Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


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heraus zu verstehen seien. Dieses (an sich richtige und nicht unwichtige) Postulat läßt sich indes nur dann umsetzen, wenn man sich in der Analyse besagter Erscheinungen und deren Prädispositionen auf theoretische Erwägungen stützt. Akzeptiert man aber diese Voraussetzung, so wird es leicht verständlich, wieso sich »das deutsche Bürgertum« als »Kollektivsubjekt« begreifen läßt, ohne daß man deshalb den Nachweis gleichen Verhaltens, identischen Handelns oder gar Denkens aller ihm zugeordneten Individuen erbringen müßte – genauso wie es müßig, ja überflüssig erscheinen muß, beweisen zu wollen, daß jeder der Jakobiner oder der Aristokraten in der Französischen Revolution sich in Übereinstimmung mit der Tendenz verhielt, die man diesen Gruppen in den unterschiedlichen historischen Situationen gemeinhin zuzuschreiben pflegt. Für gewöhnlich sehen wir die häufig auftretende und herausragende Neigung im Verhalten einer Gruppe als deren Charakteristikum an, und die Abweichungen von ihr werden als negative Bestätigung der allgemeinen Tendenz verstanden, als eine Art kontrapunktische Affirmation des Charakteristischen18. Es läßt sich natürlich einwenden, daß es gerade die dieser allgemeinen Tendenz innewohnenden partikularen Unterschiede seien, welche die historische Aussage beleben, sie interessant machen. So wahr dies an sich sein mag, meinen wir demgegenüber, daß das zur Debatte stehende Erklärungsvermögen historischer Aussagen primär in jenen Strukturen, Tendenzen und Mustern, die wir in dem erforschten Phänomen auszumachen vermögen, zu suchen sei, ohne daß dabei der Individualität des Phänomens Abbruch getan werden muß.

      Eines der in der Historiographie moderner deutscher Geschichte und im Rahmen der Debatte um das sogenannte »gestörte Verhältnis der Deutschen zur Revolution« am häufigsten erwähnten sozialpsychologischen Verhaltensmuster (wir verwenden künftig den treffenderen englischen Begriff »Pattern«) ist die von Meinecke als »Obödienzgesinnung«19 umschriebene Beziehung deutscher »Untertanen« zur »Obrigkeit«, oder breiter formuliert: das autoritäre Verhältnis der Deutschen zur Autorität. Bereits im Jahre 1918 hat Heinrich Mann diesem autoritären Verhalten in der exemplarischen Gestalt des Diederich Heßling ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt20. Einen besonderen Impetus erhielt die Auseinandersetzung mit diesem Thema aber erst nach 1945, als das akute Bedürfnis aufkam, die Entwicklung, welche zum Dritten Reich, zur Unterwerfung des deutschen Volkes unter das autoritäre Nazi-Regime, geführt hatte, »erklären« zu wollen. Aber die in diesem Zusammenhang etablierte Charakteristik des Autoritären implizierte oft nicht viel mehr als schnöde Stigmatisierung, sodaß sie letzten Endes als leicht abgegriffene Phrase in den gängigen strukturorientierten Faschismustheorien absorbiert wurde und unterging. Die in dieser Charakteristik enthaltene mentale Grundlage verlor somit vollends ihre Gültigkeit und verkümmerte zugunsten einer sich zunehmend ausbreitenden, nach rein politisch-ideologischen Gesichspunkten klassifizierenden und wertenden Ausrichtung. Die Frage, wie es passiert war, daß sich das deutsche Volk dem autoritären Nazi-Regime unterworfen hatte, wurde (unter Heranziehung der Beschaffenheit von Umständen, der Analyse von Machttrukturen und der Darstellung von Repressionsmechanismen) vor allem als eine Frage des Systems thematisiert; so bedeutend die in diesem Zusammenhang gemachten Aussagen gewesen sein mögen, führten sie doch zu einer um sich greifenden Vernachlässigung der sozialpsychologischen Dimension dieser Fragestellung; man meinte, das zur Debatte stehende Phänomen könne durch sie nicht erklärt werden, befürchtete aber auch darüberhinaus die pauschalisierend stigmatisierende Gefahr eines irrationalen Determinismus, der sich in eine solche Erklärung einschleichen könnte.

      Eine Sonderstellung nahm in dieser allgemeinen Entwicklung die Frankfurter Schule21 ein. Ihre Gründer, die die multidimensionalen Grundlagen der Faschismus-Erscheinung im 20. Jahrhundert analytisch anzugehen versuchten, schufen eine theoretische Synthese zwischen der marxistischen Gesellschaftslehre und der Psychoanalyse mit der Zielsetzung, die Verknüpfung der sozialen und mentalen Faktoren des Phänomens systematisch zu untersuchen. Nicht von ungefähr wurde hierbei besondere Aufmerksamkeit dem Wesen des Autoritären und den autoritären Charakterstrukturen der faschistischen Persönlichkeit geschenkt.

      In der vorliegenden Untersuchung stützen wir uns weitgehend auf das grundlegende Paradigma dieser Schule. Bevor wir jedoch die ihm unterlegten theoretischen Erwägungen vorstellen, müssen wir kurz bei einem Schlüsselproblem verweilen, das sich schon aus der Verbindung zweier vermeintlich so extrem konträrer Lehren stellt22. Es erhebt sich nämlich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es überhaupt möglich sei, ein Begriffssystem, das das Verhalten des Individuums zu erklären vorgibt, auf die Analyse der Verhaltensmuster sozialer Kollektive anzuwenden; oder anders ausgedrückt: Mit welchem Gültigkeitsanspruch kann man vom Verhalten einzelner Individuen auf das Wesen gesellschaftlicher Prozesse schließen?

      Soweit bekannt, gibt es kein einziges, allgemein akzeptiertes theoretisches Modell, das dieses mit einer sehr langen Diskurstradition befrachtete Problem, philosophisch gesehen, umfassend angegangen wäre oder gar endgültig gelöst hätte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die sich um diese Fragestellung zuspitzende soziologische Debatte zu einer Art Höhepunkt in der Form einer Polarisierung der in Emile Durkheims und Max Webers Lehren verkörperten Paradigmen gelangt. Der um die Erfassung des Wesens des gesellschaftlichen Gebildes und der sich aus ihm ableitenden Prozesse bemühte Franzose ging von der Annahme eines a priori existierenden, das Verhalten des Individuums determinierenden sozialen Körpers aus. Der Wille, die Wünsche und somit auch das Verhalten des Individuums sind (dieser Auffassung zufolge) als Ableitungen jenes vom Einzelnen introjizierten und zu einer Art »höheren Natur« seiner selbst gewordenen sozialen Wesens zu verstehen. Aus dieser Sicht wird also das als Teil des sozialen Kollektivs gedachte Individuum von dessen Institutionen beherrscht und überwacht. Demgegenüber ging Weber davon aus, daß das Wesen sozialer Prozesse gar nicht zu begreifen sei, wenn man nicht das Handeln des »Einzelmenschen«, die diesem Handeln zugrunde liegende Entscheidung und die sich in ihr widerspiegelnden Werturteile zum Ausgangspunkt wählt. Der soziale Körper verändert sich unentwegt im Verlauf historischer Prozesse, welche aber widerum letztlich als unzählige Handlungen von Einzelmenschen zu begreifen seien. Die in diesen Prozessen auszumachenden Strukturen und Pattern sind zunächst vor allem Konzeptionen im Bewußtsein dessen, der sie betrachtet und zu verstehen beansprucht: Sie beschreiben nicht die in unzählig vielen Schichten gestaffelte soziale Realität, sondern repräsentieren vielmehr lediglich einen Teil dieser, einen Teil freilich, der das theoretische Verstehen der Strukturen ermöglichen soll. Die soziale Wirklichkeit läßt sich nicht voll erfassen, und in keinem Fall darf ihr eine a priori wirkende, determinierende Kraft zugeschrieben werden; da sie als ein Resultat menschlichen Handelns zu verstehen sei, ist sie auch gewissermaßen kontingent.

      Diese im Rahmen der soziologischen Disziplin etablierten, konträr entgegengesetzten Auffassungen verzweigten sich im 20. Jahrhundert in zunehmenderem Maße selbst, sodaß ein Konsens hinsichtlich des Wesens der Soziologie oder gar des sozialen Körpers in immer weitere Ferne zu rücken scheint, zumal die allumfassenden Gesellschaftstheorien der »klassischen« Periode einiges von ihrer Anziehungskraft eingebüßt haben. Ähnliches läßt sich von den Entwicklungen im Bereich der Psychologie behaupten, und es sei hier lediglich auf die paradigmatische Diskrepanz zwischen den Anhängern der Freudschen Tiefenpsychologie und denen des positivistisch ausgerichteten behavioristischen Ansatzes hingewiesen. Obwohl sich jedoch die innerdisziplinären Divergenzen nicht überbrücken ließen, entstand eine Art stillschweigende Übereinstimmung, was die Aufteilung des Forschungsfeldes unter den Disziplinen anbetrifft: Die Psychologie – so das Klischee – untersucht das Individuum und die Soziologie das gesellschaftliche Kollektiv. Dem ungelösten theoretischen Problem der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft wurde somit eine quasi institutionelle Lösung zugetragen, indem sich eine künstliche Teilung zwischen den verschiedenen Bereichen offizell etablierte.

      Es stellte sich indessen heraus, daß eine solche »Lösung« dem Bedürfnis nach konzeptueller Synthese nicht nachkommen konnte. In den letzten Jahrzehneten begannen sich denn auch interdisziplinäre Fachbereiche heranzubilden; so z.B. die Sozialpsychologie, welche sich ihrerseits sowohl an den mikrosoziologischen Studien eines Georg Simmel oder George H. Mead als auch auf den Grundannahmen und Erkenntnissen der rein psychologisch ausgerichteten Forschung orientiert. Indem er sich auf die enge Verknüpfung der individuellen psychischen Welt (samt der ihr entspringenden Verhaltensmuster) mit der objektiven sozialen Realität (samt den