats), die nur mit Zustimmung der Troika ernannt werden konnten. Wenn die Regierung oder das Parlament ein Verwaltungsratsmitglied entlassen wollte, musste die Troika ebenfalls zustimmen. Die Verabschiedung dieses Gesetzes bedeutete, dass das Parlament die Kontrolle über die Banken aufgab, die nur dank der Verschuldung der Bürger am Leben gehalten wurden.
Auch was die Abteilung Steuern und Zölle anbetraf, schluckte das Parlament eine ungeheuerliche Kröte: Der Leiter der Abteilung konnte nur mit Zustimmung der Troika ernannt und entlassen werden. In vielen Ländern ist die Steuerverwaltung (HMRC in Großbritannien, IRS in den Vereinigten Staaten) unabhängig vom Finanzministerium oder Schatzamt und untersteht direkt der Legislative. In Bailoutistan 2.0 sollte das Amt für Steuern und Zölle weder dem einen noch der anderen verantwortlich sein.21
Als dritter Affront wurden die Privatisierungen einer unabhängigen Behörde übertragen, an deren Spitze wiederum eine von der Troika unterstützte Person stehen sollte. Das Motto dieser Behörde lautete: »Alles muss raus!« Hochglanzprospekte mit Bildern von Häfen und Eisenbahnstrecken bis hin zu herrlichen Stränden und kleinen Inseln luden Kaufinteressenten ein, ihre Angebote zu unterbreiten. Das Familiensilber stand zum Verkauf, die Erlöse ließen Griechenlands ausländische Geldgeber durch lokale Stellvertreter einsammeln.22 Die Frustration und der Ärger der Menschen waren am Ausdruck ihrer Gesichter abzulesen, wenn sie die Broschüren durchblätterten.
Wie brachte man die Parlamentarier dazu, für Gesetze zu stimmen, die ihnen die Kontrolle über drei so wesentliche Säulen des Regierungshandelns entzogen? Sie wurden mit der Drohung erpresst, Griechenland aus der Eurozone auszuschließen. Kein rechtsstaatliches System hätte eine solche Abstimmung zulassen dürfen, nur ein tödlich erschöpftes Parlament konnte zu so etwas bereit sein.
Wer muss ich denn noch sein?
»Sie haben kein Recht dazu. Stimmen Sie mit Nein!«
Diese Worte rief eine junge Frau einem Abgeordneten zu, als er sich durch die Besetzer des Syntagma-Platzes einen Weg zum Parlament bahnte, um für ein Gesetz des Pakets Bailoutistan 2.0 zu stimmen.
»Wer sind Sie, dass Sie mir sagen, wofür oder wogegen ich stimmen soll?«, blaffte er zurück, während er sich schweißüberströmt mit den Ellbogen vorwärtskämpfte.
Ihre vernichtende Antwort kam umgehend: »Wer muss ich denn noch sein?«
Bailoutistan ist ein hässliches Wort, aber es spiegelt eine abstoßende Realität wider: dass Griechenland im Auftrag der nordeuropäischen Banken in ein Schuldgefängnis verwandelt wurde. Die Nächte auf dem Syntagma-Platz begleiteten die weitere Umwandlung von einem Schuldgefängnis in eine institutionalisierte Schuldnerkolonie. Aber sie markierten auch Europas Legitimitätsproblem nach der Kreditklemme. Dass ein europäisches Land, Teil des großen Experiments des Kontinents mit einer gemeinsamen Währung, am Ende wie eine Bananenrepublik herumgestoßen wurde, ist eine Anklage gegen eine Gemeinschaft, die angeblich auf dem Versprechen gemeinsamen Wohlstands und gegenseitigen Respekts gegründet wurde.
Natürlich hatte das europäische Establishment nichts davon gewollt. Vor 2008 hatten die Eliten in Berlin, Brüssel, Paris und Frankfurt genau wie die in den Vereinigten Staaten und in der City of London ihren eigenen Reden geglaubt: Der Kapitalismus hatten angeblich eine »große Mäßigung« gebracht, Zyklen von Aufschwung und Rezession gehörten der Vergangenheit an, die Banken hatte einen magischen Weg gefunden, um »risikoloses Risiko« zu produzieren, und auf wundersame Weise regulierten sie sich selbst. Einflussreiche Männer und Frauen glaubten aus tiefstem Herzen, das Ende der Geschichte wäre erreicht und ihre Aufgabe bestünde nur noch in Mikromanagement, darin, durch kleine Korrekturen dafür zu sorgen, dass ein großartiges, sich selbst lenkendes und sich selbst verwaltendes System eine im Wesentlichen vorbestimmte, rationale Richtung beibehielt.
Aber als das europäische Finanzsystem infolge der Selbstzerstörung der Wall Street auf Grund lief, gerieten Europas Eliten in Panik. Als sie zusehen mussten, wie französische und deutsche Banken einfach so untergingen, griffen sie in den Abfalleimer der Geschichte, holten den Geist der Kanonenbootdiplomatie wieder hervor und die untaugliche Ökonomie gleich mit. Griechenland wurde zufällig zu dem Schauplatz, an dem man beides wieder praktizierte, und das Ergebnis war Bailoutistan.
Wenn eine schlecht konstruierte Brücke zu stark belastet wird, bricht zuerst der schwächste Pfeiler. Griechenland war dieser Pfeiler. Der Grund dafür hatte nichts mit der Europäischen Union zu tun, sondern lag in der traurigen Geschichte des neuzeitlichen