Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


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gemeinhin auf die Sphäre sichtbarer Erscheinungen und auf rein kognitive Aspekte. Er kettet sich also an eine positivistische Sicht des Problems »Mensch und Gesellschaft« und vermeidet es, sich mit den »irrationalen«, d.h. unbewußten, Dimensionen sozialen Verhaltens und dessen psychisch-individuellen Quellen auseinanderzusetzen.

      Es ist nun dieser Aspekt, auf den sich die »Kritische Theorie« der Frankfurter Schule23 (und besonders jener sich mit dem »autoritären Charakter«24 beschäftigenden Teil in ihr) bezieht. In der Einleitung zur deutschen Ausgabe der »Authoritarian Personality« vermerkt Adorno in diesem Zusammenhang die Anlehnung der in diesem Buch präsentierten Untersuchungen an der Hypothese, daß »die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen ›Geist‹ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist.«25 Zwar ist Adornos Hauptaugenmerk auf das von ihm sobenannte »potentiell faschistische Individuum« gerichtet, wir meinen jedoch, daß die der forschungsmäßigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen unterlegten theoretischen Erwägungen ihre Gültigkeit auch auf einer umfassenderen Ebene bewahren. So läßt es sich grundsätzlich behaupten, daß jede Untersuchung, die dem »Problem politischer Typen« nachgeht, einer Unterscheidung zwischen der Konzeption der »Ideologie« und der »der ihr zugrundeliegenden menschlichen Bedürfnisse« bedarf.26 Akzeptiert man die Definition der Ideologie als ein »System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen«, als »eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft«, so ist es ein leichtes, Adornos Verknüpfung beider Konzeptionen beizupflichten:

      »Wir können von der Gesamtideologie eines Individuums sprechen oder von seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: Politik, Wirtschaft, Religion, Minderheiten und anderes. Ideologien bestehen, unabhängig vom Einzelnen, und die Ideologien bestimmter Epochen sind ebenso Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Geschehens. Je nach dem individuellen Bedürfnis und dem Ausmaß, in dem dieses befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, haben sie für die einzelnen Individuen verschieden starke Anziehungskraft.«27

      Die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen, welche Bestandteile des ideologischen Systems des Einzelnen sind, artikulieren sich zwar mehr oder weniger offen, psychologisch gesehen bleiben sie indes »an der Oberfläche«. Die Reaktion des Individuums auf emotional geladene Fragen hängt von dessen spezifischer Situation ab; in bestimmten Fällen können sich daher »Diskrepanzen« ergeben »zwischen dem, was er sagt und dem, was er ›wirklich denkt‹«. Adorno betont, daß besondere Wichtigkeit der Erfassung jener »verborgenen Tendenzen« zukomme, welche das Individuum nicht nur vor seiner Umgebung, sondern auch vor sich selbst verbirgt, weil angenommen werden könne, daß genau hier »das Potential für demokratische oder antidemokratische Ideen und Handlungen in entscheidenden Situationen liegen.«28 In diesem Zusammenhang stellt sich denn auch die Frage hinsichtlich einer Unterscheidung zwischen der verbalen und der praktischen Dimension der Ideologie. Zwar ist es klar, daß sie beide von der jeweiligen spezifischen sozio-ökonomischen und politischen Situation des Einzelnen abhängen; dies reicht jedoch nicht zur Erklärung hin, da sich offenbar die einzelnen Individuen wesentlich in ihrer Bereitschaft zur Tathandlung unterscheiden. Das Problem der »Potentialität« muß also näher beleuchtet werden.

      Es wird von der Annahme ausgegangen, daß »ideologische Aufnahmebereitschaft, Verbalideologie und Ideologie in Aktion«, trotz der zwischen ihnen möglichen Unterschieden, Elemente einer einzigen gesamten Struktur seien – und zwar hauptsächlich deshalb, weil diese Elemente, vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, logisch miteinander verbunden sind. Jeder Versuch, einer solchen Struktur beizukommen, ist daher unweigerlich gekettet an die Analyse des von Adorno sobenannten »Gesamtcharakters«, welchen er als »eine mehr oder weniger beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend das konsistente Verhalten – ob verbal oder physisch – bestimmen« definiert; er fügt hinzu:

      »So konsistent das Verhalten jedoch sein mag, es ist nicht gleich Charakterstruktur; der Charakter liegt hinter dem Verhalten und im Individuum. Die Kräfte im Charakter sind nicht Reaktionen, sondern Reaktionspotential […]. Gehemmte Charakterkräfte gehören tieferen Schichten an als jene, die sich unmittelbar und konsistent im Verhalten manifestieren.«29

      Adorno bemerkt, daß sich diese Theorie zur Charakterstruktur »eng an Freud«30 anlehne; die Charakterkräfte hat man daher als »Bedürfnisse«, d.h. also als »Triebe, Wünsche [und] emotionale Impulse« zu begreifen. In diesem Sinne läßt sich der Charakter in seiner Funktion als »Organisation von Bedürfnissen«, welche auf die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen des Einzelnen einwirken, als »Determinante ideologischer Präferenzen« betrachten, jedoch nicht als »endgültige Determinante«.31 Adorno hebt ausdrücklich hervor, daß der Charakter nie von vornherein gegeben sei, sondern sich unter dem Druck der Umweltbedingungen heranbilde, und dies um so gründlicher, »je früher sie in der Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Rolle spielten«; da also die Genese des Charakters in entscheidendem Maß vom Erziehungsprozeß und der häuslichen Umgebung des Kindes geprägt wird, muß man wirtschaftlichen und sozialen Faktoren eine tiefe Einflußnahme auf diese Entwicklung beimessen32; denn:

      »Nicht nur folgt jede Familie hier den Gewohnheiten der eigenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppe, auch ökonomische Faktoren beeinflussen das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Umfassende Veränderungen in sozialen Bedingungen und Einrichtungenwirken sich daher unmittelbar auf die innerhalb einer Gesellschaft entstehenden Arten von Charakterstrukturen aus.«33

      In theoretischer Hinsicht hat man die hier beschriebene Wechselwirkung zwischen individuell-psychischen Prädispositionen und historisch-sozialen Bedingungen als Schlüsselpunkt zu begreifen. Die Annahme einer solchen Wechselwirkung ermöglicht nicht nur die anlogisierende Parallelisierung individuellen und kollektiven Verhaltens34, sondern überbrückt auch darüberhinaus die Diskrepanz zwischen den ontologischen Konzeptionen vom Individuum und von der Gesellschaft, indem sie erklärt, durch welches Element die Individuen im kollektiven Rahmen aneinandergebunden werden und somit die Erhaltung des Kollektivs erst möglich machen. Erich Fromm drückt dies wie folgt aus: »Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen.«35 D.h. also, dieselben Kräfte, von denen wir behaupteten, sie formierten den Charakter in der individuellpsychischen Sphäre, sind es auch, die jenen »Kitt« bilden, welcher auf die interpersonellen Beziehungen, auf das kollektive Leben also, einwirkt; diese Kräfte sind jedoch selbst von der sozialen Realität beeinflußt, in deren Rahmen sie sich zur Charakterstruktur entfalten. In diesem Sinne kann Adorno die Charakterstruktur als »eine Agentur« definieren, welche »soziologische Einflüsse auf die Ideologie vermittelt«.36

      Diese Konzeption schreibt demnach der »Charakterstruktur« eine duale Natur zu. Sie enthält eine passive Seite, welche die Erscheinungen der objektiven Realität aufnimmt und auf sie reagiert, aber es gibt in ihr auch jene aktive Dimension, die (unter gewissen Bedingungen) fähig ist, sich einer »realistischen« Bezugnahme auf eben diese Erscheinungen zu entziehen. Obgleich er sie als vermittelnde »Agentur« definiert hat, betont daher Adorno:

      »Die Charakterstruktur, obwohl Produkt der frühen Lebensbedingungen, ist, nachdem sie sich einmal entfaltet hat, dennoch kein bloßes Objekt der gegenwärtigen. Was sich entfaltet hat, ist eine Struktur im Individuum, etwas, das selbst zum Handeln gegenüber der sozialen Umwelt und zur Auswahl unter den mannigfaltigen von ihr ausgehenden Stimuli fähig ist; das, wenn es auch modifizierbar bleibt, gegen tiefgreifende Veränderungen häufig sehr resistent ist.«

      Diese Konzeption erklärt auch das konsistent gleiche Verhalten in gegensätzlichen Situationen und die »Hartnäckigkeit ideologischer Trends angesichts ihnen widersprechender Fakten und radikal veränderter sozialer Bedingungen«. So kann denn Adorno postulieren: »Charakterstruktur ist ein Begriff, der für etwas relativ Dauerhaftes einsteht.«37

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