Wie kann man es nur so weit kommen lassen?
Und das Ganze wäre so leicht zu vermeiden! Ein Kind ohne Karies freut sich über einen Besuch bei seiner Zahnärztin/seinem Zahnarzt, wo es natürlich viel Lob für die schönen Zähne gibt, und manchmal springt sogar eine Belohnung heraus. Das Kind assoziiert dann etwas Positives mit dem Besuch, vor dem so viele Menschen Angst haben, und die jährlichen Kontrollen und Mundhygienetermine werden problemlos eingehalten. Somit steht einem lebenslangen gesunden Gebiss nichts mehr im Weg.
Aber wie bereits erwähnt, ist in den meisten Fällen leider genau das Gegenteil zu beobachten. Schon fast vergessene Probleme wie Zuckerteekaries (oder Nuckelflaschenkaries, auch bekannt als nursing bottle syndrome) tauchen vermehrt auf.
Wenn ich die Eltern über das Ess- und Trinkverhalten ausfrage, erzählen sie mir immer wieder von dem Apfelsaft, der Milch und dem gesüßten Tee aus der Flasche. Auf meinen Einwand, dass nur Wasser als tägliche Begleitung in Frage kommt, höre ich Aussagen wie »Er/ Sie trinkt aber kein Wasser« oder »Das wusste ich ja gar nicht«.
Auch neuartige Krankheiten, wie zum Beispiel die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (kurz: MIH), im Volksmund auch »Kreidezähne« genannt, bei der eine veränderte Zusammensetzung des Zahnschmelzes zu beobachten ist, vermehren sich zunehmend. Die Ursache der MIH ist bis heute ungeklärt, aber manche sprechen schon von einer neuen Volkskrankheit. Die Prävalenz liegt diffus zwischen 0,5 und 40%.
Weiters sind nicht nur offensichtliche Erkrankungen der Zähne, sondern auch Zahnfehlstellungen wieder im Ansteigen. Noch nie wurden so viele Zahnspangen verschrieben wie heutzutage. Und auch wenn eine Zahnspange als »normal« gilt, muss man Zahnfehlstellungen zu jenen Erkrankungen des Kausystems dazuzählen, bei denen eine Therapie benötigt wird.
Aber woran liegt der Anstieg von Karies, Schmelzstörungen und Zahnfehlstellungen?
Hinsichtlich Karies ist der Schuldige schnell gefunden: Zucker. Aber liegt es allein am steigenden Zuckerkonsum? Laut einer Statistik aus dem Jahr 2017/18 konsumierten die Österreicher pro Kopf durchschnittlich 33,3 Kilogramm Zucker im Jahr. Dies ist zwar deutlich mehr als vor 100 Jahren, aber seit ungefähr 10 Jahren ist wieder ein leichter Rückgang zu beobachten. Also würde ich hier nicht den alleinigen Grund der zunehmenden Zahnerkrankungen vermuten.
Meiner Erfahrung nach findet sich die Ursache in der Aufklärung und in der Erziehung. Unsere Generation hat aufgrund der zurückgehenden Karies verlernt, auf diese Krankheit zu achten. Hinzu kommen Unwissen oder Ignoranz der mundgerechten Ernährung und eine Überdosis an kieferfeindlichen Schnullern oder Fläschchen.
Denn wenn Kinder schreien, gibt es die Nuckelflasche, um sie zu beruhigen. Am besten noch mit Saft oder Milch. Das sorgt dann für Zuckerattacken bei jedem einzelnen Schluck.
Insgesamt schlucken wir ungefähr 600 bis 2000 Mal täglich. Da braucht sich keiner mehr wundern, warum sich Karies bildet, wenn bei jedem Schluck Zucker auf die Zähne gelangt. Zusätzlich entsteht eine starke Sogwirkung auf Zähne und Kiefer, die gerade dabei sind, sich zu entwickeln. Das fördert Zahn- und Kieferfehlstellungen.
Des Weiteren sind Milchzähne deutlich anfälliger für Karies als bleibende Zähne, und: Wenn Karies erst einmal entstanden ist, schreitet sie immer schneller fort. Das führt zu frühzeitigem Zahnverlust, der wiederum Fehlstellungen begünstigt. Ein fataler Kreislauf, der zur Schädigung des Kindergebisses führt.
Bei Zucker alleine die Schuld zu suchen, ist in meinen Augen jedoch der falsche Weg. Damit würden wir es uns zu einfach machen. Denn, wie wir später noch erfahren werden, die Entstehung von Karies ist von vielen Faktoren abhängig, nicht nur vom Zuckerkonsum.
Fakt ist jedoch, dass seit dem Auftauchen der industriellen Nahrung die Häufigkeit von Zahnfehlstellungen und Karies rapide zugenommen hat. Wir essen einfach zu weich, zu oft und zu nährstoffarm. (Corruccini, 1990)
In diesem Buch werden wir die unterschiedlichen Gründe der Entstehung von Karies und Zahnfehlstellungen genau beleuchten und die Faktoren, welche wir beeinflussen können, erörtern. Genau bei diesen Hebeln können wir dann ansetzen und die Grundlage für ein gesundes Gebiss schaffen. Jedes weitere Kind ohne Karies bringt uns einen Schritt näher an ein absolut realistisches Ziel der Weltgesundheitsorganisation: 80% der sechsjährigen Kinder in Österreich sollen kariesfrei sein.
Das war das Ziel für 2020. Auch wenn wir es leider verfehlt haben, glaube ich an die Chance, dieses Ziel in naher Zukunft zu erreichen. Deutschland hat es bereits vorgemacht: In der Gruppe der Zwölfjährigen kann das Land bereits solche Zahlen vorweisen.
Dieses Buch soll Ihr Interesse an der Mundgesundheit wecken, eine Anleitung zur bestmöglichen Vermeidung von Karies darstellen und als ein Nachschlagewerk für den täglichen Gebrauch dienen.
Des Weiteren finden sich Empfehlungen, Tipps und Tricks für jede Altersgruppe, um Kariesbildung zu verhindern. Auch weitere wichtige Punkte, wie zum Beispiel die Ernährung, die uns hilft, die Zähne von innen zu stärken, möchte ich kurz anschneiden.
Gesunde Zähne sind möglich. Jedoch liegt dies in den ersten Jahren vor allem in den Händen der Eltern.
Interessierte, die meine Quellen nachlesen wollen, finden das Quellenzitat immer direkt in Klammer gesetzt nach den zitierten Beiträgen, mit Namen natürlich. Ein ausführliches Quellenverzeichnis befindet sich am Ende des Buches. Ich finde, große Namen gehören möglichst oft erwähnt.
Viel Spaß beim Lesen.
Ulrich Remschmidt
Die Bedeutung der Milchzähne, oder: Wie alles begann …
Die Aussage eines Vaters, welcher mit seinem Sohn in meine Praxis kam, beschäftigt mich bis zum heutigen Tag. Der Grund für seinen Besuch war eine erste Zahnkontrolle bei seinem dreijährigen Sohn. Als ich die Mundhöhle des Kindes inspizierte, fielen mir sofort einige Löcher auf. Einige seiner Milchzähne waren nur noch Wurzelreste.
Ich wandte mich mit ernster Miene an den Vater und klärte ihn darüber auf, wie wichtig das Nachputzen ist und dass eine Erstvorstellung in der Zahnarztpraxis eigentlich ab dem ersten Zahn notwendig sei. Er schaute mich jedoch nur fragend an und sagte: »Das sind doch nur Milchzähne, oder?«
Natürlich weiß ich, dass diese Haltung nicht auf alle Eltern übertragbar ist, aber dennoch merke ich häufig, dass heutzutage einem Großteil der Bevölkerung die Wichtigkeit des Milchgebisses nicht bewusst ist. Dies wurde auch bereits durch diverse Umfragen belegt.
Eine Studie aus Indien zum Beispiel zeigte: Nur 39% der Eltern sind sich der Wichtigkeit von frühzeitigen Kontrollen und der Gefahr von Milchzahnkaries überhaupt bewusst. Wenn es die Eltern nicht wissen, wie sollen es dann die Kinder wissen? Auch andere Länder, wie zum Beispiel Saudi-Arabien, schnitten in solchen Umfragen sehr schlecht ab und zeigten deutliche Wissenslücken. (Kamil et al., 2015; Setty, & Srinivasan, 2016)
Nun könnten Sie selbstverständlich das Argument einbringen, dass die Bevölkerung in Europa besser aufgeklärt ist. Das mag bedingt zutreffen, aber auch deutsche Kollegen berichten von unzureichendem Wissen bei Eltern. (Stumpf, 2012)
Bei diesen Umfragen ging es übrigens gar nicht um wissenschaftlich komplexe Themen. Es wurden Fragen zu Lage, Anzahl und Funktion der Milchzähne sowie deren Auswirkung auf die bleibenden Zähne gestellt.
Fakt ist: Ein entzündungsfreies Milchzahngebiss ist eine der wichtigsten Grundlagen für ein gesundes Leben. Die ersten sechs Jahre eines Kindes sind sehr bedeutsam für die weitere Entwicklung, und gerade sie unterliegen einem starken Einfluss durch die Außenwelt. Schäden in dieser Zeit können langfristige Folgen haben.
Mittlerweile wissen wir dank neuester Erkenntnisse der Wissenschaft, dass die Grundlage für ein gesundes Leben sogar noch viel früher geschaffen wird, nämlich bereits im Mutterleib.
In der Frühphase unserer Entwicklung sind wir vulnerabel und ein Mangel an Nährstoffen, ein gesundheitsschädigendes Verhaltensmuster oder vermeintliche Kleinigkeiten,