Yanis Varoufakis

Die ganze Geschichte


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wie 1929, vom Zusammenbruch des kleinen Griechenland ganz zu schweigen.

      Ich bin der Ansicht, dass die Finanzkrise des Jahres 2008, die uns heute, fast ein Jahrzehnt später, immer noch beschäftigt, mit dem endgültigen Zusammenbruch der Super Black Boxes der Welt zusammenhängt – den Netzwerken der Macht, den Verschwörungen ohne Verschwörer, die unser Leben bestimmen. Summers’ blindes Vertrauen, dass die Mittel zur Überwindung der Krise aus eben diesen kaputten Super Black Boxes kommen würden, dank normaler Operationen von Insidern, erschien mir schon damals rührend naiv. Vielleicht ist das nicht überraschend. Schließlich hatte ich drei Jahre zuvor für Danaes Ausstellungskatalog geschrieben, »diese Super Black Boxes zu öffnen ist inzwischen eine Vorbedingung für das Überleben von Anstand, von ganzen Gruppen unserer Mitmenschen, sogar für das Überleben unseres Planeten. Einfach ausgedrückt: Uns sind die Entschuldigungen ausgegangen. Deshalb ist es Zeit, die Black Boxes zu öffnen!« Aber was bedeutet das konkret?

      Erstens müssen wir bereit sein anzuerkennen, dass wir, dass jeder von uns ein Knoten in dem Netz ist, unwissentlich de facto ein Verschwörer. Zweitens, und das ist das Geniale an Wikileaks, wenn wir in das Netzwerk hineingelangen können wie Theseus in das Labyrinth und den Informationsfluss unterbrechen, wenn wir die Köpfe von möglichst vielen in dem Netz mit der Angst erfüllen können, dass unkontrollierbar Information abfließt, dann werden die nicht rechenschaftspflichtigen, schlecht funktionierenden Netze der Macht unter ihrem eigenen Gewicht und ihrer Bedeutungslosigkeit zusammenbrechen. Drittens müssen wir der Versuchung widerstehen, alte geschlossene Netzwerke durch neue zu ersetzen.

      Als ich drei Jahre später die Bar in Washington betrat, war ich abgeklärter. Es ging mir nicht in erster Linie darum, Informationen an Outsider weiterzugeben, sondern alles Erforderliche zu tun, um Griechenland aus dem Schuldgefängnis herauszuholen. Wenn das bedeutete, mich so zu verhalten, als wäre ich ein Insider, dann musste es eben sein. Aber sobald der Preis für den Zugang zum Kreis der Insider darin bestehen würde, dass ich Griechenlands dauerhaften Verbleib im Schuldgefängnis akzeptierte, würde ich gehen. Nach meiner Überzeugung ist es eine Bedingung für die Würde, auf der das Glück des griechischen Volks beruht, dass man einen Ariadnefaden in das Labyrinth der Insider legt und bereit ist, zum richtigen Zeitpunkt dem Faden bis zum Ausgang zu folgen.

      Am Tag nach meinem Gespräch mit Larry Summers traf ich mich mit Jack Lew, dem designierten amerikanischen Finanzminister. Der Mitarbeiter, der mich danach zum Ausgang des Ministeriums führte, verblüffte mich mit einer beiläufigen Bemerkung: »Herr Minister, ich möchte Sie warnen, dass Sie binnen einer Woche eine Rufmordkampagne erleben werden, die von Brüssel ausgeht.« Larrys aufmunternde Worte, wie wichtig es sei, nichts nach außen dringen zu lassen, und seine Warnung, dass wir dabei waren, den Medienkrieg zu verlieren, bekamen auf einmal eine ganz neue Bedeutung.

      Natürlich war das alles keine große Überraschung. Insider, so hatte ich 2012 geschrieben, reagieren aggressiv auf jeden, der es wagt, Outsider einen Blick in ihre Super Black Boxes werfen zu lassen: »Nichts davon wird leicht sein. Die Netzwerke werden heftig reagieren, so wie sie es bereits tun. Sie werden noch autoritärer werden, noch abgeschotteter, noch fragmentierter. Sie werden unglaublich auf ihre ›Sicherheit‹ und ihr Informationsmonopol bedacht sein und dem gemeinen Volk noch weniger vertrauen.«2

      Die folgenden Kapitel erzählen von ihrer gewaltsamen Reaktion auf meine hartnäckige Weigerung, die Befreiung Griechenlands gegen einen privilegierten Platz in einer ihrer Black Boxes einzutauschen.

      Hier unterschreiben!

      Es lief alles auf einen kleinen Kringel auf einem Blatt Papier hinaus – ob ich bereit war, auf der gepunkteten Linie einer neuen Rettungsvereinbarung zu unterschreiben, die Griechenland tiefer in den labyrinthischen Schuldenkerker stoßen würde.

      Meine Unterschrift war deshalb so wichtig, weil kurioserweise nicht Präsidenten oder Ministerpräsidenten gefallener Länder solche Vereinbarungen über Rettungskredite mit dem IWF oder der Europäischen Union unterzeichnen. Dieses vergiftete Privileg fällt dem unglückseligen Finanzminister zu. Deshalb war es für Griechenlands Gläubiger entscheidend wichtig, mich gefügig zu machen, mich zu kooptieren oder, falls das nicht gelingen sollte, mich zu zerschmettern und durch einen willigeren Nachfolger zu ersetzen. Hätte ich unterschrieben, wäre ein weiterer Outsider zum Insider geworden, und alle hätten mich mit Lob überschüttet. Die Flut von Schimpfwörtern, die die internationale Presse gerade zum passenden Zeitpunkt nur wenig mehr als eine Woche nach dem Besuch in Washington über mich ergoss, genau wie der Mitarbeiter des US-Finanzministeriums es mir angekündigt hatte, hätte es nicht gegeben. Ich wäre »verantwortungsbewusst« gewesen, ein »vertrauenswürdiger Partner«, »bekehrter Rebell«, der die Interessen seines Landes über seinen »Narzissmus« stellte.

      Nach Larry Summers’ Gesichtsausdruck zu urteilen, als wir das Hotel verließen und in den strömenden Regen traten, war ihm das klar. Er wusste, dass den »Europäern« nicht an einer ehrenhaften Vereinbarung mit mir oder meiner Regierung gelegen war. Er wusste, dass man mich letzten Endes massiv unter Druck setzen würde, eine Kapitulationsurkunde zu unterschreiben als Preis dafür, dass ich ein Insider wurde, dem man vertrauen konnte. Er wusste, dass ich dazu nicht bereit war. Und er fand das schade, zumindest für mich.

      Ich für meinen Teil wusste, dass er mir helfen wollte, zu einer praktikablen Vereinbarung zu kommen. Ich wusste auch, dass er tun würde, was er konnte, um uns zu helfen, sofern es nicht gegen die goldene Insiderregel verstieß: Wende dich nie gegen andere Insider und sprich nie zu Outsidern über das, was Insider tun oder sagen. Nicht sicher war ich mir, ob er verstehen konnte, warum ich auf gar keinen Fall eine nicht praktikable, unehrenhafte Vereinbarung über einen weiteren Rettungskredit unterschreiben würde. Es hätte zu lange gedauert, meine Gründe zu erklären, aber ich fürchte, selbst wenn wir Zeit dafür gehabt hätten, hätte ihm meine Erklärung nicht eingeleuchtet, weil unsere Ausgangspunkte zu unterschiedlich waren.

      Meine Erklärung hätte ich in Form von ein oder zwei Geschichten präsentieren können. Die erste hätte wahrscheinlich in einer Athener Polizeistation im Herbst 1946 begonnen, als Griechenland am Rand eines kommunistischen Aufstands und in der zweiten Phase des schrecklichen Bürgerkriegs steckte. Die Geheimpolizei hatte einen zwanzigjährigen Chemiestudenten der Universität Athen mit Namen Giorgos festgenommen, zusammengeschlagen und mehrere Stunden in einer kalten Zelle liegen gelassen, bis ihn ein Beamter höheren Rangs in sein Büro holte, scheinbar, um sich zu entschuldigen: »Es tut mir leid, dass du so hart angepackt wurdest. Du bist ein guter Junge und hast das nicht verdient. Aber weißt du, es sind verräterische Zeiten, und meine Männer sind am Ende. Vergib ihnen. Unterschreib einfach hier, und dann kannst du gehen. Entschuldigung noch einmal.«

      Der Beamte wirkte ehrlich, und Giorgos war erleichtert, dass die Hölle, die er in der Gewalt der Schläger durchlitten hatte, vorbei war. Aber dann begann er das Schriftstück zu lesen, das er unterschreiben sollte, und es lief ihm kalt den Rücken herunter. Auf dem maschinengeschriebenen Blatt hieß es: »Hiermit verurteile ich wahrhaftig und in aller Ehrlichkeit den Kommunismus, alle, die den Kommunismus verbreiten, und ihre verschiedenen Gefolgsleute.«

      Zitternd vor Angst legte er den Stift hin, nahm alle Freundlichkeit zusammen, die seine großzügige Mutter Anna ihm im Lauf der Jahre mitgegeben hatte, und sagte: »Herr Polizist, ich bin kein Buddhist, aber ich würde nie eine Erklärung unterschreiben, dass ich den Buddhismus verurteile. Ich bin kein Muslim, aber ich denke nicht, dass der Staat das Recht hat, von mir zu verlangen, dass ich den Islam verurteile. Ich bin auch kein Kommunist und sehe nicht ein, warum man von mir verlangt, den Kommunismus zu verdammen.«

      Giorgos’ Verweis auf die Meinungsfreiheit half nichts. Entweder unterschreiben oder systematische Folter und Haft von unbegrenzter Dauer. »Du hast die Wahl!«, schleuderte der aufgebrachte Beamte ihm entgegen. Er hatte durchaus Grund gehabt, etwas anderes zu erwarten. Giorgos besaß alle Eigenschaften eines guten Jungen – ein geborener Insider. Er war im ägyptischen Kairo geboren und aufgewachsen, in einer Mittelschichtfamilie innerhalb einer großen griechischen Gemeinschaft, die selbst in einer kosmopolitischen europäischen Enklave mit Franzosen, Italienern und Briten lebte, Seite an Seite mit gebildeten Armeniern, Juden und Arabern. Zu Hause sprachen sie dank