sie gleich am Anfang kapitulieren – oder am besten die Wahl gar nicht erst gewinnen. Das bedeutet nicht, dass wir den Grexit wollen oder darauf hinarbeiten sollen. Es bedeutet, dass der einzige Weg zu einer tragfähigen Vereinbarung innerhalb der Eurozone darin besteht, unseren Gläubigern maßvolle Vorschläge für eine neue Vereinbarung zu unterbreiten, während wir zugleich entschlossen sind, nicht vor der Drohung mit dem Grexit zu kapitulieren.
Wenn ich mir überlege, was unsere Gläubiger vermutlich wollen, glaube ich wirklich, dass der Grexit eine leere Drohung ist, denn er wird die EU rund eine Billion Euro an staatlichen und privaten Schulden kosten, die sie abschreiben müssen, und in Europas Finanzlabyrinth wird es zu einer Kettenreaktion von Insolvenzen kommen. 2010 wurde ich kritisiert, weil ich auszusprechen wagte, dass die Regierung Papandreou Nein zu Berlin und Brüssel hätte sagen können, weil ein Grexit 2010 die französischen und deutschen Banken hätte explodieren lassen. Heute, fünf Jahre später, schelten mich dieselben Leute, weil ich eine Strategie vorschlage, die 2010 hätte funktionieren können. Nun, ich habe Nachrichten für sie: Ich hatte damals recht, wie sie heute selbst einräumen, und ich dürfte ziemlich sicher heute recht haben. Der Grexit wird sie immer noch teuer zu stehen kommen, trotz allem, was sie getan haben, um sich gegen seine Schockwellen abzuschirmen – und deshalb glaube ich, dass er eine leere Drohung ist.
Natürlich kann es sein, dass ich mich irre. Vielleicht fürchten sie einen Kompromiss mit uns mehr als den Grexit. Aber selbst wenn ich mich irre, stellt euch die Frage: Trotz der zweifellos hohen Kosten eines Grexit – ist die weitere Mitgliedschaft im Euro in dauerhafter Schuldknechtschaft und ewiger Rezession die bessere Lösung?
Meine Damen und Herren, genau wie ein friedliebendes Volk den Krieg nicht will, aber seine Freiheit nicht aufgeben wird, wenn es mit Krieg bedroht wird, ist es absolut rational, den Grexit abzulehnen, wie ich es tue, und trotzdem nicht bereit zu sein, in einem Staat mit einer dauerhaften Wirtschaftskrise zu leben, nur weil man uns mit dem Grexit droht.17
Weil die Wahlen näher rückten und das Gerücht die Runde machte, ich werde der nächste Finanzminister sein, balancierte ich auf einem Drahtseil. Finanzminister gehen traditionell sparsam mit der Wahrheit um. Es wird sogar als ihre Pflicht angesehen, geplante Veränderungen abzustreiten wie Änderungen bei Zinssätzen oder Wechselkursen, selbst wenn sie so etwas bereits vorbereiten. Das soll schädliche vorweggenommene Reaktionen der Märkte verhindern, die den gewünschten Effekt der Veränderung zunichtemachen könnten. In meinem Fall musste ich dem griechischen Volk die Wahrheit über die bevorstehende finanzielle Aggression unserer Gläubiger sagen, ohne den Bankensturm auszulösen, der mich daran hindern würde, im Namen des Volkes einen anständigen Deal mit den Gläubigern auszuhandeln.
Ich wählte die Strategie, zu sagen, wie die Dinge standen, mit einem Schuss Optimismus, dass alles gut ausgehen würde, wenn wir bei unserem Pakt blieben. In einem Interview im Privatfernsehen sagte ich an jenem Morgen: »Wenn Syriza nicht entschlossen ist, Mario Draghis Drohungen, die Banken zu schließen und die Geldautomaten zu sperren, mit der Erinnerung zu kontern, dass so eine Aggression den Geist und die Verträge der Europäischen Union verletzt, und dann den Hörer aufzulegen, hat es keinen Sinn, dass wir gewählt werden. Unser Volk muss auf solche Drohungen der EZB gefasst sein, die genau das mit den Iren und den Zyprioten gemacht hat.«
Das waren nicht eben tröstende Worte von jemandem, der ins Finanzministerium strebte, aber weil das Volk unser einziger Verbündeter war, konnte ich es mir nicht leisten, es im Dunkeln zu lassen. Es musste auf den schlimmsten Fall vorbereitet sein. Gleichzeitig musste ich ihm Mut machen. Auf die Frage in einem weiteren Fernsehinterview, ob die EZB unsere Banken schließen würde, antwortete ich taktisch: »Wenn wir unsere Karten richtig ausspielen, ist die Chance, dass das passiert, genauso groß wie die Aussicht, dass die Sonne am nächsten Tag nicht wieder aufgehen wird.«
In einem Artikel, den ich einen Tag nach diesem Fernsehinterview veröffentlichte, war ich freimütiger. Ich warnte, dass während unserer Verhandlungen die Aktienkurse und alle finanziellen Kennzahlen in schwere Turbulenzen geraten würden. Gleichzeitig versuchte ich, Optimismus zu verbreiten: »Während die Verhandlungen laufen, werden die Märkte und die Spekulanten kurz vor einem Schlaganfall stehen. Aber wenn sie abgeschlossen sind und Griechenland als zahlungsfähiges Land wiederaufersteht, dann werden die Märkte harmonisch nach unserer Melodie tanzen.«18
Die richtige Balance zu finden – wie informiert man, ohne zu alarmieren, wie warnt man, ohne Angst zu verbreiten – war ein schreckliches Dilemma.
Einige andere Dilemmata waren sehr viel einfacher zu lösen.
Die Waffen des Feindes ablehnen
Viele meiner Freunde in der ökonomischen Zunft – die mutmaßten, dass ich drauf und dran war, den schlimmsten Job im Universum zu ergattern – versicherten mich per E-Mail oder per Telefon ihrer Unterstützung. Einige schlugen vor, ich sollte an meinem ersten Tag im Amt Kapitalverkehrskontrollen einführen. Das heißt, statt zu warten, dass die EZB unsere Banken schließen und unsere Geldautomaten sperren würde unter dem Vorwand, den Bankensturm aufzuhalten, den sie gerade ausgelöst hatte, könnten wir ihnen zuvorkommen und Restriktionen verhängen, wie viel Bargeld Konteninhaber abheben und ins Ausland überweisen konnten. Die Idee dahinter war, dass wir, wenn wir den Bankensturm abschwächten, mehr Zeit gewinnen könnten, bevor die Banken geschlossen wurden, Zeit, um unter ruhigeren Umständen zu verhandeln. Gegen diesen Vorschlag sprachen drei Überlegungen.
Erstens wäre die Verhängung von Kapitalverkehrskontrollen der offensichtliche erste Schritt, der anzeigte, dass die Partei beabsichtigte, zu einer nationalen Währung zurückzukehren, um sie dann abzuwerten und damit wieder wettbewerbsfähig zu werden: In dem Fall würden Kapitalverkehrskontrollen verhindern, dass Geld abfloss, weil die Menschen eine Abwertung erwarteten. Mit anderen Worten: Die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen wäre nur dann der richtige Schritt, wenn wir vorhätten, die Eurozone zu verlassen – wenn wir den Grexit wollten –, und würde deshalb sowohl meinen Verhandlungszielen widersprechen wie meiner Strategie, zu vermitteln, dass wir es mit unseren Zielen ernst meinten. Selbst wenn wir es schaffen sollten, Brüssel davon zu überzeugen, dass wir den ernsthaften Wunsch hatten, im Euro zu bleiben, würden Kapitalverkehrskontrollen signalisieren, dass wir bereit waren, innerhalb der Eurozone zu Bürgern zweiter Klasse zu werden, zu Nachzüglern, die zwar Euros hatten, aber damit nicht tun konnten, was sie tun wollten. Und ich wollte genau das gegenteilige Signal aussenden.
Zweitens wurde die Zeit, die für Verhandlungen zur Verfügung stand, durch unseren Terminplan für die Schuldenrückzahlungen bestimmt, deshalb konnten wir mit Kapitalverkehrskontrollen nicht wirklich Zeit kaufen. Die Rückzahlungen sollten im April 2015 beginnen und bis August weitergehen, darum brauchten wir allerspätestens im Juni 2015 eine neue Vereinbarung. Selbst wenn ich einen Zauberstab hätte, um den Bankensturm zu stoppen, müssten die Verhandlungen trotzdem innerhalb von höchstens vier bis fünf Monaten abgeschlossen sein. Kapitalverkehrskontrollen würden daran nicht das Geringste ändern.
Drittens passten Kapitalverkehrskontrollen nicht zu einer Währungsunion, sie verstießen gegen ihren Geist und gegen ihre Realität. Das Argument für die Eurozone oder einen anderen gemeinsamen Währungsraum ist gerade, dass das Geld ungehindert zirkulieren kann. Würde ich am ersten Tag unserer Regierungszeit Kapitalverkehrskontrollen einführen, wie könnte ich dann die EZB dafür kritisieren, dass sie uns eben damit drohte? Würde ich das tun, wären alle Vorwürfe gegen mich und die Syriza-Regierung – dass wir antieuropäisch seien, dass wir Griechenland auf den Grexit vorbereiteten, dass wir die Einheit der Eurozone untergruben – gerechtfertigt. Mehr noch, unser eigenes Volk wäre verwirrt: Warum hindert uns eine Regierung, die für eine gute Vereinbarung in einem gemeinsamen Währungsraum kämpft, daran, dass wir unser Geld von unseren Bankkonten holen und in andere Länder desselben Währungsraums überweisen? Wir hätten das Schwarze-Peter-Spiel verloren, bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen hätten.
Einen weiteren Vorschlag, wie man einer Syriza-Regierung helfen könnte, während der Verhandlungen Zeit zu kaufen, brachte unter anderem Thomas Mayer vor, der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Er hatte die Idee, in Griechenland eine zweite Währung parallel zum Euro einzuführen, um mehr Liquidität und für uns mehr Handlungsspielraum