Yanis Varoufakis

Die ganze Geschichte


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Griechenlands marodes Bankensystem lenken, das dann als Beleg für die wirtschaftliche Erholung präsentieren und damit weitere Spekulanten in den Immobiliensektor locken, den natürlichen Verbündeten jeder Blase auf den Finanzmärkten. Wenn Athen der deutschen Regierung und der EZB bewiesen hätte, dass die neue, von der Troika gelenkte Regierung das angeschlagene Schiff wieder flottgemacht hatte, würden die Griechen mit einer Bitte an die EZB herausrücken: Bürgt für unsere Schulden, so wie ihr für die von Irland, Portugal, Spanien und Italien gebürgt habt.28 Wenn Ministerpräsident Samaras und Finanzminister Stournaras erst einmal diese Zusage hatten, würde sie nichts mehr davon abhalten, privaten Investoren neue griechische Schulden zu verkaufen: Selbst wenn Griechenland weiter im Treibsand versinken sollte, wären die Bonds der Investoren durch die EZB garantiert. Dann könnte man den griechischen Wählern sagen, dass die internationalen Investoren dem Land wieder vertrauten und es folglich nicht bankrott war. Das war der dritte Teil ihres Plans: die EZB-Verkaufsoption.

      Das vierte und letzte Element war eine vollkommen inadäquate, aber symbolisch wichtige Umschuldung. Bei einer Sitzung der Eurogruppe im November 2012, um die Zeit, als Stournaras Christine Lagarde abblitzen ließ, belohnte Schäuble Stournaras mit dem Versprechen einer möglichen, wenngleich nur oberflächlichen Umschuldung Ende Dezember 2014 unter der Bedingung, dass Athen sich an das Programm der Troika halten, es wie vereinbart erfüllen und einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen würde.29

      Man hoffte, diese vier Akte der Griechischen Erfolgsgeschichte würden den Eindruck erzeugen, dass die Erholung im Gang war, und ihn bis Ende 2014 erhalten, gerade rechtzeitig für Neuwahlen Anfang 2015.30 Doch nach einem vielversprechenden Start, bei dem die finanziellen Kennzahlen einen robusten Merkel-Boom und eine vielversprechende Spekulationsblase signalisierten, gerieten die Pläne der Regierung im Sumpf der gnadenlosen Realität ins Stocken. Denn zwar gingen die Kennzahlen nach oben, die für die Spekulanten an der Wall Street zählen – wie den berüchtigten John Paulson, der genau rechtzeitig auftauchte, um Profit aus der Blase rund um die griechischen Banken zu schlagen –, aber die Zahlen, die das Alltagsleben der durchschnittlichen Griechen betrafen, wurden immer unerträglicher.

      Die Regierung rührte ab Anfang 2013 die Trommel für ihre große Erfolgsgeschichte. In dem Jahr schrumpfte das griechische Volkseinkommen um über 5,6 Prozent, eine herzzerreißende Zahl, die in Ländern wie Großbritannien, Deutschland und den Vereinigten Staaten einen Aufstand ausgelöst hätte. In Griechenland war es der fünfte massive Rückgang in Folge. Doch nicht nur die Armen glaubten nicht an die Erfolgsgeschichte. Um den Primärüberschuss zu erzielen, den die Regierung Schäuble als Gegenleistung für die Umschuldung im folgenden Jahr versprochen hatte, führte sie eine Bodensteuer ein und verlor dadurch auch noch die Unterstützung der oberen Mittelschicht, die vielleicht noch reich an Besitz war, aber infolge der Rezession arm an Einkommen wie alle anderen. Ein neuer Witz machte die Runde: Eltern drohen ihren Kindern, dass sie ihnen ihre Immobilien hinterlassen, wenn sie sich nicht anständig benehmen.

      Die Regierung muss erkannt haben, dass die Erfolgsgeschichte auf taube Ohren stieß, denn um diese Zeit herum traten einflussreiche Konservative aus Ministerpräsident Samaras’ innerem Kreis an die Nationalsozialisten von der Goldenen Morgenröte heran, um zu sondieren, ob sie sie unterstützen, womöglich sogar unter einem neuen Namen ein Wahlbündnis eingehen würden.

      Im April 2014, als die Meinungsumfragen sehr schlecht aussahen und die Europawahlen näher rückten, brachte die Regierung Samaras die EZB-Verkaufsoption auf den Weg. Mithilfe der EZB, die hinter den Kulissen signalisierte, dass sie bereit sei, für die neuen Staatsanleihen zu bürgen, feierte das Finanzministerium seine Rückkehr an die privaten Kreditmärkte und das Ende des Bankrotts und sammelte ein paar Milliarden von institutionellen Investoren ein, die sich vorab bereit erklärt hatten, bei der Scharade mitzuspielen. Niemand fiel darauf herein. Investoren und Wähler sahen, dass die Einkommen weiter schrumpften und die Schulden wuchsen. Bei den Wahlen zum Europaparlament einen Monat später trug Syriza den Sieg davon. Zum ersten Mal hatte die griechische Linke eine landesweite Wahl gewonnen, zwar eine europäische, aber eine, die den Weg für den richtig großen Sieg Anfang 2015 bereitete.

      In einer meiner Unterredungen mit dem deutschen Finanzminister nach dem Zusammenbruch der Griechischen Erfolgsgeschichte im Januar 2015, als Syriza an der Macht war, fragte ich ihn aus reiner Neugier, ohne eine Antwort zu erwarten: »Wolfgang, wann hast du beschlossen, [die Regierung] Samaras nicht mehr zu unterstützen?«

      Ohne Zögern und entwaffnend ehrlich antwortete er: »Im Juni 2014.«

      Das leuchtete ein. Samaras hatte die Europawahlen im Mai 2014 trotz der Unterstützung durch die im April von der EZB vermittelten Anleiheverkäufe verloren. In Schäubles Augen war Samaras eine lahme Ente. Er muss es gründlich sattgehabt haben, bei jedem Gesetzesvorschlag, der ins griechische Parlament eingebracht wurde, damit rechnen zu müssen, dass sich Samaras’ hauchdünne Mehrheit verflüchtigen könnte. Nach der Niederlage bei der Europawahl hatte überdies Samaras’ Eifer nachgelassen, und er setzte die Anweisungen der Troika nur zögernd um. Schäuble dürfte das ziemlich geärgert haben. Kein Wunder, dass er Samaras’ Regierung in dem Monat fallen ließ.

      Es war kein Zufall, dass ebenfalls im Juni 2014 Stournaras vom Finanzministerium auf den frei gewordenen Platz an der Spitze der griechischen Zentralbank wechselte. Auch er verließ das sinkende Schiff.

      Eine Fünf-Punkte-Strategie

      Das Jahr 2013 hindurch tat ich von meinem Zufluchtsort in Austin aus alles, was ich konnte, um Alexis bei der Entwicklung einer überzeugenden Strategie zu helfen, und hielt mich dabei von Syrizas inneren Kämpfen fern. Anfang des Jahres bot sich eine Gelegenheit, Alexis dabei zu unterstützen, Freunde in Washington D. C. zu gewinnen, wo er eine Rede vor dem angesehenen Brookings-Institut halten sollte. Pappas bat mich, die Rede zu schreiben, was ich gerne tat. Ich wollte die politischen Strategen in Amerika von zwei mittlerweile vertrauten, aber fundamental wichtigen Punkten überzeugen. Erstens, dass Syriza eine proeuropäische Partei war, die alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um Griechenland in der Eurozone zu halten, was aber nicht bedeutete, eine verfehlte, selbstzerstörerische Politik zu verfolgen. Um in der Eurozone zu bleiben, um überhaupt das Überleben der Eurozone zu sichern, war ein neues Programm nötig, das die Umschuldung an die erste Stelle setzte und dann Reformen vorsah, die die Wirtschaft aus dem Würgegriff der griechischen Oligarchie befreien würden.31 Zweitens mussten wir den Vereinigten Staaten klarmachen, dass sie von der Wirtschafts- und Außenpolitik einer Syriza-Regierung nichts zu befürchten hatten, ein Punkt, den ich später in einer Kolumne in der New York Times vertiefte, die ich zusammen mit Jamie Galbraith schrieb.32 Wie bereits erwähnt, war meine Überlegung, dass wir keine zweite Front mit Washington eröffnen sollten, wenn wir drauf und dran waren, uns gegen Brüssel, Frankfurt, Berlin und Paris zu stellen. Aber natürlich ergriffen viele in Griechenland und bei Syriza die Gelegenheit, mich als Handlanger Amerikas darzustellen.

      Zwei Monate später, im März 2013, hörte ich Nachrichten aus Zypern, die mich aufschreckten. Sofort setzte ich mich hin und schrieb eine lange, eindringliche E-Mail an Pappas, die sich an ihn und Alexis richtete. »Ich beschwöre euch, nehmt ernst, was in Zypern passiert. Stellt es euch wie eine Generalprobe für das vor, was die Troika mit euch machen wird, wenn ihr die Wahlen gewonnen habt.« Zypern hatte soeben eine neue Regierung gewählt. Am Tag darauf schloss die Troika alle Banken auf der Insel und diktierte dem neuen Präsidenten die Bedingungen, unter denen sie wieder geöffnet werden sollten. Der neue Präsident war fassungslos, aber unvorbereitet, und unterschrieb auf der gepunkteten Linie.

      »In Nikosia probieren sie ihre Taktik aus«, erklärte ich, »nicht weil Zypern so wichtig wäre, sondern eher weil es relativ unbedeutend ist und deshalb den perfekten Schießplatz abgibt, auf dem sie ihre neue Bazooka testen können, bevor sie sie auf euch richten, auf unsere Kameraden in Spanien, Italien und so weiter. Ihnen geht es um den Demonstrationseffekt, ihr sollt wissen, dass die Troika entschlossen und in der Lage ist, die Banken eines Landes zu schließen und der Regierung ihren Willen aufzuzwingen – besonders einer neu gewählten Regierung, die Souveränitätsrechte zurückverlangt. Seht euch das an und lernt daraus!«

      Am nächsten Tag sprachen Alexis und ich am Telefon miteinander.