Yanis Varoufakis

Die ganze Geschichte


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      Mit zwanzig wollte Giorgos zu seinen griechischen Wurzeln zurückkehren. Er gab seinen komfortablen Posten in einer Kairoer Bank auf und zog nach Griechenland, um Chemie zu studieren. Im Januar 1945 traf er an Bord der Corinthia in Athen ein, gerade einen Monat nach Ende der ersten Phase des griechischen Bürgerkriegs, der ersten Episode des Kalten Kriegs. Eine fragile Entspannung lag in der Luft, und Giorgos erschien es vernünftig, als studentische Aktivisten der Linken wie der Rechten ihn als Kompromisskandidaten für den Vorsitz der Studentenschaft seiner Fakultät auswählten.

      Kurz nach seiner Ernennung erhöhte die Universitätsleitung jedoch die Studiengebühren, zu einer Zeit, als die Studenten in absoluter Armut vegetierten. Giorgos stattete dem Dekan einen Besuch ab und brachte alle erdenklichen Argumente gegen die Erhöhung vor. Beim Hinausgehen überwältigte ihn ein Geheimpolizist auf der Marmortreppe der Fakultät und zerrte ihn in einen wartenden Lieferwagen. Und dann wurde er vor eine Wahl gestellt, gegen die Summers’ Dilemma wie ein Spaziergang im Park wirkt.

      Da der junge Mann aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammte, hatte der Polizeibeamte erwartet, dass er entweder freudig unterschreiben oder unter der Folter rasch zusammenbrechen würde. Doch je mehr er geschlagen wurde und je länger die Folter dauerte, desto weniger frei fühlte sich Giorgos, zu tun, was er am liebsten getan hätte: zu unterschreiben, die Qual zu beenden und nach Hause zu gehen. Und so kam er schließlich in verschiedene Zellen und Gefangenenlager, denen er jederzeit hätte entgehen können, wenn er nur seine Unterschrift unter ein einziges Blatt Papier gesetzt hätte. Vier Jahre später kehrte Giorgos, nur noch ein Schatten seiner selbst, aus dem Gefangenenlager in eine trostlose Gesellschaft zurück, die von seinem speziellen Dilemma weder etwas wusste noch sich wirklich dafür interessierte.

      Unterdessen, während Giorgos in Haft gewesen war, wurde eine junge Frau, vier Jahre jünger als Giorgos, als erste weibliche Studierende zum Studium der Chemie an der Universität Athen zugelassen, obwohl die Hochschule alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, das zu verhindern. Eleni, so ihr Name, begann das Studium als rebellische Feministin, bevor der Begriff überhaupt existierte. Trotzdem hegte sie eine heftige Abneigung gegen die Linken: Während der nationalsozialistischen Besatzung war sie als sehr junges Mädchen von linken Partisanen entführt worden, die sie für die Verwandte eines NS-Kollaborateurs gehalten hatten. Nach ihrer Einschreibung an der Universität warb eine faschistische Organisation namens X sie an, weil sie so entschieden antikommunistisch eingestellt war. Ihr erster – und wie sich herausstellte, auch ihr letzter – Auftrag lautete, auf Schritt und Tritt einem Kommilitonen zu folgen, der ebenfalls Chemie studierte und gerade erst aus dem Lager entlassen worden war.

      Das ist, kurz zusammengefasst, die Geschichte meiner Entstehung. Denn Giorgos ist mein Vater und Eleni, die in den 1970er-Jahren eine wichtige Rolle in der Frauenbewegung spielte, war meine Mutter. Mit dieser Geschichte im Gepäck war es für mich ausgeschlossen, auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben als Gegenleistung für die Gnade, die Insidern gewährt wird. Hätte Larry Summers das verstanden? Ich glaube nicht.

      Nicht mit mir

      Die zweite Geschichte geht so: Ich lernte Lambros in dem Apartment kennen, das Danae und ich in Athen bewohnen, ungefähr eine Woche bevor die Wahl im Januar 2015 mich ins Amt des Finanzministers brachte. Es war ein milder Wintertag, der Wahlkampf voll im Gang, und ich hatte mich bereit erklärt, einer spanischen Journalistin namens Irene ein Interview zu geben. Sie kam zu uns zusammen mit einem Fotografen und mit Lambros, einem Dolmetscher für Spanisch, der in Athen wohnte. Wie sich herausstellte, waren seine Dienste nicht nötig, denn Irene und ich sprachen auf Englisch miteinander. Aber er blieb da, sah sich um und hörte vor allem zu.

      Nach dem Interview, als Irene und der Fotograf ihre Sachen zusammenpackten und auf die Tür zusteuerten, trat Lambros zu mir. Er schüttelte mir die Hand und wollte sie gar nicht mehr loslassen, während er mit der Konzentration eines Mannes, dessen Leben davon abhängt, dass er seine Botschaft überbringt, zu mir sagte: »Ich hoffe, Sie haben es mir nicht angesehen. Ich bemühe mich sehr, niemanden etwas merken zu lassen, aber ich bin obdachlos.« Und dann erzählte er mir sehr knapp seine Geschichte.

      Lambros war Lehrer für Fremdsprachen gewesen, er hatte eine Wohnung gehabt und eine Familie. 2010, als die griechische Wirtschaft zusammenbrach, verlor er seine Arbeit, und als sie aus ihrer Wohnung geworfen wurden, verlor er auch seine Familie. Das letzte Jahr hatte er auf der Straße gelebt. Seine einzige Einkommensquelle waren Dolmetscherdienste für ausländische Journalisten, die nach Athen kamen, um von der neuesten Demonstration auf dem Syntagma-Platz zu berichten, die aus dem Ruder gelaufen war und es deshalb in die Nachrichten geschafft hatte. Seine Gedanken kreisten darum, wie er ein paar Euro zusammenkratzen konnte, um sein billiges Mobiltelefon aufzuladen, damit ausländische Nachrichtencrews Kontakt zu ihm aufnehmen konnten, wenn sie in der Stadt waren.

      Er fühlte, dass er mit seinem Monolog zum Ende kommen musste, und brachte an, was er von mir wollte:

      Ich bitte Sie inständig, mir etwas zu versprechen. Ich weiß, dass Sie die Wahl gewinnen werden. Ich rede mit den Menschen auf der Straße und habe daran keinen Zweifel. Bitte, wenn Sie gewinnen und im Amt sind, denken Sie an diese Menschen. Tun Sie etwas für sie. Nicht für mich! Ich bin am Ende. Wen die Krise zu Fall gebracht hat, der steht nicht mehr auf. Für uns ist es zu spät. Aber bitte, bitte tun Sie etwas für die, die noch am Rand stehen. Die sich noch mit den Fingernägeln festkrallen. Die noch nicht abgestürzt sind. Lassen Sie sie nicht fallen. Drehen Sie ihnen nicht den Rücken zu. Unterschreiben Sie nicht alles, was man Ihnen vorlegt, so wie es Ihre Vorgänger getan haben. Schwören Sie, dass Sie es nicht tun werden. Schwören Sie?

      Meine Antwort bestand nur aus zwei Worten: »Ich schwöre.«

      Eine Woche später legte ich den Amtseid als Finanzminister meines Landes ab. Wenn in den nächsten Monaten meine Entschlossenheit einmal wankte, musste ich mir nur diesen Augenblick ins Gedächtnis zurückrufen. Lambros wird nie erfahren, welchen Einfluss er in den düstersten Stunden meiner einhundertzweiundsechzigtägigen Amtszeit hatte.

      KAPITEL 2

      Bailoutistan

      Anfang 2010, rund fünf Jahre bevor ich Finanzminister wurde, ging der griechische Staat bankrott. Wenige Monate später organisierten die Europäische Union, der Internationale Währungsfonds und die griechische Regierung die größte Bankrottverschleierung der Welt. Wie verschleiert man einen Bankrott? Indem man dem schlechten Geld gutes Geld hinterherwirft. Und wer finanzierte das Verschleierungsmanöver? Ganz gewöhnliche Menschen, »Outsider«, aus der ganzen Welt.

      Die Griechenlandrettung, wie das Verschleierungsmanöver euphemistisch hieß, wurde Anfang Mai 2010 beschlossen und besiegelt. Die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds gaben dem bankrotten Griechenland rund 110 Milliarden Euro, den größten Kredit in der Geschichte.1 Gleichzeitig entsandten sie Gerichtsvollzieher nach Athen – die Troika, so genannt, weil sie die drei beteiligten Institutionen repräsentiert: die Europäische Kommission (EK), die Exekutive der EU, die Europäische Zentralbank (EZB) und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Beamten sollten Maßnahmen durchsetzen, die unter Garantie das griechische Volkseinkommen reduzieren und den größten Teil der Schuldenlast den schwächsten Griechen aufbürden würden. Ein cleverer Achtjähriger hätte begriffen, dass das nicht gut ausgehen konnte.

      Jemandem, der bankrott ist, neue Kredite aufzuzwingen unter der Bedingung, dass er sein Einkommen reduziert, ist eine grausame und ungewöhnliche Bestrafung. Griechenland wurde niemals gerettet. Mit ihren »Rettungs«-krediten und der Troika ihrer Schergen, die voller Begeisterung Einkommen vernichteten, verwandelten die EU und der IWF Griechenland de facto in die moderne Version eines Schuldgefängnisses aus einem Roman von Charles Dickens, und dann warfen sie den Schlüssel weg.

      Schuldgefängnisse wurden abgeschafft, weil sie trotz ihrer Grausamkeit die Menschen nicht davon abhielten, neue, nicht tragfähige Schulden anzuhäufen, noch den Gläubigern halfen, ihr Geld zurückzubekommen. Damit der Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts richtig durchstarten konnte, musste man die absurde Vorstellung aufgeben, dass alle Schulden heilig sind,