Bürgern Europas die Wahrheit zu sagen.
Über den beklagenswerten Zustand unserer Banken die Wahrheit zu sagen.
Über unsere »Überschüsse« die Wahrheit zu sagen.
Über die nicht vorhandenen Investitionen die Wahrheit zu sagen.
Und schließlich und besonders schmerzlich: Die Wahrheit zu sagen, dass es keine Aussicht auf Rettung gibt, solange die tödliche Umarmung zwischen einem bankrotten Staat, bankrotten Banken, bankrotten Unternehmen und bankrotten Institutionen fortbesteht.
Noch ein letzter Punkt: Bevor ihr für uns stimmt, sollt ihr wissen, dass wir einen Wahlsieg mehr fürchten als eine Niederlage, dass wir starr vor Angst sind bei dem Gedanken, wir könnten die Wahl gewinnen. Aber wenn ihr euch entscheidet, für uns zu stimmen, damit wir euch wie versprochen Blut, Schweiß und Tränen bringen als Gegenleistung für Wahrheit und Würde, wenn ihr eure Furcht überwindet, dann versprechen wir, dass wir unsere Furcht davor überwinden, dieses Land zu regieren und aus der Hoffnungslosigkeit zu befreien.1
Freunde und Feinde glaubten nach der Veröffentlichung dieses Artikels übereinstimmend, dass dies das Ende meiner kurzen Liaison mit der Führung von Syriza sein würde. Ich glaubte das auch, bis Pappas mich einige Tage später anrief. Er war kurz angebunden und klang so, als wäre nichts geschehen. Ich überließ es ihm zu entscheiden, ob mein Artikel alles verändert hatte oder nicht.
»Er verändert nichts«, erwiderte er unbekümmert. »Du wirst das richtige Wirtschaftsprogramm formulieren. Das Programm von Thessaloniki war ein Kampfaufruf an unsere Truppen. Das ist alles.«
Entnervt sagte ich ihm, was ich dachte: Die Unterstützung unserer Truppen war entscheidend wichtig, und sie anzulügen war bestimmt nicht der richtige Weg, ihre Unterstützung zu bekommen. Unbeeindruckt beruhigte er mich mit ominösen Worten. »Parteipolitik ist das eine, und Regierungspolitik ist das andere. Du kümmerst dich um die Regierungspolitik und überlässt uns die Parteipolitik.«
Ich fragte, wer hinter dem Programm von Thessaloniki stehe. Pappas sagte, Dragasakis habe es mit Unterstützung von Euklid formuliert. Dass Dragasakis im Spiel war, überraschte mich nicht, aber Euklids Beteiligung war eine Enttäuschung. Ich hätte mehr von meinem Freund erwartet. »Wer immer diese Monstrosität geschrieben hat«, sagte ich, »das torpediert jede vernünftige Verhandlungsstrategie.«
Als ich den Telefonhörer auflegte, war mein Mund so trocken und bitter, dass ich mehrere Gläser Wasser trinken musste, bevor ich mit Danae über das Telefonat sprechen konnte. Die Führung von Syriza erzählte untereinander eine Geschichte und den Parteianhängern eine ganz andere. Es war der sichere Weg zu Konfusion, Spaltung und Niederlage gegenüber Gegnern, die einig, mächtig und entschlossen waren. Das, was wir unserem Volk sagten, und das, was wir den Vertretern der Troika, der EU und des IWF, Berlin und Washington, der internationalen Presse und den Finanzmärkten erzählten, sollte eine einheitliche, glaubwürdige Botschaft sein, an der nicht zu rütteln war. Danaes Reaktion auf meine Einschätzung, die Taktik von Pappas und Alexis werde unweigerlich alle künftigen Verhandlungen unterminieren, fiel eindeutig aus: »Du darfst dabei nicht mitmachen.«
Ich stimmte ihr zu.
Die Entscheidung, auf Abstand zu bleiben, brachte sofortige Erleichterung. Doch mein Seelenfrieden währte nur zwei Monate. Ende November 2014 ereilte mich der Ruf erneut, als ich mich auf eine Reise nach Florenz vorbereitete, wo ich einen Vortrag halten sollte. Pappas war am Telefon. Als er hörte, dass ich auf dem Weg nach Italien war, beschwor er mich, vor der Rückkehr nach Austin einen Abstecher nach Athen zu machen. »Du musst unbedingt kommen.« Widerstrebend buchte ich um.
In Florenz sprach ich vor einem Auditorium besorgter italienischer Beamter, Banker und Wissenschaftler. Ich stellte eine neuere Version des Bescheidenen Vorschlags vor, eine Reihe politischer Strategien, die im Rahmen der bestehenden europäischen Regeln umgesetzt werden konnten mit dem Ziel, die Eurokrise überall zu beenden, nicht nur in Italien und Griechenland.2 Am nächsten Morgen nahm ich den Zug nach Rom und von dort ein Flugzeug nach Athen. Auf dem kurzen Flug überlegte ich, was Alexis und Pappas wohl von mir wollten. Die Zeitungen am Flughafen waren voller Gerüchte über baldige Wahlen. Hatten meine Freunde bei Syriza die Botschaft meines Artikels aufgenommen?
Das Taxi setzte mich vor unserer leeren Wohnung ab. Ich stellte meinen Koffer ab und war freudig überrascht, dass mein Motorrad nach drei Monaten Herumstehen sofort ansprang. Eine Viertelstunde später hielt ich bei Alexis’ Wohnblock, wo mich noch unten auf der Straße zwei Wachposten empfingen. Mit dem Aufzug fuhr ich ganz nach oben, zur Wohnung von Alexis, Betty und ihren beiden wunderbaren kleinen Söhnen. Pappas und Dragasakis waren schon da. Es war früher Abend.
Ich verließ die Wohnung erst wieder früh am Morgen des nächsten Tages, fuhr zu unserer Wohnung zurück, wo ich meinen Koffer holte und mir ein Taxi zum Flughafen rief. Dann ging es zurück nach Austin.
»Was ist passiert?«, fragte Danae am Telefon.
»Das sage ich dir, wenn ich bei dir bin.« Zum ersten Mal hütete ich am Telefon meine Zunge aus Angst, dass jemand mithören könnte.
Ein offener Austausch
Die Stimmung bei Alexis und Betty war aufgekratzt gewesen. Samaras’ Regierung hatte in den Meinungsumfragen massiv an Rückhalt verloren, Neuwahlen waren demnächst zu erwarten. Sie wollten eine Strategie für den mittlerweile wahrscheinlichen Fall diskutierten, dass Syriza die Wahl gewinnen würde.
Mir war nicht danach, ihre freudige Aufregung zu teilen. Das Programm von Thessaloniki hatte meine Befürchtungen verstärkt, Alexis könnte drauf und dran sein, die womöglich letzte Chance unserer Generation zu verspielen, Griechenland aus dem Schuldgefängnis zu befreien. Deshalb betonte ich sehr, welche Durststrecke und welche Risiken vor uns lagen, und wiederholte die Argumente, die ich ihnen bei unserem Treffen im Juni hatte nahebringen wollen. Es war schön und gut, für das »positive Szenario« zu beten, das Dragasakis so gerne beschwor, aber wir mussten uns auf der Stelle für ein wahrscheinlicheres, sehr viel weniger schönes Szenario vorbereiten.
»Ich will euch sagen, was euch meiner Meinung nach erwarten wird, sobald ihr die Regierungsverantwortung habt«, begann ich, als wir alle im Wohnzimmer Platz genommen hatten. »Ihr könnt damit rechnen, dass am Montag nach eurer Wahl ein Bankensturm einsetzt.«3
Gerüchte, die EZB könnte die Banken schließen, würden Anleger veranlassen, ihre Euros abzuheben und entweder unter die Matratze zu stecken oder ins Ausland zu transferieren. Genau das sei 2012 passiert und im Jahr darauf in Zypern. Vertreter von EU und IWF würden es nicht eilig haben, mit einer Regierung zu verhandeln, die sie destabilisieren wollten. Sie würden erst mal nichts tun und abwarten, bis Alexis und sein Team vor der ersten von vielen unmöglichen Rückzahlungen an den IWF und die EZB stehen würden, die ab März 2015 fällig wären.4 Wie wir im Juni besprochen hatten, musste eine Syriza-Regierung deshalb darauf vorbereitet sein, vom ersten Tag an zu signalisieren, dass sie diese Zahlungen schlichtweg nicht leisten würde, wenn EU und IWF nicht bereit wären, mit gutem Willen zu verhandeln. Wenn dieser Fall eintrat, würden die EU und der IWF zweifellos antworten, die EZB sei nicht länger in der Lage, den griechischen Banken Liquidität zur Verfügung zu stellen, weil hinter deren Schuldverschreibungen ein insolventer Staat stehe. Diese Drohung lief darauf hinaus, dass die EZB ihre Notfall-Liquiditätshilfe einstellen und damit die Banken praktisch schließen würde.
Die Stimmung war nun nicht mehr so heiter.
»Ich hoffe, nichts davon tritt ein. Vielleicht kommt es nicht so. Aber es wäre dumm, sich nicht darauf vorzubereiten«, sagte ich. »Wenn sie sich für den Kriegspfad entscheiden, werden sie euch auf die Probe stellen, um zu sehen, ob ihr blufft und was eure wirklichen Prioritäten sind.«
»Was, denkst du, will Merkel?«, fragte Alexis. »Ich kann einfach nicht glauben, dass sie meint, es läge in ihrem Interesse, eine weitere Krise heraufzubeschwören.«
»Berlin wird es nicht wagen, die Märkte zu verärgern, indem es die griechischen Banken schließt«, warf Pappas